Zeitzonen

Sonntagmorgen, ich stehe unter der Dusche, heißes Wasser läuft an mir herunter und ich mache mir Gedanken über die Zukunft. Das liegt nicht an der Dusche, sondern an meinen Zehennägeln.

Ich angle nach dem Handtuch und beginne mich trocken zu frottieren, die Füße sind als Letztes dran. Ich rubble über die großen Zehen, die seit der letzten Bergwanderung bräunlich-violett schimmern. Bei strengem Abwärtsmarschieren bilden sich bei mir immer Blutergüsse unter den Zehennägeln und es dauert jedes Mal Monate, bis sie herausgewachsen sind.

Ich versuche mir dann auszumalen, wie mein Leben sein mag, wenn ich das letzte verfärbte Stückchen abknipse. Im April oder Mai werden meine Zehen wieder rosig aussehen. Mein Leben auch? Oder wünsche ich mir etwas anders? Unglück an sich ist ja nichts Schlimmes. Ohne Unglück keine Veränderung, ohne Veränderung kein Wachsen.

Aber die Zeit vergeht ja so schnell. Plötzlich ist es nicht mehr Januar, sondern Juni, dann auf einmal September und aus dem Blauen heraus Weihnachten. Ohne dass etwas passiert ist? Wenn man etwas haben will, was man bisher nicht hat, muss man etwas tun, was man bisher nicht getan hat. Und zwar bevor der Zehennagel herausgewachsen ist.

12 Gedanken zu „Zeitzonen

  1. Karin Schall

    … toll, deine Gedanken – … aber sag´ mal, hast du denn immernoch die alten italienischen Wanderschuhe von vor mindestens 10 Jahren – dieselben Schuhe hatte ich doch auch – und immer wieder denke ich an unsere gemeinsamen „Sonntagstouren“ – aber meine Schuhe sind seit über 2 Jahre ausgetauscht in tolle Meindl Lederwanderschuhe mit einem hohen Schaft- … „da werden keine Zehen blau!“““… LG

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    1. Anhora Autor

      Liebe Karin, ich lauf noch genau mit den Schuhen rum, die wir zusammen gekauft haben! Ist das wirklich 10 Jahre her? Lauf ich schon 10 Jahre mit blauen Zehen herum??

      Eigentlich moche ich die Dinger ja immer, (die Schuhe, nicht die Zehen), vielleicht auch weil sie mich an diese schöne Zeit mit unseren Touren erinnern. Aber langsam überzeugt ihr mich, dass ich neue brauche. 😉

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  2. Hausfrau Hanna

    Diese Zehennagelphilosophie,
    liebe Anhora,
    ist ungewöhnlich und faszinierend.
    Dennoch.
    Auch ich rate zu grösseren und leicht weicheren Schuhen 🙂

    Und grüsse herzlich in die neue Woche
    Hausfrau Hanna

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    1. Anhora Autor

      Lieben Dank, Hausfrau Hanna! Weichere Schuhe, das ist ein Stichwort. Meine sind tatsächlich wie aus Holz. Da könnte eine Kuh drüber marschiern, ich glaub ich würds net merken …

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  3. T.M.

    Klarer Fall: unbedingt grössere Schuhe besorgen. Bergschuhe müssen immer eine Nummer grösser sein als normale. (Dass die um den Knöchel herum gehen müssen, setze ich als bekannt voraus. Mit Turnschuhen o.ä. sind solche Verletzungen natürlich vorprogrammiert.)

    Und wenn man oben auf dem Gipfel angekommen ist, sein Päuschen gemacht hat und nun der Abstieg ansteht, sollte man sie auch noch einmal richtig festziehen, denn beim Aufstieg lockert sich die Schnürung oft.

    Drittens kann man Stöcke benutzen. Profis raten zwar von Stöcken ab, weil sie den Gang und das Gleichgewichtsgefühl verändern, aber wenn man lange Strecken geht, viel und steil bergab, und dazu vielleicht noch einen schweren Rucksack für eine Mehrtagestour trägt, machen sich Stöcke schon bezahlt.

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    1. Anhora Autor

      Vielen Dank für den Exkurs in die korrekte Ausrüstung des Bergwanderers, ich weiß das kommt von einem Profi! Die Schuhe passen aber überraschenderweise gut: vorne ein wenig Luft, nirgends Druckstellen, um den Knöchel festanliegend.

      Vielleicht werde ich sie vor dem nächsten Abstieg nochmal festschnüren, das hab ich noch nie gemacht. Und selbstverständlich benutze ich Stöcke! Ohne die würd ich einen Berg gar nicht hochkommen, und runter schneller als mir lieb sein kann. Warum ich trotzdem ständig blaue Zehennägel bekomme, weiß ich wirklich nicht.

      Übers Jahr verteilt hab ich nur wenige kurze Perioden mit normal aussehenden Zehen. Aber auch dann mach ich mir Gedanken zur Vergänglichkeit, denn ich weiß ja: Es bleibt nicht lange so! 😉

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  4. notiznagel

    Deinen Text finde Klasse.
    Zunächst rate ich dir zu etwas grösseren Bergwanderschuhen.
    Zum Anderen: Nichts ist so sicher wie die Veränderung an der wir uns behaupten dürfen oder müssen. Die Einen nennen es wachsen, die Anderen vergnügen.

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    1. Anhora Autor

      Danke, ich freu mich dass dir der Beitrag gefällt! Ja die Veränderungen … anstrengend oft, aber ohne sie gäbe es ja nur Stillstand, und das lähmt. Dagegen helfen auch keine Wanderschuhe, egal ob sie passen oder nicht. 😉

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  5. Sofasophia

    das ist höchste duschosofie! spannend, wie aus solchen ersten gedanken neue dinge gesponnen werden. manchmal geschehen dinge ohne unser zutun, manchmal nicht. es ist lebenskunst, herauszufinden, wenn wir dran sind.
    ein feiner text!

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