Kinder brauchen keine perfekte Mama.
Sie brauchen vor allem eine glückliche Mama.
Alles Liebe zum Muttertag!
Corona hin, Corona her – ich pfeif drauf, das eine Mal. Nach all den Jahren, so fühlt es sich an, nehme ich heute endlich wieder die Tochter in die Arme. Ich setze extra eine Maske auf vorher.
Aber es ist ihr Geburtstag heute. Und Muttertag.
Das hat sie für uns gezaubert:
Einen Beeren-Fruchtcremekuchen ohne Weißmehl, ohne Fett, ohne Industriezucker.
Ich hätt mich reinsetzen können.
Aus gegebenem Anlass:
Herzliche Grüße an alle Mütter!
Ich hoffe, ihr habt einen schönen Tag heute.
Wenn wir einen Menschen verloren haben, bewahren wir meist eine Zeitlang Andenken auf: Ein Bild, eine Kerze, vielleicht ein Schmuckstück. Es gibt aber auch Erinnerungsstücke, die nicht ausgesucht werden – sie sind einfach da, übrig geblieben. Ein Sessel vielleicht, oder eine Blumenvase.
Ein solches Andenken lässt mich noch heute jedes Wochenende an meine Mutter denken. Sie starb vor drei Jahren, es war ein Haushalt aufzulösen und so landeten damals unter anderem mehrere Rollen Abfalltüten bei mir. Sie sind inzwischen aufgebraucht bis auf die kleinen 5-Liter-Beutel für Kosmetikeimer.
Manches wird ja vom Alltag gefressen und man denkt nicht mehr darüber nach. Aber von diesen kleinen Rollen mit Beuteln aus 100% Biofolie habe ich noch keinen einzigen einfach so abgerissen. Jedes Wochenende beim Wohnungsputz denke ich: Das gehörte noch meiner Mutter.
Heute brach ich die letzte Rolle auf. 40 Stück. 40 Wochen.
Dann ist nichts Greifbares mehr da.
Aber darauf kommt es ja auch nicht an.
Habt ihr auch solche Erinnerungsstücke?
Neulich bei Netto: Die stark blondierte Kassiererin zieht Waren über den Scanner, eine ältere Kundin räumt eins nach dem andern in den Einkaufskorb.
„5 mal Sahne!“ ruft die Kassiererin fröhlich. „Da hamse zugegriffen. Recht so, ist’n günstiges Angebot.“
„Ach wissetse,“ sagt die ältere Frau, „ich kauf immer so viel Sahne. Mein Kätzle schleckt halt nix anderes. Milch lässt se stehen.“
„Na, die wird aber verwöhnt!“ lacht die Kassiererin.
„Naja“, meint die Frau lapidar, „wenns mal aus ist mit mir, kann ich ja nix mitnehmen. Soll des Miezle doch seine Sahne haben, wem schadets schon, gell?“
*
Nach dieser Maxime lebte auch mein Stiefvater. Heute ist er im Alter von 89 Jahren friedlich eingeschlafen. Gott hab ihn selig.
Im Urlaub besuchten wir das Kloster Santa María de la Rábida in der Nähe von Huelva, Spanien. Hier hat sich Kolumbus aufgehalten, bevor er auf die große Reise ging. Wir betraten auch die kleine Klosterkapelle und ich zündete drei Kerzen an: Eine für meine Mutter, eine für Schwiegermutter Nr. 1 und eine für Schwiegermutter Nr. 2. Dazu musste ich aber keine Kerze in die Hand nehmen: Ich warf nur drei Münzen ein und nacheinander begannen drei Kerzen automatisch zu leuchten. LEDs. Keine Sauerei, sichere Bezahlung, wiederverwendbar. Da sag noch einer, die Kirche geht nicht mit der Zeit. Es sind die drei Kerzen links in der zweiten Reihe von unten.
Fällt mir grad so ein, zum Muttertag.
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Letzte Woche: Als die familiären Angelegenheiten anlässlich des Todes meiner Schwiegermutter hinter uns lagen, setzten wir uns zum Abschluss noch in ein Pub. Dort wurden wir gegen halb zwölf Uhr rausgeschmissen, Sperrstunde. Die stuhlen dann nicht nur um einen herum auf, die machen auch das Licht aus, selbst wenn das Glas des Gastes noch halb voll ist. Der geliebte Brite und ich mussten also jeder ein halbes Pint Bier in einem Zug hinunterstürzen. Bei englischem Bier macht das aber nichts, ist ja wie Radler.
Solchermaßen angeschickert zogen wir weiter und kamen an einer Karaoke-Bar vorbei. Durch die Glasfront sahen wir ein paar Leute tanzen, ein älterer Mann röhrte auf einer kleinen Bühne ins Mikrofon, als gäbe es kein Morgen. Wir überlegten nicht lange und gingen hinein.
An die Bar gelehnt beobachteten wir Frauen, die an einem Tisch saßen und begeistert in jedes Lied miteinstimmten. Immer wieder kam jemand von der Straße herein, sang ein Stück, ließ sich beklatschen und ging wieder hinaus. Was für ein Spaß! Einmal tänzelte ein dünner, etwas zerfurchter Mann mit Wollmütze herein. Er hielt in jeder Hand eine Bierdose vor sich hin und bewegte sich mit leicht nach hinten geneigtem Oberkörper wie Kater Mikesch aus der Augsburger Puppenkiste. Mit seinen Bierdosen zog er langsam zwei Runden um die Tanzfläche herum, dann tänzelte er wieder hinaus.
Wir lachten uns kaputt. Two Tin Man nannten wir ihn. War es doch das schnell getrunkene Bier im anderen Pub, oder die nachlassende Anspannung der letzten Tage? Wir konnten nicht aufhören zu lachen, bis etwa eine Stunde später auch diese Bar anfing, die Schotten dicht zu machen. Ach so, wir sind ja in England. Eigentlich waren wir ja auch traurig, die Mutter des Liebsten ist tot. Aber an diesem Abend war noch genug Platz für die Freude am Leben.
Soviel vorab: Die Trauerfeier meiner Schwiegermutter war die eindrucksvollste Zeremonie, die ich bei Beerdigungen bisher erlebt habe. Aber doch anders als bei uns.
Lily war wie die meisten Menschen in England nicht religiös. Zur Trauerfeier erschien deshalb kein Priester, sondern ein „Celebrant“. Das ist ein Vertreter des Britischen Humanistischen Verbands, der nicht-religiöse Beerdigungen, Hochzeiten, Namensfeiern usw. durchführt. Wir versammelten uns also nicht in einer Friedhofskapelle, sondern im Krematorium.
Der Sarg wurde von vier Trägern in einen mit Blumen geschmückten Raum gebracht, die Trauergesellschaft nahm auf den Stühlen Platz. Der Celebrant hielt die Eröffnungsansprache und es folgte eine Rede des ältesten Sohnes, des geliebten Briten. Er beschrieb seine Mutter als junge Frau, wie sie lebten damals, was er von ihr lernte, kleine Geschichten aus dem damaligen Alltag. Der zweite Sohn schilderte dann ihre weiteren Lebensstationen, und ein Enkel sprach schließlich darüber, was seine Oma ihm bedeutete.
Dann gab es ein paar Gedenkminuten, während denen ein Lied von Frank Sinatra abgespielt wurde: „We’ll be together again“. Das war für mich gewöhnungsbedürftig, ich dachte ich sitz in einer Bar. Danach trug die andere Schwiegertochter ein selbstverfasstes Gedicht vor: „No Tears / This is not a time to grieve, …“ Wer bis dahin nicht geweint hatte, tat es jetzt. Es war berührend.
Am Ende entließ uns der Celebrant mit dem Gedanken, dass die Verstorbene nicht verschwindet, sondern in unseren Herzen weiterlebt. Ein letztes Lied wurde gespielt, mein Liebster hatte es ausgesucht: „Somewhere over the Rainbow“.
Zu Recht werden solche Veranstaltungen nicht als Trauerfeiern bezeichnet, sondern als „A Celebration of the life of …“. Ein Leben wird gefeiert.
Lily wird nun eingeäschert und in ein paar Tagen wird ihre Asche in den angrenzenden Grünanlagen an einer der dafür vorgesehenen Stellen verstreut. Diese sind mit Blumen bepflanzt und von Sitzbänken eingerahmt. Die engsten Familienangehörigen werden dabei sein, aber es gibt keine Zeremonie mehr. Auch einen Gedenkstein oder eine Inschrift gibt es nicht. Es wird aber für den Park in der Nähe ihres letzten Wohnsitzes eine Bank gespendet und mit ihrem Namen versehen. Sie ging dort oft spazieren und mochte diese Idee, sagte mein Schwager.
Ich habe in England schon Friedhöfe mit frischen, blumengeschmückten Gräbern und Gedenksteinen gesehen, also gibt es das auch. Das Einäschern und anonyme Verstreuen ist aber dem Vernehmen nach nichts Ungewöhnliches.
Wir trafen uns dann alle in dem Restaurant, in dem wir vor zwei Jahren Lilys neunzigsten Geburtstag gefeiert hatten. Ich war neben ihr gesessen, wir hatten miteinander gelacht und Spaß gehabt. Als wir heute wieder dort waren, ohne sie, hat sie mir so gefehlt. Die Gesellschaft war nicht komplett.
https://de.wikipedia.org/wiki/Humanistischer_Verband_Deutschlands
Die Mutter des geliebten Briten ist tot. Sie starb vor wenigen Tagen mit 92 Jahren. Man denkt, angesichts dieses Alters darf man nicht klagen – als gäbe es bei Hochbetagten keinen Grund, traurig zu sein. Ich kenne sie als reizende, zierliche alte Dame, die das Leben mit Humor nahm und gerne lachte. Bis vor einigen Jahren bereiste sie noch regelmäßig alle möglichen Länder, bis ihre Begleit-Freundinnen nach und nach verstarben oder den Strapazen nicht mehr gewachsen waren. Einmal kam das Gespräch auf frühere Zeiten und sie erzählte, dass sie im Krieg zweimal ausgebombt wurde, dass aber trotzdem gelegentlich kleine Tanzabende stattfanden und sie für ihr Leben gern dort hinging. Sie war neugierig auf die Welt, auf die Menschen und machte bis zum Schluss aus allem das Beste. Good-bye, Lily.
Neulich in Liverpool bei der Mom des geliebten Briten: Wir wissen nicht mehr, was wir mit ihr reden sollen, sie kann keine einzige Frage beantworten. Nicht einmal, was es vor einer halben Stunde zum Lunch gegeben hat. Immer wieder schaut sie sich um und fragt, was sie hier wollte. „Am I right here?“
Der Brite bemüht sich weiter um seine Mutter, ich steige irgendwann aus. Mein Blick wandert durch die Visitor Lounge. Ein paar leere Sessel stehen herum, es sind keine weiteren Besucher anwesend. Vom Fenster her dringt kühle Luft herein, draußen fährt eine Ambulanz vor. Neben der Tür befindet sich eine verglaste Wand, durch die man in den angrenzenden Raum bicken kann. Dort sitzen sechs oder sieben BewohnerInnen dieser Pflegeeinrichtung an einem Tisch und essen. Eine von ihnen – die einzige Afro-Britin – weckt Erinnerungen in mir. Noch vor einem Jahr saß meine Mutter genauso da: schweigend, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Als denke sie über etwas nach.
Die Tochter hilft der Frau beim Essen. Dann steht sie auf und macht ihr die Haare: löst Zöpfchen, kämmt das grauschwarze Gekrissel, nimmt sich mit kleinen Seitwärtsschritten den ganzen Kopf vor und flicht die Zöpfe neu. Als alles fertig ist, sieht die Mutter aus wie eine altehrwürdige Fürstin aus der Antike. Sie spricht während der ganzen Zeit kein Wort. Ein wenig schief sitzt sie im Rollstuhl und lässt sich nun von der Tochter aus dem Raum hinausschieben, blicklos, als sei ihr Geist schon ein Stück vorausgegangen.
Heute jährt sich der Todestag meiner Mutter zum ersten Mal.
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen handelt von Blumen, die ich für meine Mutter pflückte. Da die Stiele in meinen Augen nichts Besonderes an sich hatten, brach ich sie ab und legte meiner Mutter nur das Schönste auf den Schoß: die bunten, zarten Blüten. Neben ihr – wir befanden uns auf einem Spielplatz oder so – saß eine andere Frau mit einem „ordentlichen“ Sträußlein von ihrem Kind in der Hand. Da sagte meine Mutter: „Oh, ich bekomme ja nur die Köpfe“.
Das verwirrte mich so, dass ich es heute noch weiß.
Betrachtet die Geschenke, die ihr heute vielleicht bekommt, mit den Augen der Kinder.
❤❤❤
Als meine Mutter ihre Hände noch benutzen konnte, malte sie nicht nur Bilder, sondern sie schuf auch kleine Tonskulpturen. Ein von ihr gefertigter Engel zum Beispiel stand jahrelang in ihrem Schlafzimmer. Er gefiel mir nie und anderen wohl auch nicht, denn als sie gestorben war, wollte ihn niemand haben. Ihn wegzuwerfen, brachte ich aber auch nicht übers Herz, und so stellte ich ihn vorerst zu Hause auf. Vielleicht würde ihn eines Tages jemand mitnehmen, dachte ich, wer auch immer. Oder ich würde die Erlaubnis zum Entsorgen bekommen, von wem auch immer.
Kürzlich schlappt nun der geliebte Brite in mein Zimmer, kommt wegen irgendetwas ins Stolpern, sucht Halt, erwischt den Engel und stößt ihn vom Tischchen. Als ich von der Arbeit nach Hause komme, träufelt er gerade Porzellankleber auf die Bruchstelle und drückt den Kopf wieder auf. Der Engel wird an seinen Platz zurückgestellt.
Zwei Stunden später betrete ich das Zimmer, bewege mich ungeschickt mit dem Staubsauger, der Schlauch streift den Engel und er stürzt ein zweites Mal an diesem Tag (genauer gesagt in seinem Dasein) zu Boden. Der Kopf ist wieder ab und die Trompete auch.
Er wird ein zweites Mal repariert, aber wenn ich so darüber nachdenke:
Was meint ihr? Ist das eine Botschaft meiner Mutter, dass ich den Engel in den Müll geben kann? Gefiel er ihr auch nicht?
Manches im Leben lässt sich nicht sagen. Manches lässt sich nicht zeigen und glaubhaft machen. Wenn ein Mensch aber stirbt, kann es noch einmal eine Kommunikation geben, und dann wird alles klar. Das kann heilend sein, bei mir jedenfalls, nach dem Tod meiner Mutter. Ich überlege gerade, warum es im Leben nicht ging. Ich habe ja nichts Neues erfahren, als sie gegangen war. Es ist nur etwas weggefallen. Es ist, als ob ihr ein schwerer Mantel abgenommen worden wäre, und da sah ich das goldene Kleid mit den Herzen darauf. Sie trug es wohl schon immer.
Eins habe ich gelernt seither: Man kann einen Menschen auch anders sehen. Man kann ihn sich vorstellen, als verstellte nichts Äußeres die Sicht. Doch dieser Blick fällt auch wieder schwer, denn womöglich müsste man dann verstehen oder – schlimmer noch – verzeihen. Das bringt die Dinge durcheinander, und drum will ich es auch nicht wissen. Nicht bei allen jedenfalls.
Wenn ich an meine Mutter denke, sehe ich sie kleiner, heller und weicher als früher. Sie befindet sich in einem langen Warteraum, an dessen äußerstem Ende sich eine Tür befindet. Dahinter ist Licht. Sie ist aber noch nicht durchgegangen, denn ich pfeife sie jedes Mal zurück, wenn sie das versucht. Dann kommt sie wieder nach vorne, wo ich sie sehen kann. Würde sie ins Licht gehen, wäre sie weg, und das kann sie später noch tun. Sie hat ja viel Zeit.
Außerdem ist da vorne etwas los. Meine Mutter hat sich über eine nebelartige Brüstung gebeugt und streckt die Hand nach unten. Dort schwebt seit Tagen eine andere Frau. Ihr Körper ist groß, fest und ganz glatt. Sie schaut unsicher nach oben und versucht, den Rand zu erreichen. Meine Mutter lacht und strahlt in goldenen Farben, versucht, die Frau hochzuziehen. So turnen die beiden eine Zeitlang herum und strecken die Hände nacheinander aus. Dann hat die Frau den Rand erreicht. Sie hält sich fest und wird nach oben kommen, vielleicht einen anderen Raum aufsuchen. Im Moment muss sie sich erst orientieren.
Diese Frau ist nun im selben Jahr wie meine Mutter geboren und gestorben. Sie bedeutet mir viel und ich hoffe, sie findet bald ihren Platz, und dass es ihr gut geht. Aber eigentlich zweifle ich nicht daran, denn meiner Mutter geht es ja auch gut.
Ich wünsche mir so sehr, dass sie da oben sind, dass ich sie wirklich sehe, dass ich mir das nicht einbilde und in Wirklichkeit ist gar nichts.
menschen gedenken eines menschen.
herz – brennendes archiv!
es ist erinnerung der engel;
erinnerung an alte gaben.
die formel tod, die überfahrt –
die wir zu übersetzen haben.
(Thomas Kling: Das brennende Archiv)
Gefunden in der Frankfurter Anthologie der FAZ, hier gibt es auch eine Interpretation.
Einem Menschen über lange Zeit beim Loslassen des Lebens zusehen zu müssen, ist keine einfache Sache. Erst recht nicht, wenn es die Mutter ist mit all den Geschichten, die verbinden oder auch nicht. Wie viel Energie dabei auf der Strecke blieb, merke ich erst jetzt, wo ich sie wieder für mich selbst behalten darf.
Sichtbares Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass ich trotz Jobverlust, Wohnungswechsel und Zukunftsangst rauchfrei geblieben bin. Drei Monate sind es heute. Davor hatte es schon genügt, dass meine Mutter wieder einmal ins Krankenhaus musste und ich mit dem ganzen Brimborium dastand und gleich wusste, was auf mich zukam. In solchen Fällen (zum Beispiel) habe ich halt immer ein Schächtelchen Trost aus dem Automaten gezogen, auch wenn ich das Rauchen eigentlich aufgegeben hatte.
Aber jetzt – fließt es wieder. Ich fühle mich leicht und zuversichtlich, Nikotin brauche ich nicht. Heute habe ich Herbstastern zu ihrem Grab gebracht. Uns geht es gut.
Auf dem Grab meiner Mutter ist eine Steinplatte vorgesehen. Ich habe auch schon organisiert, wer sie anfertigen wird, es ist alles besprochen. Mit einer solchen Platte ist das Grab immer aufgeräumt, man braucht nur im Herbst gelegentlich die Blätter abkehren, fertig.
Aber nun sind die Blumen noch da. Meine Mutter ging vor fünf Monaten, und die Pflanzschalen blühen immer noch, als gäbe es kein Morgen. Das Grab wächst und lebt. Ich lasse jetzt noch keine Steinplatte darauf legen.
Die Toten
die in unsren Herzen ruhn
sind mächtig
sind wie Saat in Frühlingsnächten
sind wie Wasser
in verdorrten Schächten
und wie Flügel
an den schweren Schuhn
(Stefan Andres)
Zoé fragte vor einiger Zeit, wo man sich auf einer gedachten Linie zwischen Geburt und Tod sehe. Ich antwortete, ich sehe mich überhaupt nicht auf einer solchen Linie, sondern darüber; die Vorstellung, direkt auf der Linie zu sitzen, fühlt sich für mich falsch an. Zoé fand das interessant und überlegte, was ein Psychologe dazu wohl meinen würde. Also fragte ich einen.
Die Antwort: In der Psychologie gibt es keine Linie zwischen Geburt und Tod, sondern Wellen. Eine gerade Linie stellt Zeiteinheiten dar, Jahre oder Jahrzehnte. Die Lebenslinie besteht aus besseren und schlechteren Zeiten. Dies hatte ich also gesehen und meine Positionierung deutet darauf hin, dass ich mich derzeit deutlich über dem Durchschnittsniveau befinde.
Das ist so richtig wie sonderbar. Trotz Umzug und Jobverlust fühle ich mich tatsächlich energetisch aufgedrillert und positiv. Die Wohnung ist schön geworden, es gibt Perspektiven für meine Zukunft, und vielleicht hat auch meine Mutter gerade nichts zu tun dort oben und hält mir die Hand.
Wie ist es bei euch? Wenn euer Leben eine Wellenlinie ist – wo befindet ihr euch im Moment?
Gestern habe ich
– zum letzten Mal vor der Hochschule geparkt
– zum letzten Mal in einem Büro darin den Computer hochgefahren
– zum letzten Mal dort eine Tasse Kaffee getrunken
– zum letzten Mal mit den Kollegen gequatscht und herumgealbert
– zum letzten Mal den Computer ausgeschalten
– zum ersten Mal geheult, als ich die Ausgangstür aufdrückte und das Gebäude verließ.
Danach ging ich zum Friedhof. Die Pflanzen auf dem Grab meiner Mutter blühen immer noch üppig und ich zog – nach fast drei Monaten – die Trauerbänder aus den Schalen. Die Sonne ließ die Umrisse der Bäume, die weiter vorne am Weg entlang eine Arkade formen, zu einem Lichtkranz aufleuchten. Darunter blieb es trüb, und aus dieser Düsternis heraus tauchte ein Mann auf. Er trug einen schwarzen Mantel und hielt mit starrer Geste ein Holzkreuz in die Höhe. Mehrere dunkel gekleidete Menschen folgten ihm, der kleine Zug kam mir langsam entgegen. Mich schauderte, ein scharfer Wind blies mir die Haare aus dem Gesicht, die Sonne wärmt nicht mehr. Ich zupfte noch ein paar trockene Blättchen ab und machte mich auf den den Heimweg.
Meertau hat kürzlich in einem Kommentar etwas Mutmachendes geschrieben: „Ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Wer ich mal werde, weiß ich noch nicht. Aber der Platz für mich ist schon frei.“