Materielle Kultur

Wir sitzen im Schinderhannes. Das ist die Kneipe, in der ich vor mehr als dreißig Jahren mit meiner Freundin Weizenbiertrinkrekorde aufgestellt habe. Heute sitzen wir hier mit meinem Sohn, wir plaudern über vergangene Tage und landen bei seiner Erstkommunion. Er erinnert sich noch genau an das Monsterauto, das er von meinem Onkel geschenkt bekommen hatte. Niemand von seinen Freunden besaß damals etwas Vergleichbares, das Geschoss war gut einen halben Meter lang und flitzte herum wie ein verrückt gewordener Käfer, weil der Junge mit der Fernbedienung nicht klargekommen war. Andere Kinder hatten sich um ihn gedrängt, Männer waren hinzugetreten, das kleine, das Auto war ein Spektakel, und das schüchterne Kommunionkind der Besitzer.

Mein Onkel lebte damals weit entfernt von uns und wir hatten wenig Kontakt. Aber er war den weiten Weg gekommen und hatte schmunzelnd bei uns gesessen, während er den Kindern zuschaute. Vor etwa zehn Jahren kam die furchtbare Nachricht, dass er seinem Leben ein Ende gesetzt hatte.

Nun sitzen wir im Schinderhannes und die Augen meines Sohnes leuchten wie damals, als er das Geschenk dieses Onkels ausgepackt hatte. Ich hoffe so sehr, dass er das sieht. Oder zumindest spürt, dass wir an ihn denken, dass wir ihn lieb haben, und dass das Auto damals viel zu groß und zu teuer war. Aber es ist nun einmal der Grund, dass wir heute von ihm reden und uns erinnern, was für ein großzügiger Mensch er war.

5 Gedanken zu „Materielle Kultur

  1. Karin Schall

    schöne Worte… auch die Weizenbierrekorde haben mich berührt und zum Nachdenken angeregt – an die tolle Zeit zusammen mit Dir -im Schinderhannes … ich glaub´ ich würde umfallen, wenn ich heute soviele Weizenbiere runter kippen würde…

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    1. Anhora Autor

      Deshalb haben wir das Zeug ja auch damals geso..en und nicht heute. 😉 Mich könntest du heute schon nach der Hälfte einsammeln und entsorgen. Ja, war ne fantastische Zeit. Ich vergess sie nie!

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  2. Sofasophia

    was für ein schöner nachruf.

    (wieso war für dich sein suizid furchtbar? generell – oder wegen der art und weise? grundsätzlich bin ich ja für freie wahl – bis zuletzt. schlimm ist es meistens und vor allem für die hinterbliebenen … hm …)

    euer andenken an ihn berührt mich sehr. schöner text!

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    1. Anhora Autor

      Liebe SoSo, generell bin ich deiner Meinung. Es gibt Gründe, da sollte man gehen dürfen, bei sehr schmerzhafter Krankheit zum Beispiel und wenn es keine Perspektive mehr gibt. Dann halte ich eine liebevolle Begleitung für eine große Hilfe. Aber mein Onkel tötete sich aus Verzweiflung. Er muss depressiv gewesen sein, denn es gab Menschen in seinem Umfeld, die ihn mochten, er war ja auch mögelig. Trotzdem sah er keinen Ausweg, und er legte sich vor einen Zug. Das ist für mich immer noch schlimm.

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