Platz frei

Gestern habe ich

– zum letzten Mal vor der Hochschule geparkt
– zum letzten Mal in einem Büro darin den Computer hochgefahren
– zum letzten Mal dort eine Tasse Kaffee getrunken
– zum letzten Mal mit den Kollegen gequatscht und herumgealbert
– zum letzten Mal den Computer ausgeschalten
– zum ersten Mal geheult, als ich die Ausgangstür aufdrückte und das Gebäude verließ.

Danach ging ich zum Friedhof. Die Pflanzen auf dem Grab meiner Mutter blühen immer noch üppig und ich zog – nach fast drei Monaten – die Trauerbänder aus den Schalen. Die Sonne ließ die Umrisse der Bäume, die weiter vorne am Weg entlang eine Arkade formen, zu einem Lichtkranz aufleuchten. Darunter blieb es trüb, und aus dieser Düsternis heraus tauchte ein Mann auf. Er trug einen schwarzen Mantel und hielt mit starrer Geste ein Holzkreuz in die Höhe. Mehrere dunkel gekleidete Menschen folgten ihm, der kleine Zug kam mir langsam entgegen. Mich schauderte, ein scharfer Wind blies mir die Haare aus dem Gesicht, die Sonne wärmt nicht mehr. Ich zupfte noch ein paar trockene Blättchen ab und machte mich auf den den Heimweg.

Meertau hat kürzlich in einem Kommentar etwas Mutmachendes geschrieben: „Ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Wer ich mal werde, weiß ich noch nicht. Aber der Platz für mich ist schon frei.“

 

Wolken (2)

Abb. © SylviaWaldfrau

16 Gedanken zu „Platz frei

  1. kaetheknobloch

    Heute schaffe ich es, Ihnen hier ein ganz kleines Hoffnungspflänzchen zu hinterlegen, meines bekam neue Triebe. Bisher vermochte ich es nicht, hätte nur Wehklagen fingerkuppig hinterlassen.

    Ein Abschluß vielleicht, ein unerwartet zeitiger? Herbst und Winter zum überdauern, damit neues im Lenzen erwachsen kann aus dem Vergrabenem des Vorjahres? Ich bekam heute von verschiedenen Menschen unabhängig voneinander viele Kastaniengeschenke und gebe dankbar die Gutgedanken weiter.
    Alles Liebe, Ihre Frau Knobloch.

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    1. Anhora Autor

      Huch … danke! 😀
      Das Stufengedicht gehört zu den Grundlagen meiner Lebensphilosophie, Stillstand wäre für mich tödlich, glaube ich. Trotzdem bräuchte ich es nicht so geballt. 😉

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  2. Ulli

    dieser Menschenzug auf dem Friedhof könnte gerade aus einem Film in dein Leben gesprungen sein, irgendwie hat es mich beim lesen geschaudert …

    ich hoffe sehr für dich, dass sich neue Türen öffnen, aber nun ist erst einmal wieder die Trauer und die darf sein!
    ich grüsse dich herzlich
    Ulli

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    1. Anhora Autor

      Ehrlich, mir erschien die Szene auch ein bissel surreal. Das Gesicht dieses Kreuz-Trägers sah aus wie aus einem Charles-Dickens-Film und mich hats auch verschüttelt. Als hätten sie meinen Job, meine Wohnung und überhaupt alles zu Grabe getragen. Danke für deine guten Wünsche. Es wird schon alles wieder gut werden. 🙂

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  3. meertau

    lese ich das richtig, dass ihre mutter vor kurzer zeit starb, dass sie gerade einen geliebten job aufgeben und zudem die behausung wechseln???????
    das ist ein ganz schön volles paket an veränderung, dass sie da schultern….
    puh….
    da wünsche ich allerlei glück und gute nerven, etwas konfetti und starke schultern!

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    1. Anhora Autor

      Genauso siehts aus im Moment, ich habe viel verloren in letzter Zeit. Da muss man aufpassen, dass man vor Schreck nicht übersieht, wenn sich neue Türen öffnen. Danke für die Konfetti! 🙂

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    1. Anhora Autor

      Im Moment gebe ich viele Dinge in andere Hände oder auf den Müll, die mir vor 20 oder noch mehr Jahren wichtig waren. Aber weder würde ich heute noch dieselben Bücher lesen noch dieselben Bilder aufhängen noch dieselben Dinge als Deko benutzen. Es muss sich also etwas geändert haben. Ich vermute mal: ich. 😉

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  4. waehlefreude

    …Wenn eine Arbeit Freude gemacht hat und zuende geht, ist das immer ein wenig wie Sterben.
    Ich kenne es aus verschiedenen befristeten Arbeitsverhältnissen. Und für mich habe ich das oft als sehr befremdlich erlebt.
    Durch den Friedhofsbesuch in Deinem Post wird diese schwer zu beschreibende Stimmung noch einmal besonders hervorgehoben. Es ist eine Art Leere durch Verlust von etwas für uns gefühlsmäßig Wichtigem, die sich nicht schließen läßt, ähnlich wie beim Verlust eines geliebten Menschen. Doch das ganze Leben ist immer ein wenig wie Sterben und Neugeburt…
    Und oft kennen wir nicht das, was ausgesät wurde und neu leben will…

    Liebe Grüße,

    Frank

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    1. Anhora Autor

      Hallo Frank, willkommen auf meinem Blog und danke für deine Meinung. Man merkt, dass du aus Erfahrung sprichst und du hast die Dinge genauso ausgedrückt, wie sie sind. Man würde nicht glauben, wie nahe es einem gehen kann, eine Arbeitsstelle aufgeben zu müssen. Es ist tatsächlich ein bisschen wie sterben. Ein tolles Team geht nun in alle Richtungen auseinander, schade. Aber ich bin auch dankbar, dass ich sowas überhaupt erleben durfte, 3 Jahre lang, das ist nicht selbstverständlich. Ja du hast Recht: wer weiß, was ausgesät wurde und als Nächstes kommt. Vielleicht ja wieder was Gutes. Danke für deine Meinung. 🙂

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