Festsitzen

Das Bewusstsein, festzusitzen und sich nicht befreien zu können, ist schlimm. Sein Freund wird früher nach Hause gehen, da ist er sich sicher. Ein fremder Junge wird in sein Zimmer ziehn, und schon entschied er: er mag ihn nicht. Hass kocht hoch. Hass auf den Audifahrer, der ihm das antut. Freilich, drei Schwerverletzte, eine getötete Frau, und ihm selbst ist nicht viel passiert – für diesen Mann könnte es noch schwerer sein, doch das sagt sein Verstand. Sein Bauch sagt, die langen Stunden, Tage und Wochen in den Kliniken sind die Schuld dieses Mannes.

Interessant, was mein Vater gestern erzählte. Er hatte seinen Enkel angerufen und meinte: „Es war schön, mit ihm zu reden und Gott sei Dank geht es allmählich besser. Allerdings hat er eine andere Stimme als vorher.“ In den letzten sieben Wochen sind Veränderungen vorgegangen mit seiner Stimme. Als er aus dem Koma aufwachte und wieder zu reden begann, war sie schwach, hoch, piepsig. Bei sehr alten Männern hört man das manchmal. Später wurde die Stimme rau und brüchig, tiefer, jeden Tag anders. Allerdings kam es mir vor, als sei sie nun endlich normal geworden. Aber sein Großvater sprach seit dem Unfall zum ersten Mal mit ihm, er kann es besser beurteilen. Weniger kraftvoll klinge sie, mit weniger Ausdruck. Es war das Erste, was er erwähnte.

Nächsten Dienstag wird er wieder nach Ulm gebracht. Sein Becken wird geröntgt und erst dann kann man sagen, ob mit den Therapien zum Muskelaufbau begonnen werden kann. Bis jetzt läuft nicht viel, es sind Schulstunden, Ergo- und Logotherapie, ein bisschen Phsysio für das Knie. Er schimpft, weil für die täglichen Dinge des Lebens so viel Zeit verloren geht. Aufstehen, waschen, anziehn, in andere Räume kommen, essen, alles strengt an und dauert lange. „Alte Menschen leben auch so,“ sagte ich, „und es wird meist nicht mehr anders.“ „Aber die haben schon lange gelebt! Da würd’s mir auch nichts ausmachen!“ Ich glaube nicht, dass es daran liegt, wie lange man gelebt hat. Es liegt daran, dass man gelernt hat das Leben zu nehmen, wie es ist. Das können manchmal auch Jüngere und Ältere nicht. Nur mit zwanzig kanns wahrscheinlich niemand.

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