Lebenszeit

Ich bin immer schon gerne gereist. In den letzten Wochen aber wird der Drang nach anderen Orten, Unentdecktem und nicht Alltäglichem immer größer. Am liebsten möchte ich jeden Tag einen Ausflug machen, und wenn es nur auf den Balkon ist, um die Vorgänge in einem kleinen Spinnennest zu verfolgen. Ich will alles sehen, hören, riechen, schmecken. Ich will aber auch schreiben, und lesen, ich kann nicht genug bekommen von all dem Schönen, das ich mir nur zu nehmen brauche. Mich hat ein Hunger nach Leben ergriffen, der mir in so anhaltender Form unbekannt ist, und was lästig ist, stelle ich nun immer häufiger hintenan. Übersetzungen zum Beispiel.

Sie bedeuten allerdings einen Teil meines Einkommens. Dieser Aspekt ist nicht zu vernachlässigen, da meine Teilzeitanstellung im September endet und ich nicht weiß, ob mich in meinem Alter noch jemand will. Ich sollte meine Kunden also pflegen und nicht vergrämen, aber es ist wie eine Sucht. Da sind die Sonnentage am Seeufer. Wanderungen über Bergwiesen. Bilder und Geschichten am Wegrand, Wörter und Formulierungen, die einander finden wollen zu einem vibrierenden Ganzen. Ich will nicht mehr nach der Arbeit nach Hause hasten und Google nach Flugtechnik oder Farbeimern suchen lassen, um manchmal bis in die Nacht hinein Anleitungen und Broschüren zu übersetzen. Ich habe eine Lust zu leben, als bliebe mir nicht mehr viel Zeit. Und so ähnlich ist es auch.

Etwa einmal in der Woche besuche ich meine Mutter. Eines Tages schiebt man auch mich im Rollstuhl in den Aufenthaltsraum eines Pflegeheims. Dort verbringe ich dann den Nachmittag. Auch ich werde vielleicht nicht mehr in der Lage sein zu sprechen oder mich an irgendetwas zu beteiligen, weil ich zu schwach geworden bin. Vielleicht werde ich wie andere Bewohner nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr denken können. Man wird mir beim Essen helfen, beim Waschen. Man wird mir die Haare kämmen.

Und was mache ich bis dahin?
Eben.
Korbblume_

17 Gedanken zu „Lebenszeit

  1. Ulli

    es ist ein Balanceakt der besonderen Art, hier das Einkommen sichern, dort dem nachgehen, was Freude und Glück ins Leben trägt. im Angesicht des Alterns und der Endlichkeit werden ja wirklich viele Dinge unwichtig, die noch vor ein paar Jahren wie keinen Aufschub erlaubten … ich wünsche dir, dass du diesen Akt meisterst und lachend alt wirst!

    liebe Grüsse
    Ulli

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    1. Anhora Autor

      Man liest und hört es überall: in Büchern, Zeitschriften, Filmen, Gesprächen. Aber dann ist es wie ein Auftrag: „Genieße den Augenblick. Mach schon!“
      Im Moment tut sich bei mir aber was anderes. Ich genieße den Augenblick, schon seit längerem, und musste erstmal nachsinnen, woher das kommt…

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        1. Anhora Autor

          Ja, obwohl ich gerade dabei bin, meinen Job zu verlieren, meine Wohnung aufgeben werde und meine Mutter kein Quell endloser Freude ist, geht es mir im Moment so gut wie schon sehr lange nicht mehr. Es ist meine einzige Erklärung: Einmal in der Woche unsere Endlichkeit erleben – schon werden viele an sich belastende Dinge unwichtig. 🙂

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  2. kaetheknobloch

    Eben! Was bleibt uns denn im Endeffekt? Die Summe des Lebens setzt sich nicht aus Zahlen und Bilanzen zusammen, sondern aus den Innendrinmomenten, die wir eichhornig ansammeln müssen, dürfen, wollen.
    Cosmeagepflanzte und kornblumenerwartende Grüße, Ihre Frau Knobloch, augenblicksammelnd.

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    1. Anhora Autor

      Das Wesen der ungefundenen Glücksmomente ist ja, dass sie sich nicht bemerkbar machen, wenn wir mit den Augen woanders sind und meinen, dies oder das sei wichtiger und dulde keinen Aufschub. Gerade die deutsche Mentalität neigt zu Effizienz und Pflichtversessenheit, da weiß man mit den kleinen Gucklöchern in die „sinnlosen“ Welt oft nichts anzufangen. Aber der Zahn wird mir gerade gezogen.
      Cosmea – sind das Schmuckkörbchen? Die säen sich bei mir jedes Jahr selbst aus. 🙂
      Sommerabendliche Grüßle vom Balkon!

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      1. kaetheknobloch

        Die kleinen Gucklöcher in die Welt, die keinen Sinn zu haben scheint und doch alle Sinne betören ~~~~~~ Danke für diesen wunderbaren Denkansatz. Ich habe gestern Abend bis in die tiefste Nacht still unterm Ahorn gesessen und tatsächlich „Nichts“ gemacht. Wobei das Nichts voller kleiner Wunder war: Die Huschmaus zu meinen Füßen, die Dämmerungstanzinsekten, der Ahorn, der seine Zweige zu mir senkte… hach und so viel mehr.

        Selbstaussäende Blümchen fetzen natürlich! Ich hoffe, daß das Schmuckkörbchen in meine Wiese einwandert auf diese Art. Frei nach dem Motto: Einwanderer willkommen!
        Blauhimmelstrahlegrüße aus dem Floratelier, die Ihre, schwalbenbezwitschert.

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