Archiv der Kategorie: Unfall

Am Pfingstsonntag verunglückte mein Sohn im Alter von zwanzig Jahren.

Waal-Tag

(Rückblick vom 04.06.2017 )

Acht Jahre sind es heute, dass eins meiner Kinder bei einem Autounfall beinahe ums Leben kam. Pfingstsonntag.

Diesen schweren Gedanken nehme ich mit, als wir vom Hotel aus zum Maiser Waalweg aufbrechen. Waale (= Wasserläufe) sind schmale Kanäle, die es in Südtirol schon seit dem 13. Jahrhundert gibt. Sie wurden rund um Meran gegraben, in den Fels gemeißelt oder in ausgehöhlten Baumstämmen geführt, um Gebirgswasser in die Felder zu leiten. Die Gegend hier gehört zu den trockensten in ganz Italien.

Wir wandern fast drei Stunden lang entlang eines schmalen Wasserkanals unter schattigen Bäumen, an Felswänden entlang, durch Apfelbaumplantagen, vorbei an Höfen und Anwesen.

Ich wundere mich wieder einmal, wie der Straßenlärm des Tals durch irgendwelche physikalischen Eigenarten nach oben getragen wird bis zu unserem Weg. Das beständige Brausen und Rauschen ist das Einzige, was die Idylle hier stört. Erst auf halbem Weg entdecke ich, dass es mitnichten eine Autobahn ist, die diesen Krach veranstaltet, sondern ein reißender Fluss: die Passer. Da stört es mich auf einmal nicht mehr. Ich denke darüber nach, dass ein Fluss, ein unruhiges Meer und Straßenlärm in etwa gleich klingen, aber völlig unterschiedlich wahrgenommen werden.

Als wir den Fluss verlassen und es leiser wird, hören wir nur noch Insektengesumm und das vielstimmige Zwitschern der Vögel in den Ästen über uns. Die Luft ist feucht nach einem Gewitterschauer am Morgen. Es riecht nach Moos und Kräutern. Auf solchen Wegen sollte man achtsames Gehen beherrschen: Es wäre schade, diese Schönheit nicht mit allen Sinnen zu erfassen.

Wenn es meinem Kind gut ginge, wäre es ein perfekter Tag. Acht Jahre. Und immer noch ist alles durcheinander.

 

 

 

Begegnung am Vormittag oder Zufall 2.0

Ich mache mich auf den Weg zum Einkaufen und fahre rückwärts aus dem Stellplatz vor dem Haus. Als ich etwa halb draußen bin, bemerke ich einen alten Mercedes, der aus einem der daneben liegenden Stellplätze ebenfalls herausgefahren ist. Ich bremse also und muss mitansehen, wie dieses wildgewordene Fahrzeug nun mit Vollgas rückwärts fährt. Ihr ahnt, in welche Richtung.

Noch vor dem Aufprall ärgere ich mich über die Scherereien, die jetzt kommen werden und dass ich nichts dagegen tun kann. Ich habe ja noch den Rückwärtsgang drin und spontane Ausweichmanöver funktionieren nur in Slapstick-Komödien. Also rummst es. Und wie.

Ich reiße die Tür auf, stampfe zum Heck und schaue mir die Bescherung an. Die hintere Ecke ist eingedrückt. Der Mercedes ist wieder ein Stück nach vorne gerollt und ein erschrockener junger Mann steigt aus.

„Wie blöd sind Sie denn?“ keife ich los, und er zieht die Schultern ein.

„Es ist ja nichts passiert,“ beschwichtigt er und hat Recht: Sein Auto hat keinen Kratzer abbekommen. Aber meins steht da und heult, weil man ihm weh gemacht hat, und ich zetere weiter.

Natürlich ist niemand verletzt, es gibt Schlimmeres und nach einer Weile komme ich wieder zu mir. Ich frage nach dem Namen des jungen Mannes, der mir bekannt vorkommt und schon stellt sich heraus, dass ich seine Mutter kenne und mein Vater hat früher mit der Schwester musiziert. Eine bekannte Familie also, nur den jungen Mann treffe ich zum ersten Mal, netter Kerl übrigens. Nur Autofahren kann er nicht.

Wer nun beim Lesen meinte, ein kleines Déjà-vu zu haben, der hat ein gutes Gedächtnis.

Begegnung am Nachmittag

Das letzte Mal passierte es übrigens vier Wochen vor einem Umzug, dieses Mal drei Wochen nach einem Umzug, beides Mal an einem 17. Monatstag. Was lerne ich daraus? Sollte ich noch einmal umziehen, muss ich in der Zeit davor und danach jeweils am 17. im Straßenverkehr alle Menschen vermeiden, die meine Eltern kennen. Jedenfalls mit diesem Auto.

Auto-kaputt

 

Zum Zufall 1.0

Die Katastrophe

Bundespräsident Gauck bricht eine Auslandsreise ab. Die Kanzlerin, der französische und der spanische Präsident begeben sich an die Unglücksstelle. Eine Ministerin besucht Haltern am See. In Deutschland wehen die Fahnen auf Halbmast, eine Schweigeminute lenkt die Gedanken der ganzen Nation zu den Opfern.

Ich habe gelesen, dass ein solches Spektakel und der Aufruhr in den Medien es den Angehörigen noch schwerer mache. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich stelle mir gerade vor, dass eine von mir geliebte Person in diesem Flugzeug gesessen hätte. Der Rummel würde nichts ungeschehen machen und meine Trauer nicht lindern. Aber es wäre vielleicht tröstlich, dass der Verlust dieses Menschen wichtig genug ist für den internationalen Aufmarsch, die Schlagzeilen auf den Titelseiten und die Sondersendungen im Fernsehen.

Je mehr sich auch andere damit beschäftigen, desto weniger sind wir mit dem Schmerz allein. Desto geringer wird auch die Furcht, dass ein toter Mensch im Nichts versinkt. Eine Illusion freilich. Der wahre Grund für die kollektive Erschütterung ist das drastische Beispiel, mit dem uns die eigene Endlichkeit vor Augen geführt wird und dass wir nicht alles planen können. Trotzdem würde mir das Aufsehen in diesen Tagen wahrscheinlich helfen.

Begegnung am Nachmittag

Ich fahre in die Seniorenanlage am Ort, um meiner Mutter die Einkäufe zu bringen. Vor mir fährt ein Ford, der jetzt nach links abbiegt und ich folge ihm langsam. Ein Audi kommt entgegen und der Ford hält an, da die Straße schmal ist. Zu schmal für das Augenmaß des Fordfahrers, das Fahrzeug setzt zurück. Setzt zurück und setzt zurück, ich sehe, was kommt und schlage auf die Hupe.

Es hupt aber nicht. Das kommt daher, dass ich nicht weiß, wo die Hupe ist. Also, ich weiß, wo an meinem alten Auto die Hupe ist, aber seit einer Woche fahre ich ein anderes. In diesem bleibt mein Herumhämmern auf der Mittelscheibe des Lenkrads wirkungslos und es beginnt diese Zehntelsekunde, in die so viel hineinpasst. Ich weiß was geschehen wird, dass ich nichts dagegen tun kann, spüre Hilflosigkeit im oberen Magendrittel und überlege, ob ich die Reparatur in Werkstätte A oder B machen lassen soll – es gibt zwei, die in Frage kommen – , wie viel Zeit das kosten wird und dass ich die Übersetzungen dann abends machen muss, um nicht in Verzug zu kommen. Nach diesem ausgefüllten Augenblick schrammt der Ford in meine Fahrertür.

Eine Frau steigt aus, ich mache Bilder, wir tauschen Daten aus. Ein Versicherungsfall, nichts Schlimmes. Wir plaudern noch ein paar Minuten und es stellt sich heraus, dass die Verursacherin meine Mutter kennt. Ich soll ihr schöne Grüße ausrichten. Mach ich.

 

Autoschaden-low

Danke, Versatile Blog Award!

Bis gestern steckte in den WordPress-Statistiken dieses Blogs eine Stelle mit verklumptem Herzblut. Zweieinhalb Jahre lang blieb es sichtbar, wenn ich hier saß, direkt unter dem Diagramm. Ich meine den Eintrag: 25. Juni 2009 – 90 Aufrufe, verkehrsreichster Tag seit Bestehen des Blogs.

Mein Sohn hatte schon mehrere Wochen auf der Intensivstation verbracht und war kurz davor, auf eine normale Station verlegt zu werden. Dieser Blog diente damals – ohne tags zu verwenden – nur der Information von Familie und Freunden, fremde Leser gab es noch nicht. Ich vermeldete täglich die winzigen Fortschritte des Jungen, so musste ich niemanden anrufen, dasselbe nicht wieder und wieder erzählen, die Kraft hätte gefehlt. Mir alles von der Seele zu schreiben, war dagegen heilend.

Jedenfalls: Der 25. Juni 2009  steht nicht mehr da. Mit wiederum 90 Aufrufen wurde gestern der 25. November 2011 zum verkehrsreichsten Tag in der Statistik. Die Erinnerung an eine Zeit des Schocks ist ersetzt durch eine an den „Versatile Blog Award“. Anders kann ich mir nicht erklären, warum es gestern fast doppelt so viele Klicks gab wie normalerweise.

Ich bin froh. Ich will nach vorne schauen und Lösungen suchen, nicht zurück und mich an Schmerzen festhalten. Deshalb danke, Sofasophia, dass du mich „erwählt“ hast, und allen Besuchern gestern und heute (es sieht aus, als ob es einen neuen Rekord gibt) meinen aufrichtigen und herzlichen Dank. Es hat mir gut getan!

 

Schlafsofa

Ich lehne in der Ecke der Ledercouch im Eingangsbereich, Leute gehen aus und ein. Ich schlage mein Buch auf, die Physiotherapie und Lympfhdrainage dauert etwa eine Stunde. Zu Hause liegt eine weitere Tüte mit Stahl- und Titanzeug drin, das befand sich vor kurzem noch im Bein meines Sohnes. Nach der letzten Operation ist sein Körper wieder metallfrei, und seither komme ich viel zum Lesen: Physiotherapie, Ergotherapie, Hausarzt, Orthopäde, ich kenne alle Wartezimmer. Der Junge kann noch nicht Auto fahren mit den frischen Wunden und starken Schmerzmitteln.

Während also sein Kniegelenk mobilisiert wird, komme ich nicht recht voran mit meinem Buch. Das freundliche Geplauder der Empfangsdame am Telefon oder die Geräusche aus dem Fitnessraum stören mich nicht. Aber das Radiogedudel im Hintergrund. Flaches Geschwätz, einfallslose Musik, ich versuche mich zu konzentrieren, aber – wie häufiger – die Sätze fangen an zu tanzen. Sie kippen nach hinten weg, ich ruckle auf dem Polster herum, kratze meinen Arm, richte mich auf, trotzdem fallen mir die Augen immer wieder zu. Ich habe Angst, dass es jemand bemerkt und vor allem, dass ich in der Tat einschlafe, zusammensacke womöglich oder schnarche, wie Mr. Bean in der Kirche. Meine Güte, sind das Herausforderungen …


 

Bevor es Nacht wird

Wie früher ist es nicht. Der Rhythmus fehlt. Wir hocken an einem der wackligen Außentische vor dem Pub, Teller mit dampfenden Fish & Chips werden vorbeigetragen, Gerüche nach heißem Fett ziehen hinter ihnen her. Sie vermischen sich mit Zigarettenrauch und dem Duft nach Staub aus den Winkeln der Gasse, aus der die Hitze des Tages quillt. Junge Leute rufen, lachen oder ratschen mit iPhones – die Mauern werfen ihre Stimmen zurück. Paare schreiten die Schaufenster ab. Junge, ältere, Hand in Hand, von drinnen kreischt laute Musik. Freitagabend. Wieder eine Woche vorbei, eine wie die andere.

Jahrelang fühlte sich diese Zeit an, als sei ich gerade aus einer Sklavengaleere gekrochen, mit schmerzenden Schultern und einer Erstarrung, die sich nur langsam löste von der geprügelten Seele. Das ist vorbei. Das Wochenende fällt jetzt kaum anders aus als die Werktage. Wir richten uns ein in der neuen Wohnung, ich bereite ich mich darauf vor, selbständig zu arbeiten. Alles geht stockend voran, ich bin noch nicht soweit. Erst verdauen: die Angst nach dem Unfall meines Kindes, Angst um alle meine Kinder, Angst vor der Arbeitsstelle, die mich zerfraß und Angst vor dem was kommt, als ich sie aufgab.

Im Augenblick schiebe ich die nagende Frage nach Einnahmen, von denen wir leben können, erst einmal weg. Es ist doch Freitag. Ich lasse mir den warmen Nachtwind ins Gesicht wehen und reduziere alle Unklarheiten auf eine einzige: soll ich Weißwein bestellen oder Ramazotti?

Heiligabend

Ich sitze in der Kirchenbank und weiß nicht wohin mit meinen Gedanken. Es ist schwer anzudocken dort, wo ich bin und an dem, was ansteht: Weihnachten. „Du hast Schuld auf dich geladen,“ verkündet die Stimme des Priesters, „komm zu dem, der deine Schuld wegnimmt!“ Das kann ich nicht brauchen. Nie sind wir gut genug. Immerzu muss vergeben werden. Das hab ich jeden Tag bei der Arbeit.

Mein Herz pocht jetzt eingeklemmt gegen die Enge. Ich versuche die Atmung zu regulieren. Muskeln entspannen, sage ich mir. Nicht weinen. Es gibt keinen Grund. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Menschen neben mir: Der Liebste blättert im Liederbuch, die Kinder wispern sich Dinge zu und lachen leise. Alle am Leben, denke ich. Alle auf ihren Wegen, vielversprechende. Jetzt rollen Tränen über mein Gesicht. Nicht weil der Tod so nah war bei einem von ihnen, sondern weil er so nah ist bei jedem von uns.

„Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund,“ bittet die Gemeinschaft jetzt. Diesen Satz hab ich immer gemocht, und das Wort wird gesprochen. Heute jedenfalls. Meine Seele fühlt sich allmählich warm an, sie löst sich aus der Verkapselung, holt Luft. Mein Atem wird ruhiger. Ich spreche Gebete mit den andern und singe Lieder zu Weihnachten. Gott schütze uns.

Samuel Koch wird langsam aufgeweckt

Auch ich falle der kollektiven Anteilnahme anheim, aus besonderem Grund. „Aus dem Koma zurückholen … etwa drei Tage“. Das sagten sie auch zu uns, vor eineinhalb Jahren. Etwa drei Tage dauere es, bis der Junge erwacht. Es wurden fünf. Dieser Albtraum, dieses Gelähmtsein, das Entsetzen – es lässt sich nicht beschreiben. Man taumelt von einer Stunde zur nächsten. Man denkt, das Kind wacht nicht mehr auf.

Unser ganzes Leben lang planen und organisieren wir. Wir entwerfen Zeitpläne, legen Abläufe fest und was nicht geht, planen wir neu. Aber damals, am Bett unseres Sohnes, da gab es nichts zu planen, ich wurde zu Stein. Wir warteten, dass er aufwacht. Wir warteten, dass er aufwacht, damit es uns besser geht, doch der Junge hatte seinen eigenen Zeitplan. Und er machte ihn ohne uns.

Ich weiß, was die Eltern von Samuel Koch jetzt aushalten müssen und was da noch kommt. Nichts wird mehr sein wie vorher.

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Luftsäcke oder Prallkissen

Irgendwo gelesen neulich: Luftsäcke oder Prallkissen. Hört sich nicht so bedeutsam an wie Airbags, doch um die Bezeichnung geht es nicht. Einer davon schützte das Leben meines Sohnes. Daran denke ich wieder jeden Tag, wenn ich bei Eis und Schnee zur Arbeit oder nach Hause fahre. Mein Auto hat nämlich keine.

Aber man fährt ja auch langsamer. Die andern hoffentlich auch.

„Sie werden sehr glücklich sein.“

Die chilenischen Bergleute kurz vor ihrer Befreiung. Schon jetzt weiß der chilenische Psychologe Iturra, wie sie diesen Albtraum verarbeiten werden. „Sie werden sehr glücklich sein.“ Das finde ich interessant. In unseren Kulturkreisen weiß man viel über Traumasymptomatik und Traumabewältigung. Betroffene reagieren auf ein traumatisches Ereignis fast immer mit Hilflosigkeit, Erschrecken, Verunsicherung, damit einher gehen Veränderungen wie z. B. Übererregung, Schlafstörungen, Albträume, heißt es da.

„Sie sind dem Tod von der Schippe gesprungen. Was sollten sie jetzt noch befürchten, wovor Angst haben?“ heißt es in Chile.

Auch mein Sohn ist dem Tod von der Schippe gesprungen. Einen Frontalzusammenstoß von zwei Fahrzeugen bei hoher Geschwindigkeit überlebte er. Ich halte es mit dem chilenischen Psychologen, der offenbar mehr weiß. Es ist tatsächlich so: Der Junge ging gestärkt daraus hervor, selbstbewusster. Obwohl körperlich noch nicht wieder wie vorher, obwohl das nach wie vor brüchige Gedächtnis ihm die neue Ausbildung erschwert. Trotzdem ist er voller Kraft, er schaut nach vorne und lässt sich die Laune nicht verderben.

„In einem Jahr werden sie ein zufriedeneres Leben führen als vor dem Grubenunglück.“

Alles eine Sache der Einstellung?.

Spiegel online – zum Artikel

Auf einer Rückreise

Als wir heute nach einem Ausflug an der Stelle vorbeifuhren, an der mein Sohn vor einem Jahr und knapp vier Monaten verunglückte, meinte ich, das Geräusch zu hören. Es kreischte, als das andere Fahrzeug in ihn und seinen Freund raste. Dabei war es wohl eher ein Knall, doch ich hörte etwas Hohes, Grässliches, als habe ich selbst mit im Auto gesessen. Die halbe Sekunde vor dem Aufprall hakte sich fest. Was hat er gesehen, gespürt, empfunden? Man liest, dass es viel sein kann, was in diesem Moment durch den Kopf huschen kann. Er könnte realisiert haben, dass ein schwarzes Fahrzeug auf ihn zuschoss, vielleicht hörte er noch das Krachen. Erinnern kann er sich nicht. Die Bilder und Wahrnehmungen sind eingeschlossen in der Tiefe seines Bewusstseins, sie können oder sollen nicht heraus. Ich klappte die Sonnenblende herunter, mir war heiß.

Es ist schwer zu begreifen, dass es für immer Einschränkungen geben könnte im Leben meines Kindes. Er braucht Strategien, um sein Gedächtnis zu überlisten, das ihn oft im Stich lässt. Noch heute nimmt er Schmerzmittel wegen der Knochenbrüche. Anfang Zwanzig ist er, alles liegt vor ihm.

Als wir nach Hause kamen, war ich erschöpft.

In den Ring steigen …

… drei junge Männer.

Einer davon ist mein jüngster Sohn, er hat seine Schulzeit abgeschlossen. Heute beginnt er als Fahrer in einem Zentrum für körperbehinderte Menschen den Zivildienst. Ich bin so gespannt, wen und was er kennen lernen wird, welche Impulse ihn bereichern werden und ich freue mich schon jetzt auf die Gespräche mit ihm.

Zurück in die Normalität kehrt mein mittlerer Sohn. 15 Monate nach dem schweren Verkehrsunfall ist er wieder gesund genug fürs Arbeitsleben. Da er seinen früheren Beruf nicht mehr ausüben kann – er setzt körperliche Belastbarkeit voraus – startet heute eine zweite Ausbildung im kaufmännischen Bereich. Jeden Tag danke ich Gott, dass es so sein darf.

Schließlich steht auch der Sohn meines Lebenspartners vor einem neuen Anfang. Nach Universität und halbjährigem Armee-Einsatz in Afghanistan steht er vor dem ersten Arbeitstag in seinem Leben, zumindest im zivilen. In einem großen Warenhaus in Newcastle beginnt seine Tätigkeit als Management Trainee.

Soviele Ziele, soviele Hoffnungen, soviele Erwartungen wohl auch. Spannung steckt in allen dreien, eine Menge Energie und ganz viel Jungsein. Was sie sich vorgenommen haben, möge ihnen gelingen.

Immer mit der Unruhe

Unkonzentriert saß ich gestern bei der Arbeit und brachte alles durcheinander. Um meine zitternden Nerven zu beruhigen, nahm ich etwas ein, rein pflanzlich, es half ein bisschen. Ich sah auf die Uhr, gegen Mittag wollten sie ankommen, er würde mich anrufen, versprach er am Abend zuvor. Gehört hatte ich nichts. Auf dem Mobiltelefon antwortete er nicht, auf dem Festnetz zu Hause auch nicht. Halb zwei.

Vor eineinhalb Jahren hätte ich nicht wissen müssen, um welche Uhrzeit er eintreffen würde. Heute kenne ich den Flugplan sowie die geplante Zeit für die Heimfahrt, und den ganzen Vormittag hatte ich mich gewehrt gegen das, was in meinem Kopf herumturnte. Bilder mit ihm auf dem Beifahrersitz, sein Freund am Steuer, wie damals. Diesmal ein neues Auto, sicherer als der Alfa, den es nicht mehr gibt. Bilder eines anderen Fahrers, der einen Fehler macht, wie damals. Aus allen Richtungen schossen Fahrzeuge in den Schirokko mit zwei Jungs auf dem Weg nach Hause. Heute könnte der Freund nicht einmal das Lenkrad herumreißen, sein rechter Arm blieb gelähmt seit dem Unfall. Wie man in diesem Zustand sicher fahren kann ohne Automatik oder Sonstiges – es ist mir ein Rätsel.

Halb drei. Ich versuchte es wieder auf sämtlichen Telefonen. Sein Mobiltelefon war jetzt ausgeschaltet. Meine Finger trommelten auf dem Schreibtisch herum, dann rief ich meine Tochter an. Auch sie hatte kein Lebenszeichen erhalten. Die Mutter des Freundes anrufen? Wahrscheinlich war sie bei der Arbeit. Ich versuchte es trotzdem, wählte die Nummer, es klingelte lange. Dann nahm sie ab. „Die Jungs? Ja, natürlich, die sitzen bei uns, sind gut angekommen.“

Dieser Affe.

Jedenfalls ist er da, nach drei Monaten in England. Der Sprachkurs half, er kann sich wieder besser konzentrieren. Nur die Stelle im Hirn, die einst für ein paar Gedanken an die Mutter zuständig war – die scheint noch nicht wieder im Einsatz zu sein.

Ich war einmal eine Tomate

Als ich heute das Abendessen zubereitete, entdeckte ich ein weiteres Entspannungs- und Belohnungsstandbein (als Ex-Raucher braucht man das), und es ist: Abendessen zubereiten. Ich bin nämlich gerade dabei, das Kochen zu einer meditativen Tätigkeit zu entwickeln. Also werfe ich nicht einfach ein paar Tomaten in die Pfanne und rühr um, sondern ich schau mir die Tomaten erst einmal an. Ich versuche zu spüren, was sie brauchen: welche Gewürze, welche Temperatur, für wie lange sie in die Pfanne wollen und vor allem: mit wem. Ich werde praktisch zur Tomate.

Bei dieser Tätigkeit rücke ich weit weg vom Druck im Büro, von allerlei Ängsten um Kinder und Zukunft, auch die Bügelwäsche ist egal. Ich schnipple und kombiniere, koste und verliere mich in mein Werk, bis am Ende zwei duftende Teller da stehen. Man schmeckt dann nicht nur die Zutaten, sondern auch das Einsgewordensein mit den Tomaten. Oder was es eben ist.

Schmeckt die Speise fad – auch das kommt vor -, ist es mir nicht gelungen abzuschalten. Dann schenk ich mir einen Ramazotti ein.

Wie schön, dass du geboren bist…

Mein Kind hat heute Geburtstag. Es ist der zweite in seinem neu geschenkten Leben. Nimmt man das erste hinzu, so wurde mein Sohn heute Morgen um 4:35h zweiundzwanzig Jahre alt.  Mir ist klar geworden, warum man Geburtstage eigentlich feiert. Als die Menschen noch unter Hunger, Krankheiten und rauen Sitten zu leiden hatten, muss es Grund zur Freude gewesen sein, wieder ein Jahr älter und noch am Leben zu sein. Man wünschte dem Glückspilz alles Gute, damit auch der nächste Jahrestag erreicht werden möge. Kerzen wurden angezündet, um böse Geister zu vertreiben und kleine Geschenke belohnten für die Mühsal des vergangenen Jahres. So entstand die Geburtstagsfeier.

Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Es könnte aber so gewesen sein, mußmaße ich als Mutter, die nicht durch Hunger und Not, sondern zeitgemäß durch einen Verkehrsunfall beinahe ihr Kind verloren hätte. Wir haben Grund zu feiern. Von Herzen alles Gute für alle, die heute Geburtstag haben. Und für die andern auch.

So ein Tag wie heute …

… den kann man abhaken. Nicht nur dass ich arbeiten musste, am Sonntag. Im Gesundheits- oder Sonstwasdienst bin ich dabei nicht tätig, ein depperter Eilauftrag war es. Und nein, ich bin auch nicht selbständig. Allenfalls darf ich dafür mal einen Nachmittag freinehmen.

Eigentlich müsste ich fröhlich pfeifend den Tag verbringen, denn mein Kind kommt bald aus England zurück. Der Flug ist gebucht, in München wird er landen und sein Freund holt ihn ab. Ja, der Freund, mit dem er vor einem Jahr verunglückte. Der den rechten Arm praktisch nicht mehr gebrauchen kann, nur zwei Finger lassen sich gerade noch bewegen. Dieser Freund also fährt wieder Auto. Ich weiß, da werden Tests gemacht, um die Fahrtüchtigkeit zu prüfen, hat mein Sohn ja auch hinter sich, und er brauchte ein paar Anläufe, bis die Reaktionen wieder ausreichten, um ein Fahrzeug steuern zu dürfen. Sicher hat man seinen Freund auch getestet und es wurde befunden, dass auch mit zwei Fingern ein Schalthebel benutzt werden kann. Sicher ist er längere Strecken schon gefahren. Sicher ist es ein Automatik-Fahrzeug. Sicher ist … gar nichts.

Der Tag fing jedenfalls damit an, dass ich in der Zeitung Traueranzeigen las. Das mache ich meistens am Sonntagmorgen, ob morbide oder nicht – manchmal kennt man ja jemanden. Und ein ganz klein wenig – ich gebe es zu – macht es auch froh, selbst gesund und am Leben zu sein und um niemanden trauern zu müssen. Nur heute Morgen – dabei war in den Anzeigen kein bekannter Name aufgetaucht – liefen mir auf einmal Tränen herunter.

Der nette Engländer an meiner Seite hat seinen Tagesplan daraufhin spontan umdisponiert. Er verzichtete auf die Power-Rad-Tour in die Berge, schob  das karge Frühstück aus Toast und Energie-Drink weg und machte sich über eine große Schüssel Müsli her. Zusammen radelten wir dann in mein Büro (die Strecke ist flach wie ein Pfannkuchen) und er wartete, bis ich erledigt hatte, was zu erledigen war. Das war das Schönste am heutigen Tag.

Kulturunterschiede

Für drei Britische Pfund bekommt man eine wuchtige Portion Fish & Chips, die nicht schmeckt wie bei uns, sondern nach nichts. Deshalb schüttet der gelernte Engländer Salz und Essig (!) über alles, auch über die Pommes, die wie der Toast in England  daherkommen: weich und lommelig. Knusprig ist nur die Panade, die so viel Öl aufnimmt, dass einem hinterher ein bisschen schlecht werden kann. Trotz Essig, der angeblich bei der Verdauung hilft.

Wir saßen mit meinem Sohn vor einem Imbiss in der Sonne, aßen Fish & Chips und er plauderte von Freunden aus allerlei Kulturen und Ländern, die er hier fand. Von schrill aufgemachten Menschen berichtete er (Brighton ist gay), von freundlichen Busfahrern, frechen Mädchen in engen Klamotten, von seiner Mühe mit der Konzentration und von neun Fehltagen in der Sprachschule, weil er in Pubs und Clubs hängen geblieben war bis zum Morgen. Auf meine hochgezogenen Augenbrauen hin erinnerte er an die langen Monate, die er im Krankenhaus verbrachte, und dass er den Kurs um zwei Wochen verlängern werde, um das Zertifikat trotzdem zu schaffen. Am liebsten würde er hierbleiben, sagte er.

Mal sehn, was er vom Fußballspiel Deutschland gegen England am Sonntag erzählen wird! Natürlich brachten wir ihm eine deutsche Fahne mit.

Gedankengut

In mehreren Bananenschachteln lagern jetzt Bücher bei mir, ich brachte es nicht über mich, sie wegzugeben. Die Bücher gehören meiner Mutter, die in der neuen Wohnung keinen Platz mehr für sie hat. Ich stöberte ein bisschen und fand unter anderem einen Leitfaden über Heilige: wer für welche Anliegen zuständig ist und um Hilfe gebeten werden kann. Erstaunlich. Einst versuchte die christliche Kirche, den Viel-Götter-Kult von Naturreligionen auszurotten, und hier auf meinem Schreibtisch liegt „Fünfzig Helfer in der Not“. Darin fehlen noch Gott selbst, Jesus, Maria und sämtliche Engel. Nicht jede  Religion betet so viele Götter an wie wir Engel und Heilige!

Jedenfalls interessierte mich nur ein einziger Name, und ich fand ihn: Hildegard von Bingen. Bis vor einem Jahr wusste ich nur, dass sie eine Ordensfrau war, im Mittelalter lebte und sich mit Kräutern und Arzneien auskannte. Ich war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt heilig ist, aber sonst fiel mir niemand ein und ich brauchte sie dringend. Also lag ich im Geist auf den Knien vor ihr, jeden Tag und jede Nacht, damit sie die Verletzungen meines Sohnes heile. So sehr versenkte ich mich in die Gebete, dass ich Visionen zu spüren glaubte und sah, wie sie seinen Kopf streichelte, damit er nach langen Tagen erwache aus dem Koma. Und es geschah. Da bat ich ihre Hände auf seine Brust, damit er wieder alleine atmen konnte. Auch das geschah. Ich beobachtete viele Male, wie sie seine Arme, Beine, Hüfte berührte. Die Knochen wuchsen zusammen, der Junge lernte wieder zu gehen. Noch heute bete ich zur heiligen Hildegard, sie hält jetzt seinen Kopf zwischen den Händen, um die Vergesslichkeit daraus zu vertreiben. Nun werde ich mal schauen, was Anselm Grün über sie zu sagen weiß.

Es entspannt mich, in den Abendstunden Schachtel für Schachtel durchzusehen und in all den Werken zu blättern. Jedes davon birgt Impulse, Gedanken und Antworten. Sie haben mit meiner Mutter zu tun oder auch mit mir, und ich ordne sie nach „werd ich lesen“, „liest vielleicht meine Tochter“, „ oder jemand anders“, und „kommt in den Keller“. Wer auch immer sie eines Tages weggibt – ich werde es nicht sein.

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„Fünfzig Helfer in der Not“ von Anselm Grün