Neulich in Liverpool bei der Mom des geliebten Briten: Wir wissen nicht mehr, was wir mit ihr reden sollen, sie kann keine einzige Frage beantworten. Nicht einmal, was es vor einer halben Stunde zum Lunch gegeben hat. Immer wieder schaut sie sich um und fragt, was sie hier wollte. „Am I right here?“
Der Brite bemüht sich weiter um seine Mutter, ich steige irgendwann aus. Mein Blick wandert durch die Visitor Lounge. Ein paar leere Sessel stehen herum, es sind keine weiteren Besucher anwesend. Vom Fenster her dringt kühle Luft herein, draußen fährt eine Ambulanz vor. Neben der Tür befindet sich eine verglaste Wand, durch die man in den angrenzenden Raum bicken kann. Dort sitzen sechs oder sieben BewohnerInnen dieser Pflegeeinrichtung an einem Tisch und essen. Eine von ihnen – die einzige Afro-Britin – weckt Erinnerungen in mir. Noch vor einem Jahr saß meine Mutter genauso da: schweigend, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Als denke sie über etwas nach.
Die Tochter hilft der Frau beim Essen. Dann steht sie auf und macht ihr die Haare: löst Zöpfchen, kämmt das grauschwarze Gekrissel, nimmt sich mit kleinen Seitwärtsschritten den ganzen Kopf vor und flicht die Zöpfe neu. Als alles fertig ist, sieht die Mutter aus wie eine altehrwürdige Fürstin aus der Antike. Sie spricht während der ganzen Zeit kein Wort. Ein wenig schief sitzt sie im Rollstuhl und lässt sich nun von der Tochter aus dem Raum hinausschieben, blicklos, als sei ihr Geist schon ein Stück vorausgegangen.
Heute jährt sich der Todestag meiner Mutter zum ersten Mal.
Ein Jahr schon, liebe Anhora… wo ist die Zeit hingeronnen…
Ich saß gestrig fast eine Stunde am Pflegebett einer mir fremden Frau, der Hut ihres verstorbenen Mannes wanderte über Umwege in meinen Besitz, vielleicht erzähle ich die Geschichte noch, hier passt nur hin, daß die Dame wunderschön und gleichzeitig verloren war. Und wieder und wieder aus ihrer sterbenden Hülle auftauchte und mir zumurmelte, wie schön es sei, daß ich da war… Gänsehautmomente, die mich daran hinderten wegzugehen, bis ein Pfleger kam…
Was empfinden diese Menschen, wir wissen es nicht.
Ihnen die herzlichsten Grüße vom Untermahorn, der lippische Regen weint mit uns.
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Liebe Käthe, ich bin ganz berührt von der Vorstellung, dass sie vor einer sterbenden Frau nicht weglaufen, sondern ihr die Hand halten. Sie haben meine Bewunderung, denn einfach ist das nicht.
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Ich kenne beides, mein Vater, der in der Erinnerung versunken und verloren ist und die Trauer um die Mutter. Wie schön eine Kerze für sie zu entzünden und ihrer an einem solchen Tag zu gedenken. irgendwie bleiben sie immer bei uns. Und ich wünsche deiner Tochter nachträglich alles Liebe und Gute. Umarmung Sylvia
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Vielen lieben Dank, Sylvia. 🙂
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Das ist dann so ein Tag, an dem man sehr bedrückt ist und die Trauer wieder in den Vordergrund tritt.
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Ich hätte selbst nicht erwartet, dass mir gestern noch einmal so viele Gedanken zu meiner Mutter durch den Kopf gingen. Es ist jetzt ein Jahr und noch immer scheint mir diese Endgültigkeit unbegreiflich.
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Beim Lesen deines Textes ist mir sofort durch den Kopf gegangen, dass du das alles mit deiner eigenen Mutter schon erlebt hast. Dass du den Post genau heute veröffentlichst, finde ich sehr berührend.
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Danke, liebe Flohnmobil. 🙂
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Ich denk an dich ❤
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Danke!
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Fühl Dich gedrückt. Einfach mal so. 😘
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Ach, ich danke dir, Frau Landgeflüster. Schön, dass ihr in Gedanken bei mir seid. Es ist schon speziell heute…
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Liebe Anhora, ja, das ist immer wieder schwer und Trauer hat ihre eigene Zeit!
herzliche Grüsse
Ulli
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Lieben Dank, Ulli. Wir feiern heute den 30. Geburtstag meiner Tochter und werden eine Kerze für meine Mutter anzünden, damit sie dabei ist. Sie ist natürlich auch eingeladen. 🙂
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Solche Tage sind besonders schwer… Alles Liebe für Dich
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Danke, Christine! Für meine Mutter war es eine Erlösung, aber natürlich sind unsere Gedanken bei ihr.
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Das denke ich mir 🙂 Ich kenne das, meine Eltern sind leider viel zu früh gestorben… aber so ist das Leben…
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Das tut mir Leid, dass du deine Eltern schon früh verloren hast. Alles Liebe für dich.
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Dankeschön
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