Vergeben und vergessen

Muss man sich mit einem Menschen an seinem Lebensende aussöhnen? Will man es? Kann man es? Ist man es ihm schuldig, dass er einen Konflikt nicht mit ins Grab nehmen muss? Könnte man selbst dann befreit weiterleben?

Wenn es so einfach wäre, würds ja jeder machen. Wie geht denn das? Wenn mir einer den Arm abhackt, kann ich an dessen Sterbebett wohl sagen: Ich verzeihe dir. Aber der Arm ist danach immer noch ab, und ich werde niemehr Flöte spielen. Zu verzeihen wäre ja, als sei man damit einverstanden.

Man kann lernen, mit einem Arm zu leben. Man kann lernen zu sehen, was den Verursacher getrieben hat, aber vergeben hat für mich zu viel mit Verharmlosen und Schwamm drüber zu tun. Was ist vergeben überhaupt?

 

Sonnenuntergang (1)

23 Gedanken zu „Vergeben und vergessen

  1. Anhora Autor

    Liebe Jane, herzlichen Dank für deine Gedanken! Beim Lesen deiner Zeilen wird mir nun auch klar: Wenn die verursachende Person eine Tat zutiefst bereut, dann wäre es mir wahrscheinlich möglich zu vergeben. Ansonsten tu ich mich schwer damit zu verstehen, wie sich jemand so verhalten kann, dass ein anderer dadurch – im übertragenen Sinn natürlich – einen Arm verliert.
    Sicher gibt es gute Gründe, mit Vergangenem abzuschließen, aber durch ein „Schwamm-drüber“ macht man es dem Täter auch wieder zu einfach. Dann sagt der: „Siehst du? So schlimm war es ja nicht.“ Auf der anderen Seite lebt man ohne Schwamm aber immer mit dem Groll: mal mehr, mal weniger, je nach Gemütsverfassung.
    Der innere Frieden ist das höchste Ziel, da denke ich gleich wie du. Nur der Weg dahin ist mir noch nicht ganz klar.Täter-Opfer-Gespräche stelle ich mir hilfreich vor, wenn die Täter einsichtig sind. Dann bringt es bestimmt etwas.
    Nochmals danke für dein Mitreden! 🙂

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    1. Jane Blond

      Schwamm drüber kann ich auch nicht, Obwohl ich den Schwamm Besen nenne und dann sage: Mein Teppich ist nicht groß genug, als dass dieser Dreck drunter passen würde …
      Ach ja, Haushaltsgeräte sind manchmal schon praktisch.
      Einen sonnigen Tag dir 🙂

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  2. Jane Blond

    Ein komplexes Thema, in dem ich über Jahre hinweg immer wieder mal umgedreht bin.
    Spannend finde ich psychologisch betreute Täter-Opfer-Gespräche im Rahmen einer Aufarbeitung. Ich sah da mal eine Bericht aus de Staaten. Einige konnten vergeben, andere nicht. Obgleich die Tat ähnlich war, und die Täter gleichermaßen Reue zeigten. Das hängt also nicht zwangsläufig mit der Tat zusammen, sondern ist auch arg vom eigenen Charakter abhängig.

    Für mich allein braucht es eines um vergeben zu können: Ich muss die Einsicht beim Gegenüber spüren können, dass er/sie etwas falsch gemacht hat. Ist die nicht da, kann ich nicht verzeihen.
    Ich kann nicht mal über den „Fehler“ hinwegsehen. Spüre ich aber die Einsicht zieht bei mir der Leitsatz: Menschen sind fehlbar. Auch ich. Selbst, wenn man gut reflektiert ist, passiert es doch immer wieder, dass man selbst Fehler macht. Unbewusst.
    Dazu gehört für mich auch das Verstehenkönnen. Warum schneidet ein Mensch einem anderen einen Arm ab? Könnte ich das verstehen, wenn ich darüber nachdenken würde? Schwerlich.
    Sicher ist nicht alles verzeihbar. Aber doch mehr, als wir uns selbst zutrauen.
    Für mich selbst ist es wichtig mit Menschen frieden zu schließen. Selbst wenn sie mir ans Schienbein getreten haben. Es gibt wenig, dass mich so mürbt, als offene Rechnungen. Und seien sie nur für mich selbst offen, weil nicht abgeschlossen. Abschließen können ist das A und O für inneren Frieden, um nicht immer wieder über denselben Stein zu stolpern. Das zumindest habe ich für mich rausgefunden.

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  3. Meermond

    Ich weiß nicht, ob wir unbedingt immer vergeben müssen!
    Ein erpresstes Vergeben basierend auf Schuldgefühlen ist eine erneute Demütigung desjenigen, der vergeben soll. In gewisser Hinsicht wird das ‚Opfer‘ noch einmal dominiert.
    Ein echtes Vegeben folgt intrinsischer Motivation, ganz alleine aus mir selbst heraus. Und dazu muss ich dazu bereit sein, Gewesenes endgültig abzuhaken bzw. auch vergessen zu können.
    Liebe Grüße

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    1. Anhora Autor

      Das Abhaken ist schwer, wenn die Verletzungen sich auf das gegenwärtige Leben, auswirken wie eben, dass nur noch ein Arm da ist statt zwei. Bleibende Einschränkungen also. Ich weiß gar nicht, ob da Vergebung überhaupt geht, und ob es sein muss. Ganz sicher werden „resistenten“ Opfern deshalb manchmal Schuldgefühle vermittelt und man wird schnell zum nachtragenden Zeitgenossen.
      Grüßle, A.

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      1. Meermond

        Aus deinen Worten lese ich heraus, dass Vergebung in diesem Fall schlichtweg zuviel verlangt ist.
        Ich an deiner Stelle würde es dann vermutlich einfach bleiben lassen.
        Gruß zurück

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  4. koriandermadame

    Ich kann mit Vergeben auch nichts anfangen! Aber überhaupt mit der ganzen Schuldfrage nicht, die ja einem Vergeben vorausgeht! Wer entscheidet denn, ob es etwas zu vergeben gibt oder wann Vergebung angebracht ist. Scheint mir auch ein kirchliches Thema zu sein, Schulden zu vergeben etc.. Ich versuche, meinen eigenen Frieden zu finden mit den Sachen und nicht fest zu werden und an Dingen, Gefühlen zu verharren. Ich brauche dafür niemanden zu vergeben als Konsequenz oder so was und ich brauche auch niemanden, der mir etwas vergibt. Ich halte das für ein altes Konzept! Und dieses „vor dem Tod noch Reine machen“ und „über Tote redet man nicht schlecht“ kommt für mich auch aus einem veralteten Spießbürgertum!

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    1. Anhora Autor

      Schuld und Sühne ist bei uns sicher durch das Christentum besonders verankert. Aber ein Lebensentwurf mit dem Ziel, keine Schuld auf sich zu laden, ist ja per se nichts Schlechtes. Wenn es schiefgeht, ist die Kirche für Reue ja offen und man hat immer einen neuen Versuch.
      Haben sich aber andere schuldig gemacht und man selbst ist das Opfer, dann ist es nicht so einfach, seinen Seelenfrieden wiederzufinden, wenn etwas praktisch nicht wiedergutzumachen ist. Es gehört schon viel persönliche Reife dazu, das dann einfach stehen lassen und weitergehen zu können.

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      1. koriandermadame

        Ich denke da oft: Was mir jemand antut, tut er in diesem einen Moment, diese Schuld wird immer bleiben im Sinne, dass derjenige der Verursacher dieser Tat ist. Im Anschluss daran, kann ich z.B. beschließen, mit diesem Menschen keinen Kontakt mehr haben zu wollen. Alles was danach kommt, Empfindungen, di ich dazu habe, Taten die ich begehe an mir und/oder anderen, das geht aber auf meine Kappe, denn es ist mein bewußt oder nicht bewußt getroffener Entschluss mit dieser Verletzung so oder so umzugehen. Ich kann zum Beispiel das mir Angetane wiederum anderen antun. Das wäre dann meine Verantwortung. Dieses für seine Taten (vielleicht auch Gedanken und Gefühle) verantwortlich sein, ist für mich viel verständlicher als das ganze Schuld und Sühne Prinzip! Aber es ist ein großes und spannendes Thema allemal!

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        1. Anhora Autor

          Du sprichst etwas Wichtiges an: Wie geht man damit um, was man erlebt hat? Findet man aus der Verstrickung heraus und bewältigt die eigenen Herausforderungen besser – trotz oder gerade wegen der erlittenen Verletzungen? Wenn das gelingt, ist man schon auf einem guten Weg zur Verarbeitung, selbst wenn es nur um ein ganz simples „Schau, so macht man das!“-Denken geht. Egal. Und außerdem muss man auch nicht vergeben dabei. 😉
          Ja, es ist ein großes Thema, und immer wieder beschäftigt es mich. Deshalb war ich gespannt auf eure Meinung. Toll, dass ich so viele Gedanken dazu erhalten durfte.
          DANKE AN ALLE! 🙂

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  5. meertau

    Vergessen können wir nicht, so lange wir gesund sind. Vergeben hingegen…. gehört vermutlich zu den schwierigsten Aufgaben, die uns gestellt werden. Vergeben heißt für mich auch, mich von einem Menschen, einer Verletzung, zu lösen und zu verabschieden. „Schwamm drüber“…. hingegen ist leicht und nur bei kleinen blöden Ereignissen möglich und führt zu einer Fortsetzung der gemeinsamen Ebene.
    Ich bin mir mit all dem nicht sicher. Sicher ist für mich nur, dass Vergebung mir oft zu schwierig erscheint. Eine Bedingung für Vergeben erscheint mir, dass jemand auch darum bittet.

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    1. Anhora Autor

      Das ist in der Tat ein zentraler Punkt: vergeben, wenn jemand darum bittet. Das könnt ich vielleicht. Aber wenn der Verursacher am Ende beim Wiederannähern durch Vergeben noch denkt: „Endlich kommt sie zur Vernunft“ – also das scheint mir einfach nicht machbar.
      Aber das Verabschiedenkönnen von einem Menschen scheint mir wiederum ein verführerisches Ziel. 🙂

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  6. Ulli

    Liebe Anhora,

    Ich glaub du weisst, dass ich (u.a.) Visionssucheleiterin bin – bei einer Visionssuche geht es darum, dass etwas zuende geht und man sich innerhalb von vier Tagen und Nächten allein, irgendwo in der Natur von all dem verabschiedet, was war: Dazu gehören auch Menschen und die Vergebung. Wenn man wirklich offen ist und geschehen lässt, was geschehen will, dann kann das sehr tief gehen und dann wieder gibt es Situationen, die man nicht mal eben so verzeihen/vergeben kann, da beginnt ein Prozess. Fragen stellen sich, auch zu der eigenen Rolle in dem Drama, des Streites, der Verletzungen etc. Verzeihen hat für mich etwas mit Annehmen zu tun, die Situation in allen Schattierungen zu mir zu nehmen und mir vorzunehmen, dass so etwas nicht mehr geschehen darf und kann.
    Was passiert und nicht hat meines Erachtens auch immer etwas mit der eigenen inneren Haltung zu tun, sie ist es, die ich ändern kann und damit auch die Sicht auf Geschehenes …

    Hier lasse ich es mal stehen, auch weil ich jetzt unbedingt mal eine Runde raus und laufen muss!
    herzliche Sonnentaggrüsse
    Ulli

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    1. Anhora Autor

      Liebe Ulli, ich hoffe du hast einen schönen Sonntagsspaziergang gehabt! 🙂
      Die Vorstellung, etwas Belastendes aus der Vergangenheit zu begraben, ist verlockend. Ich habe davon schon gelesen, wahrscheinlich auch bei dir. Ich glaube, dass das in verschiedenen Geschichten hervorragende Ergebnisse hat, vor allem bei Vorkommnissen im Erwachsenenalter, wo man selbst vielleicht hätte auch anders handeln können. Aber um bei unserem Beispiel zu bleiben: Da sitzt eine einarmige Person und soll in sich im Prinzip endgültig von dem verlorenen Arm verabschieden, schmerzhafte Erinnerungen vergraben, Narben bedecken und demjenigen, der den Arm abgeschnitten hat, wieder die (verbliebene) Hand zu reichen. Ich würd das nicht hinkriegen.

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      1. Ulli

        Ich denke auch, dass nicht jede Situation zu verzeihen ist. Und ganz ehrlich, warum soll ich einem Menschen die Hand reichen, der mich verstümmelt hat? Es gibt Menschen, die durch jahrzehntelange Meditation u.ä. vielleicht so etwas können, aber dort bin ich nicht! Selbst der Gedanke, dass alles was passiert ein Spiegel von mir ist, hilft mir bei solcherlei nicht.
        liebe Grüsse Ulli

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        1. Anhora Autor

          So sehe ich es einfach auch. Man muss nicht alles können und tun. Es geht es ja auch nicht um Genugtuung oder gar Rache, darüber ist man ja irgendwann weg. Aber es gibt da diese Traurigkeit, die immer wieder niedergekämpft werden muss. Wahrscheinlich ist es ein besserer Ansatz, diese Traurigkeit ohne Bezug zur Ursache zu betrachten und darüber zu meditieren, wie man sie auflösen kann. 🙂

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          1. Ulli

            So denke ich eben auch, dass wir das was ist zu uns nehmen und die anderen erst einmal raus lassen, was schon schwer genug ist. Das kann Traurigkeit, Zorn oder Ärger sein, es sind ja immer meine Reaktionen, andere reagieren anders … und Rache geht für mich gar nicht, wenigstens bis heute nicht!

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            1. Anhora Autor

              Den Sinn der Rache habe ich nie erfasst. Ich bleibe bei meinem Beispiel, weil es so schön plastisch ist: Selbst wenn ich mich rächen könnte, würde davon mein Arm ja nicht nachwachsen. Dann schon eher lernen, ohne den Arm zu leben und den Verlust zu akzeptieren. Aber das wiederum signalisiert, dass es ja gar nicht so schlimm ist. Ist es aber. Man verheddert sich da irgendwie …

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  7. flohhusten

    Ich kann z.Bsp. weder das eine, noch das andere.

    Dennoch habe ich mich mit vielem auseinander gesetzt und kann heute meinen Vater zumindest nachvollziehen.
    Ich kann mich in ihn einfühlen und mir zumindest vorzustellen versuchen, warum er war, wie er war und so viele Dinge die wichtig gewesen wären, einfach nicht getan hat; nicht tun konnte.

    Das macht nichts besser, einfacher, weniger schlimm oder verzeihbar – aber ich bin überzeugt davon, dass er selbst gelitten hat.

    Bei meiner Oma; meiner Mutter; meiner Tante oder gar meinem Onkel hatte ich dies auch versucht. Einfach, weil ich merkte, dass ich durch „verstehen“ seelisch entspannter werde.
    Aber bei diesen Menschen mag und möchte mir das nicht gelingen.
    Weil ich überzeugt davon bin, dass man als erwachsener Mensch – egal, was man erlebt hat – immer eine Wahl hat, zwischen Lethargie und Wachstum/Veränderung.
    Manche Menschen wollen diese Wahl nicht annehmen.

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    1. Anhora Autor

      Mir kann niemand erzählen, dass jemand, der wie leider in deiner Familie sein Kind missbraucht oder dabei zusieht und nicht eingreift, nicht hätte anders handeln können. Aber ein Opfer muss ja irgendwie weiterleben und ich sehe auch das Verstehenwollen als geeigneteren Ansatz als Vergebenmüssen. Ich glaube, ich habe noch nie jemandem etwas Schlimmes verziehen, wohl aber – wie du vielleicht auch – festgestellt, dass es Missverständnisse gab oder dass ich nicht alles wusste, was eine Rolle spielte. Das hilft schon ein bisschen, aber verzeihen kann ich deshalb trotzdem nicht.

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  8. sweetkoffie

    Vergeben können – zu allererst mal sich selber – ist keineswegs „Schwamm drüber“. Vergeben heißt auch nicht vergessen. Vergeben bedeutet Klärung, akzeptieren von dem was war, Ballast ablegen. Ich weiß, dass das sehr schwer ist, besonders wenn tiefe Verletzungen mit im Spiel sind.
    Bevor ich jemandem vergebe, muss ich mich auseinandersetzen, auch mit mir und meinem Verhalten und Empfinden.
    LG sk

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    1. Anhora Autor

      Akzeptieren, was war und vergeben, was war, ist m.E. nicht dasselbe. Wenn ich akzeptiere, mach ich die Tür auf die Gestaltung eines bestmöglichen Lebens. Aber vergeben? Da holt man den Täter ja aus der Sünderecke und weist ihm wieder einen ebenbürtigen Platz zu. Mit dieser Vorstellung habe ich Mühe.
      Danke für deine Gedanken dazu!

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