Willkommen

Wenn ich an meine Mutter denke, sehe ich sie kleiner, heller und weicher als früher. Sie befindet sich in einem langen Warteraum, an dessen äußerstem Ende sich eine Tür befindet. Dahinter ist Licht. Sie ist aber noch nicht durchgegangen, denn ich pfeife sie jedes Mal zurück, wenn sie das versucht. Dann kommt sie wieder nach vorne, wo ich sie sehen kann. Würde sie ins Licht gehen, wäre sie weg, und das kann sie später noch tun. Sie hat ja viel Zeit.

Außerdem ist da vorne etwas los. Meine Mutter hat sich über eine nebelartige Brüstung gebeugt und streckt die Hand nach unten. Dort schwebt seit Tagen eine andere Frau. Ihr Körper ist groß, fest und ganz glatt. Sie schaut unsicher nach oben und versucht, den Rand zu erreichen. Meine Mutter lacht und strahlt in goldenen Farben, versucht, die Frau hochzuziehen. So turnen die beiden eine Zeitlang herum und strecken die Hände nacheinander aus. Dann hat die Frau den Rand erreicht. Sie hält sich fest und wird nach oben kommen, vielleicht einen anderen Raum aufsuchen. Im Moment muss sie sich erst orientieren.

Diese Frau ist nun im selben Jahr wie meine Mutter geboren und gestorben. Sie bedeutet mir viel und ich hoffe, sie findet bald ihren Platz, und dass es ihr gut geht. Aber eigentlich zweifle ich nicht daran, denn meiner Mutter geht es ja auch gut.

Offenheit Abb. © Ursula Holly

Ich wünsche mir so sehr, dass sie da oben sind, dass ich sie wirklich sehe, dass ich mir das nicht einbilde und in Wirklichkeit ist gar nichts.

10 Gedanken zu „Willkommen

  1. sylviawaldfrau

    Du wirst sie immer sehen, liebe Anhora. Ich sehe immer noch das freundliche Gesicht meiner Mutter und manchmal frage ich sie auch um Rat. Bereinigen konnte ich manch Angedachtes aber nicht Ausgesprochenes noch lange nach Ihrem Tod. Seit Tagen habe ich an einem Brief an sie gesessen und lange gezögert, aber dann plötzlich vorhin wusste ich, sie würde es mögen. Später sah ich deinen Beitrag.

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  2. Ulli

    du Liebe, wenn du das so siehst, dann ist es so, ich habe ein gaaanz kleines ABER- ich verstehe, dass du deine Mutter nicht ganz gehen lassen willst, aber ihre Seele braucht das jetzt, lass sie los, du wirst sehen, sie wird weiterhin für dich da sei, sogar sichtbar!

    Und schön, wenn auch traurig, sind nun beide Frauen, die du liebst, dort oben vereint!

    herzliche Grüße
    Ulli

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    1. Anhora Autor

      Liebe Ulli, die beiden Frauen sind auch hier unten vereint, sie werden auf demselben Friedhof liegen und ich habe sie beieinander. 🙂
      Und du hast sicher recht, dass man jemanden gehen lassen soll, aber im Moment bin ich noch nicht so weit. Mutterpflichten hören nicht auf, nur weil man gestorben ist. Ich glaube, sie hat nicht wirklich ein Problem damit, sonst würde sie ja einfach gehn, aber meistens lacht sie. Aber wenn sie durch diese Tür geht, sehe ich sie wahrscheinlich nicht mehr. Das kann sie ja später immer noch tun.

      Gefällt 2 Personen

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