Die Zurückgelassenen

Bei meiner Mutter stapeln sich Kartons mit Büchern. Sie wird sie nicht mitnehmen in die neue Wohnung. Ich besitze selbst viele Bücher, wie Geliebte, Freunde oder Bekannte erzählen sie davon, was irgendwann einmal Bedeutung hatte für mich und niemals will ich mich von ihnen trennen. Ich glaube, so dachte meine Mutter einst auch. Es zieht mir die Seele zusammen beim Gedanken an all diese Schachteln und dass die Bücher darin nicht mehr zu meiner Mutter gehören dürfen. Romane, Gedichte, Rezepte, Kunst, von Simmel bis Kaffka ist alles da. Für alle habe ich leider nicht den Platz, aber immer wieder fische ich das eine oder andere heraus, um es zu retten.

Eins davon habe ich gerade gelesen, „Zwei alte Frauen“ von Velma Wallis. Es handelt von einem Nomadenstamm in Alaska, lange bevor die Zivilisation kam mit Autos und TV-Geräten. Zu jener Zeit fanden die Menschen in besonders langen Wintern nichts mehr zu essen, sie starben an Entkräftung und Hoffnungslosigkeit. So mussten die Häuptlinge von Zeit zu Zeit eine fürchterliche Entscheidung treffen: Sie trennten sich von den Alten. Zum einen, weil sie nutzlose Esser waren, zum andern vielleicht dargebracht als Opfer an Geister, die in die hungernden Menschen gedrungen waren und sie wild und unberechenbar werden ließen.

Der Stamm zog weiter und war einen Moment lang erleichtert darüber, besser dran zu sein als zwei alten Frauen, die zurückgelassen wurden. Doch statt sich mit indianischem Stolz ihrem Schicksal zu ergeben, weinten die Frauen, verzagten, sie barsten vor Wut auf jene, die ihnen das antaten. Wir erfahren vom eisigen Weg, der vor ihnen liegt, von Angst und der Entschlossenheit, ihn zu gehen. Das Buch ist eine Geschichte von Grenzen und wie man sie hinter sich lässt.

Meine Mutter zeigt auf ein weiteres Fach, in dem Bücher stehn, und noch eins und noch eins.  Früher erwarb sie ein Buch nach dem andern und gelegentlich meinte sie: „Was ich jetzt nicht lese, lese ich später. Wenn ich in Rente bin, ist genug Zeit.“ Und sie hat viel gelesen seither, aber auch vor ihrer Pensionierung, immer schon. Jetzt liest sie nicht mehr. Ihre Gedanken zusammen zu halten bei längeren Texten ist anstrengend geworden für sie. Buch um Buch ziehe ich aus dem Schrank und reiche es meiner Mutter. Ungerührt versenkt sie jedes einzelne in einem Karton. Ich weiß noch nicht was tun mit ihnen, schaurig, sie einfach wegzugeben.

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