Schlagwort-Archive: Allerheiligen

Ruhestörung

Ein wunderschönes altes englisches Lied handelt von einem jungen Mann, der nach dem Tod seiner Geliebten nicht zu trösten ist. Täglich steht er weinend an ihrem Grab, bis sie ihm nach zwölf Monaten und einem Tag als Geist erscheint. Sie beschwert sich, dass sie bei all dem Jammern und Klagen nicht in Ruhe schlafen könne, und wer denn das sei.

Er gibt sich zu erkennen und bittet inständig um einen Kuss, doch dann ... if you should kiss my clay-cold lips … würde er sterben, antwortet sie, und ihre Herzen würden zerfallen wie vertrocknete Blumen. Sie fordert ihn auf, das Leben zu nehmen wie es ist es zu genießen, solange er es hat.

In diesem Sinn wünsche ich euch – gerade heute – einen erfüllten und mit allen Sinnen gelebten Tag.

 

Cold blows the wind upon my true love
Soft falls the gentle rain
I never had but one true love
And in Greenwood she lies slain

I’d lose much for my true love
As any young man may
I’ll sit and I’ll mourn all on your grave
For twelve months and a day

When the twelfth month and a day had passed
The ghost began to speak
„Who is it that sits all on my grave
And will not let me sleep?“

„‚Tis I, ‚tis I, thine own true love
That sits all on your grave
I ask of one kiss from your sweet lips
And that is all that I crave“

„My lips, they are as clay, my love
My breath is earthy strong
And if you should kiss my clay-cold lips
Your time, ‚twould not be long“

„Look down in the yonder garden fair
Love, where we used to walk
The fairest flower that ever bloomed
Has withered and too the stalk“

„The stalk, it has withered and dried, my love
So will our hearts decay
So make yourself content, my love
‚Til death calls you away“

Die Allee

Wenn ich einmal durch diesen Tunnel gehe, dann soll er so sein wie diese Allee. Die Kronen der Baumreihen schließen sich über mir, Licht fließt durch das Laub, auf den Feldern liegt dicker Wildkräuterflaum. Es riecht wie nach einem Regenschauer.

Wenn ich durch diese Allee gehe, sind auch andere Menschen unterwegs: zu Fuß oder mit dem Rad machen sie sich auf den Heimweg nach einem langen Tag. Ich bin nicht allein, und das ist gut. Weiter vorne, am Ende der Allee, wird es hell. Vielleicht wartet dort jemand, doch das ist nicht wichtig. Ich setze einen Schritt vor den andern, höre die Vögel singen, es ist ein warmer Tag.

So träume ich manchmal, wenn ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause durch diese lange Allee radle. An ihrem Ende befindet sich ein kleiner Friedhof. Neulich standen wieder Menschen an einem offenen Grab, die Sonne schien ihnen auf die Schultern.

 

 

Es lebt

Auf dem Grab meiner Mutter ist eine Steinplatte vorgesehen. Ich habe auch schon organisiert, wer sie anfertigen wird, es ist alles besprochen. Mit einer solchen Platte ist das Grab immer aufgeräumt, man braucht nur im Herbst gelegentlich die Blätter abkehren, fertig.

Aber nun sind die Blumen noch da. Meine Mutter ging vor fünf Monaten, und die Pflanzschalen blühen immer noch, als gäbe es kein Morgen. Das Grab wächst und lebt. Ich lasse jetzt noch keine Steinplatte darauf legen.

Grab

Allerheiligen

Auf ihrem Grab wächst Immergrün. Ich zupfe Eichenblätter heraus und trage sie zum Kompost, reiße ein paar Unkräutlein aus der Erde. Währenddessen wollen keine Grüße mein Diesseits verlassen, keine Erinnerungen meine Großmutter erreichen, kein kurzes Erzählen, was neu ist bei uns. Nur ihr zerfurchtes Gesicht erwische ich, und den Blick darin. Das Leben presste sie zu Stein, wie der auf dem Grab. Wie misstrauisch sie war. Sie lächelte selten und als dürfe sie es nicht, schon zu Lebzeiten befand sie sich weit weg.  Da ist nichts, was sie mir sagen will, wenn ich an sie denke. In all den Jahren fiel mir das nicht auf, aber heute. Besser ich störe nicht. Ich stelle den Topf mit den Herbstblumen ab und verschwinde.