Diese Geschichte liegt lange zurück, und doch fällt sie mir einmal im Jahr wieder ein. Als sie begann, war ich dreizehn Jahre alt und kurz zuvor von einer Bodensee-Sommerwoche mit meiner Schulklasse zurückgekommen. Wir hatten dort ein paar Jungs kennengelernt und einer davon, ein siebzehnjähriger Schweizer, kam kurze Zeit später in unsere Heimatstadt. Er war sehr cool, ein richtiger Hippie mit langen Haaren, ausgefransten Jeans und Turnschuhen. Alle Mädchen in meiner Klasse verknallten sich in ihn. Ich auch.
Der Junge trieb sich ohne feste Bleibe in unserer Stadt herum und wir brachten ihm abwechselnd zu essen, zu trinken und was er sonst noch brauchte. Mich bat er einmal um eine Haarbürste. Ich war ein verschüchtertes Kind und hatte nicht damit gerechnet, vom Pop-Star der ganzen Mädchenschule angesprochen zu werden. Ich nahm aber noch am selben Tag die familieneigene Haarbürste aus der Schublade und hätte das Geschimpfe meiner Stiefmutter, weil die Bürste wieder einmal nicht an ihrem Platz lag, klaglos in Kauf genommen. Seltsamerweise sagte sie dieses Mal aber nichts, sondern kaufte am nächsten Tag eine neue. Es war mir ein Zeichen, dass ich richtig gehandelt hatte.
Einen Tag später, es war ein Sonntag, verließ ich mit einer komplizierten Ausrede das Elternhaus, um ihm die Haarürste zu bringen. Ich fand ihn im Park, und kein anderes Mädchen aus meiner Klasse war dort. Wir redeten ein bisschen. Mir fiel nichts Bedeutendes zu sagen ein, doch das war egal. Er bestritt die Unterhaltung auch ohne mich.
Wir bummelten ein wenig durch die Stadt. Es waren wenig Menschen unterwegs, aber das merkte ich kaum – ich lief neben ihm her wie in Trance. Dann betraten wir die Schaufensterpassage eines Modegeschäfts, die wie ein Gang ein Stück weit ins Innere des Gebäudes führte. In den beleuchteten Fenstern waren Batik-Shirts, Maxiröcke und Hüfthosen ausgestellt, die meine Eltern mir sowieso nicht kauften. Ich wandte mich also um und wollte zurückgehen, aber der Junge war dicht hinter mir gestanden und ich lief auf ihn auf. Da legte er seinen Mund auf meinen.
Es war der erste Kuss in meinem Leben, und er schmeckte ein bisschen nach dem Wurstbrot, das ich ihm mitgebracht hatte. Ich stand da wie in Beton gegossen und ließ es einfach geschehen. Danach gingen wir weiter und ich versuchte herauszufinden, wer da auf einmal in meiner Haut steckte. Das Würmchen von vorher war es jedenfalls nicht mehr.
Wir trafen uns wieder. Nie fielen mir bessere Gründe ein, um mich von zu Hause fortzustehlen, und ein ums andere Mal lagen wir im Park beieinander im Gras. Ich verstand und verstehe ich bis heute nicht, was er an mir fand. All die geschminkten, witzigen und frechen Mädchen aus meiner Klasse wählte er nicht. Sondern mich.
Er blieb ungefähr zwei Wochen, und das reichte aus, um im Himmel ein gewaltiges Geigenkonzert zu veranstalten und mich aus der Klassengemeinschaft zu stoßen. Selbst meine Freundin giftete mich an und wir hatten ständig Streit. Manche redeten überhaupt nicht mehr mit mir, weil ich mit einem Gammler herumzog, wie sie es nannten. Dabei hatten sie wenige Tage zuvor alle von ihm geschwärmt.
Er reiste wieder ab, wir schrieben uns noch ein paar Briefe und begegneten uns nie wieder. Die Freundschaften zu den anderen Mädchen bauten sich allmählich wieder auf, wurden aber nicht mehr ganz so wie vorher.
Sein Name war Manfred und er stammte aus Stein am Rhein. Auch an seinen Nachnamen erinnere ich mich, und noch etwas habe ich nie vergessen. Ich denke jedes Jahr daran, seit über vierzig Jahren. Es ist nicht der Jahrestag des ersten Kusses, dieses Datum habe ich völlig vergessen. Seltsamerweise erinnere ich mich aber an seinen Geburtstag, den er mir einmal nannte und den wir nie zusammen erlebten. Er ist vier Jahre älter als ich und feiert am 8. März. Heute.
Da siehst du mal! Wie schön, dass auch die schönen Erlebnisse tief in uns verankert bleiben, nicht nur der Mist. Und so eine blaue Strickjacke in der Farbe *seiner* Augen ist doch – heute noch – unbezahlbar! 🙂
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Hach….wie wunderbar!
Ich habe niemals die blaue Strickjacke meiner ersten Liebe vergessen, die genau so blau wie seine Augen war.
Und irgendwie mag ich blaue Strickjacken immer noch, auch noch nach Jahrzehnten.
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Schöni biiträg, guet und läbig g’schribe! 🙂
Du lebst nicht zufällig in der nähe von Bad Urach? Ich bin von donnerstag bis samstag an einem seminar dort und hätte abends zeit….
bretonische bisous l’é-f
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Frei mi, wenn dir des Gschichtle gfalla hot! 😉
In Bad Urach war ich schon mal, aber ich mein Wohnort ist über 100 km weg. Ich hoffe, du hattest ein interessantes Seminar! 🙂
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Einen versuch war’s wert 🙂 Das seminar wird sicher interessant. Ich brauche wieder einmal geistiges *futter“ , ich kann nicht nur dauernd liefern!
bisous!
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Mer hät diä Gschicht au gfalle, du häsch si eso guet verzällt, wie wänn sie grad ebe passiert wäri. Danke.
😉
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Ach, des isch schee, dass es dir gfalle hat. Danke für dein nette Kommentar! 🙂
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🙂
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Vermutlich mochte er an dir, dass du in seiner Gegenwart normal warst. Vielleicht schüchtern, aber ich könnte mir vorstellen, dass deine Schulkameradinnen mehr gekichert haben.
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Na, zu den Kicherlieseln gehörte ich damals wohl nicht! Vielleicht hat mich das abgehoben, ich habe keine Ahnung. Versteh’s bis heute nicht, denn an mir war wirklich nicht viel dran. Später wurde es zum Glück besser. 😉
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Ich denke gerde, dass man sich auch als Erwachsene immer noch so sieht wie man als Kind war. Also damals hast du sicher auch schon gedacht, dass an dir nichts besonderes war. Aber ja, du hast ihm zugehört, hast ihn vielleicht so angesehen als wäre er der tollste Mensch der Welt und hattest Zeit für ihn. Und ich denke das war schon was besonderes.
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Danke für diese Gedanken, Zoé, ich musste grad eine Weile lang darüber nachdenken. Sagen wir so: Ich nehme mich selbst nicht so wichtig, und damals schon gar nicht. Dadurch bekommen andere viel Platz, das hat mich sicher von den Mädchen aus meiner Klasse unterschieden. Vielleicht war es das. Danke für den Denkanstoß. 🙂
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Liebe Anhora!
Ha Mensch, also erschmol muss i jo saga, dass an Dir a großartige Gschichtaerzählerin vrlora ganga isch. Des hosch subbr gschrieba. Mr moint grad, mr liest a guts Buch!
Vielleicht bloggt dr Manni jo auf ma andra Blog ond schreibt heit über sei Geburstdagsfeschdle ond dass r Di gern als Gascht eiglada hätt 🙂
I finds jedenfalls schee, dass Du an ihn denksch und des no so gut in Erinnerung hosch. Und i glaub, der denkt au an Di. Bloß schad, dass die Mädle en dr Klass nemme so nett waret. Naja, so semmr halt, mir Weibr 🙂
I winsch dr an scheena Daag mit Deim Brite.
Grüßle von dr Alb
Mallybeau
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Oh, des isch an scheena Gedanke – dr Manfred feiert sein Geburtsdag und denkt an mi. Und i an ihn. Des gfallt mir grad, und wer woiß, vielleicht isches tatsächlich so. Dräuma darf mr ja.
Dankschee für deine nette Bemerkunga zu meim Schreiba. :-))) Die schönschde Gschichta schreibt halt s’Läba.
Herzlicher Gruß von Weib zu Weib, und dir no an scheena Obend.
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Äbafalls, heit isch jo eh Weltfrauadag, na derfa mr sowieso älles. Draim schee 🙂
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Du au! 🙂
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Großartig.
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Danke! 🙂
Die schönsten Geschichten schreibt das Leben. 😉
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Genauso ist es :o) … Herzliche Grüße! Silvia
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Seufz. Hattest du denn Liebeskumner, als er gegangen ist?
Schön, diese Geschichte.
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Ich glaube allzu groß war der Liebeskummer nicht, denn immerhin kehrte wieder Ruhe ein (meine Eltern durften ja nichts mitkriegen, sonst hätt ich nicht mehr rausgedurft), und die Mädchen in der Klasse waren nach seiner Abreise auch wieder netter zu mir. Es hat eben immer alles zwei Seiten …
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Schade, dass Manfred aus Stein am Rhein nicht unter den Lesern ist. Das wäre doch besonders, ein Treffen nach all den Jahren.
Manchmal erstaunlich, an was wir uns immer erinnern werden.
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Wer weiß …
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Das wäre ein apartes i-Tüpfelchen, wenn DER Manfred das lesen würde! Ich habe ihn mal gegoogelt, aber es kam nichts dabei heraus. Das Internet weiß eben doch nicht alles … 😉
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Das ist in der heutigen Zeit schon eine Kunst, im weltweiten Netz nicht aufzutauchen. Der geheimnisvolle Manfred…
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Ganz ehrlich: Ich bin froh, dass das Internet nicht alles weiß. Wo blieben sonst unsere Träume? 😉
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Da stimme ich dir absolut zu!
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