Durch alle Himmel, Universen und Atmosphären und schließlich durch eine Windschutzscheibe stürzte heute vor einem Jahr ein mächtiger Engel. Mit Panzerflügeln stieß er die Gewalt des Aufpralls zurück, während ein schwarzer Audi in das Fahrzeug schoss, in dem mein Kind saß. Im selben Bruchteil dieser Sekunde preschte ein zweiter Kämpfer des Himmels vor. Er stemmte sich auf dem Fahrersitz über den Jungen, der dort wie eingefroren das Lenkrad festkrallte. Durch die kolossale Stärke dieser Beschützer blieben mein Sohn und sein Freund am Leben.
In einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Geräten und Monitoren fanden wir ihn. Tief in sich hinab gesunken lag er da und nichts zeigte Leben, nur seine Brust hob und senkte sich im Takt der Beatmungsmaschine. Ich strich über sein Gesicht und die Krämpfe in meinem Herzen wurden noch schmerzhafter. Seine Haut war so kühl.
Nie werde ich mir verzeihen, am Nachmittag dieses Pfingstsonntags den Anruf meines jüngsten Sohnes nicht angenommen zu haben. Ich erkannte seinen Namen im Display, doch wir waren bei Freunden und ich wollte mich nicht absondern mit dem Telefon am Ohr. „Es wird nichts Wichtiges sein“, dachte ich. Kurz darauf rief meine Tochter an. Genervt antwortete ich nun und erfuhr, dass die Polizei da sei, mit einem der andern Söhne ist etwas passiert, Genaueres sagen sie nicht, nur den Eltern. Die nicht da waren. Zehn Minuten lang ließ ich mein jüngstes Kind in höchster Not allein, so wie ich meinen anderen Sohn allein gelassen hatte, der verunglückte, und wenn es auch nichts geändert hätte: ich war nun einmal nicht da, als meine Kinder mich am meisten brauchten. Nie wieder werde ich sie vertrauensvoll verabschieden können, wenn sie auf Reisen gehen, und nie wieder habe ich seither ein Telefon klingeln lassen, wenn sich von der Familie jemand meldet. Noch heute erschrecke ich manchmal, wenn eins der Kinder anruft und dann nehme ich hektisch ab, um zu wissen, ob alles in Ordnung ist.
Mein Leben ist wackelig geworden seither. Mir ist, als befinde ich mich auf einem dieser Riesenteller, wie sie auf manchen Spielplätzen stehn. Wenn man sich draufsetzt, gibt die Scheibe nach und es ist eine Kunst, sie zu erklettern und die Balance zu halten.
Liebe Gabriela,
ich danke Gott jeden Tag, dass ich meinen Sohn behalten durfte, ich bin so unendlich dankbar, wie ich es gar nciht ausdrücken kann. Nur jetzt, wo wir den ersten Jahrestag erleben, fällt mir alles ein, was ich hätte anders/besser/angemessener machen können an diesem Albtraum-Tag. Es ist nur dieser eine Tag, der wieder und wieder vor mir auftaucht. Aber das wird sicher bald besser. Ich kann mir nicht vorstellen, was du durchgemacht hast. Ich wünsch dir Licht im Herzen, dir und deinen sieben Kindern und allen, die zu dir gehören.
Grüßle und danke für die lieben Worte.
Anhora
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Das ist ein schwerer tag, einer, an dem die Macht de Erinnerung ihre Kraft demonstriert, und es ist wohl auch wichtig, dem nicht auszuweichen.
Ich hoff, dass irgendwann das Versagergefühl ganz und gar der Dankbarkeit Platz macht, dass er lebt und dass du wieder Vertrauen wachsen spürst in dich, in das Geheimnis des Lebens.
Und für diese Tage wünsche ich dir Kraft, die Klammergriffe der Erinnerungsbilder auszuhalten und zu lösen.
Lieben Gruss
Gabriela
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