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Kardamena City

Wer seine englischen Sprachkenntnisse auffrischen will, sollte nach Griechenland reisen. Genauer gesagt nach Kardamena auf der Insel Kos. Wer hier am Strand steht und aufs Meer hinausblickt, sieht in der Ferne die türkische Küste schimmern. Wer sich dann umdreht, sieht aneinandergereihte Strandbars mit Schildern, auf denen „10PM Bingo – Midnight Quiz“, Greg’s Place“, The Galleon Inn“ und dergleichen steht.

In den Restaurants erwarten den Touristen neben ein paar traditionellen griechischen Gerichten vor allem Pasta, Pizza und Fleischgerichte wie Roastbeef und Ähnliches. An den Nebentischen wie auch tagsüber am Strand lassen sich die zum Teil vernehmlich geführten Konversationen in bestem Manchester/Lancashire-Akzent mühelos mitverfolgen und man erfährt ein wenig aus dem Leben der Beteiligten (ob man will oder nicht). Mit anderen Worten: Der Ort ist fest in britischer Hand.

Neben den akustischen Eindrücken ist auch eine beeindruckende Optik zu bestaunen. Zum einen haben die Damen und Herren aus dem Vereinigten Königreich mitunter erheblich mehr an Körperfülle aufzubieten als hierzulande, zum andern muss der häufig zu besichtigende Körperschmuck erwähnt werden. Es ist immer interessant, was Menschen in anderen Ländern oder Kulturkreisen schön finden, und bei diesen sind es Tattoos, für die in der Regel auch genug Fläche zur Verfügung steht. Deshalb sind Arme, Beine, Brustkörbe und Rücken üppig mit Bildern und Ornamenten ausgestattet, und zwar auch bei Älteren. Und bei Frauen. Und älteren Frauen.

 

Kardamena-Pub

Kardamena-Tafeln

Kardamena_Bar2

Das Nachtgetränk (Urlaubsnachlese)

In ein Trinkglas wird eine kleine Menge Ouzo gegossen, mit Eiswürfeln aufgefüllt, dann kommt Wasser darüber. Das Getränk wird dann milchweiß und schmeckt wie Ouzo mit Eiswürfeln und Wasser: erfrischend, mit leichtem Anisgeschmack. Kostet zweifünfzig in einer der Strandbars von Kardamena auf der griechischen Insel Kos und man kann ohne Weiteres jeden Abend zwei bis drei davon trinken. Vorausgesetzt, man macht das nicht über längere Zeit und hat zuvor für eine gute Grundlage gesorgt. Diese besteht zum Beispiel aus Pita, Tsaitsiki, Oliven, Mousaka, Souflaki, Kalamares und so weiter. Der Tag sollte nach ausreichendem Schlaf begonnen haben und auf einer sonnenbeschirmten Strandliege fortgeführt worden sein, die nur von Zeit zu Zeit verlassen wurde, um im etwa 27 Grad warmen, kristallklaren Meer ein wenig hinauszuschwimmen, aber nicht zu weit.

Unter diesen Voraussetzungen also schmeckt Ouzo zur späteren Stunde am besten und bleibt ohne peinliche Nebenwirkungen, ich habs getestet.

Yamas!

Kardamena-Strand

Abendprogramm

Es sind immer Leute da. Das Schlafzimmerfenster geht zur Straße hin und wenn ich abends früh im Bett liege, höre ich draußen Frauen. Sie stehen auf dem Hof der Mietshäuser gegenüber herum und plaudern, vereinzelt dringen Sprachfetzen herein, Kinder spielen auf Gehwegen, junge Männer rufen „Geil!“ oder sowas, es werden Fußballlieder gegrölt.

Auch im Haus drinnen höre ich Menschen. Wenn jemand im Treppenhaus die Stufen hochsteigt, kann ich zumindest vom Schlafzimmer aus beurteilen, ob die Person jung ist oder jedenfalls gesund und fit, oder ob sie schon älter ist oder zuviel Gewicht mitschleppt, oder ob sie einfach müde ist. Manchmmal denke ich mir zu diesen Treppenschritten Geschichten aus. Zum Beispiel die einer jungen Frau, die eben noch einmal in den zweiten Stock springt, weil sie ihre Geldbörse vergessen hat, während unten ihre Freunde warten, gleich werden sie zusammen in die Stadt gehen und feiern. Sonst merke ich die Nachbarn kaum.

Irgendwann schwärmen die Krähen aus. In dunklen Wolken kommen sie jeden Abend aus einem kleinen Wäldchen in der Nähe und kreisen lärmend um die Häuser. Man möchte meinen, Hitchcocks „Vögel“ wären real geworden, doch greifen sie niemanden an und ich stelle mir vor, dass sie sich über die Geschehnisse des Tages unterhalten wie die Menschenfrauen unten auf dem Hof. Sobald es dunkel ist, verschwinden sie wieder.

Ich blättere eine Seite in meinem Buch um und denke: „In dieser Wohnung werde ich kein Fernsehgerät kaufen.“

Der Brüller

Deutschland gegen Portugal. Der geliebte Brite steht in der Küche und belegt eine Pizza, Hummels schießt das 2:0. Ich werfe die Arme hoch, schreie „Hurraaah!“, und dann ist der Ton weg. Nicht meine Stimme, die funktioniert tadellos, es ist der Fernseher. Das nagelneue Monstergerät, 55 Zoll, dieses Fußballspiel ist das Erste, was wir damit anschauen.

Ich starre auf Spieler mit aufgerissenen Mündern, die einander stumm in die Arme fallen.

„Komm mal“, brülle ich zur Küche. Ein Menü klappt jetzt im oberen Bereich des Bildschirms auf, daneben erscheint ein Symbol: „Speak now“. Der Klasse-Treffer wird in Zeitlupe wiederholt, der Brite schlappt gefühlt im selben Tempo ins Wohnzimmer. Er murmelt etwas von Sprachkommandos, möglicherweise auch Bewegungskommandos, ratlos streicht er sich über das Kinn. Ich suche auf der Fernbedienung hektisch nach dem Lautsprecherknopf. Keiner da.

Schäumend hüpfe ich auf dem Sofa herum wie Rumpelstilzchen, immer weitere Menüs klappen auf, „Select“ dies und „Select“ jenes. Das Spiel geht weiter und der Brite in seiner unendlichen Weisheit mutmaßt, man sollte bestimmte Begriffe nicht sagen. Oder nicht mit den Armen wedeln. „Ich will aber keinen Fernseher, bei dem man bestimmte Dinge nicht sagen oder tun darf!“ donnere ich.

Dann entdecke ich die Return-Taste, wenigstens das hat die Fernbedienung. Tatsächlich. Jetzt gehts wieder.

Der geliebte Brite muss versprechen, alle Arten von nutzlosen Kommandos bald zu deaktivieren, und ich formuliere meine Begeisterung von nun an dezenter. Die nächsten zwei Tore verlaufen dann auch komplikationslos. Was für ein Spiel!

Nackenfrei

Am Bahnhof steht eine kleine Gruppe junger Leute locker um einen Rollstuhl herum. In ihm sitzt ein etwa 14jähriger Junge, sein Kopf ist weit zur Seite verrenkt und der Nacken glänzt weich, glatt und weiß in der Sonne. Am liebsten würde ich drüber streicheln, wie ich unzählige Male über die Nacken meiner Kinder gestreichelt habe. Jetzt entdeckt der Junge einen Hebel an seinem Rollstuhl und beginnt, vor und zurückzufahren, vor und zurück, auf die Straße zu. Ein junger Mann tritt hinter ihn und hält den Rollstuhl fest, sagt etwas.

Der Junge beugt den Kopf jetzt noch tiefer, ein Mädchen fasst ihn unter dem Kinn und hebt sein Gesicht nach oben. Ich starre immer noch auf diesen Nacken, der so angreifbar ist. Der Mensch braucht einen andern, der hinter ihm steht, der ihn aufrichtet, wenn er es braucht. Aber das gilt natürlich nicht nur für Menschen mit Behinderungen.

Das Mädchen hält dem Jungen jetzt ihr Handy vor die Nase und zeigt auf das Display. Er lacht, ein kehliges, kindliches Lachen, er hört gar nicht mehr auf damit, bis sein ganzer Körper zittert. Die andern lachen mit. Vielleicht hat der Junge ziemliches Glück.

Innenarchitektur

Die Eine mag leichte Möbel, der Andere schwere. Die Eine braucht wenig Dinge, der Andere viel. Die Eine schläft mit den Lichtspielen der Nacht, der Andere braucht Dunkelheit.

Als die Eine zum Andern kam, fand sie sich inmitten von Vorräten und Zeug. Sie saß auf verchromten Stühlen an einem massiven Tisch, und sie schlief im Finstern wie in einer Schachtel.

Eine Spinne geht nicht auf Abenteuerreisen und ein Schmetterling baut kein Nest. Die Natur eines Wesens ändert sich nicht, und für manche Paare sind zwei Wohnstätten besser als eine.

Endlich wieder

Endlich sitzt man wieder da.
Man hat sich durchgerungen
trotz des Dringenden,
das laut zu rufen schien.

Man hat die Tür hinter sich zugemacht
und sitzt wieder da.
Die Kerze hat man angezündet
und man hat sich verneigt.

Man hat sich hingesetzt
und die Kleidungsfalte
sorgfältig zurechtgestrichen.

Die Hände hat man ineinander gelegt.
Daumen berühren sich.
Die Augen halb geschlossen.

Jetzt sitzt man endlich wieder da.
Sitzt da.
Jetzt.
Da.

(Silvia Ostertag)

Erneuerungen

Ein Brite ist kein Deutscher. Was angefangen wird, muss nicht zackig zu Ende gebracht werden. Die schlecht verlegte Holzdecke im Badezimmer zum Beispiel war schnell heruntergerissen. Die Strahler hingen erbarmungswürdig an ihren Kabeln von den Holzverstrebungen herunter, darüber entblößte sich nackter Beton. Doch dann verbrachte der geliebte Brite zwei Wochen lang mit Ausmessen, dem Anfertigen von Zeichnungen, mehreren Gängen zum Baumarkt und anderen Dingen.

Dann schritt er zur Tat und schleppte zwei lange Pakete mit Holzpaneelen nach Hause. Es muss sich um einen unmittelbar zuvor geschlagenen und zugeschnittenen Baum gehandelt haben, denn die Latten lagerten weitere drei Wochen in unserem Hausgang. Der Brite beschäftigte sich wieder mit Messungen, Zeichnungen, Nachdenken und anderen Dingen.

Ich hatte die baumelnden Badezimmerleuchten fast schon lieb gewonnen, da begann er zu sägen. Im Hausgang, aufgebockt auf zwei Ikea-Hockern, die neben meinen Schreibtisch gehören und mein Arbeitszeug liegt jetzt auf dem Fußboden verstreut. Immerhin brachte er nun eine Latte nach der andern auf die richtige Länge, schraubte sie an der Badezimmerdecke fest und hakte sie in kleine Metallclips ein. Mit einem lustigen Bohraufsatz sägte er mehrere kreisrunde Öffnungen in die Latten, da kamen später die Strahler hinein.

Man kann sagen was man will, alles geht schneller und besser, denkt man ja, aber als ich ihn gelegentlich breitbeinig auf der Badewanne stehen sah, den Akku-Schraubenzieher in der Hand, das Hemd locker über den Jeans, schlank, drahtig, feinen Bohrstaub in den immer noch dichten Haaren und die Ruhe in ihm, da fiel mir dieser Pepsi-Kerl aus der Werbung ein. Die Anziehungskraft des Mannes hier mit seinen ü60 kann mühelos mithalten, dachte ich. Ob das eines Tages eine Frau über den Pepsi-Jungen denkt, weiß noch niemand.

Inzwischen sitzen fast alle Paneelen an ihrem Platz und die neuen Strahler in ihren Fassungen. Die LEDs haben eine Leuchtkraft, dass man abends beim Betreten des Badezimmers eine Sonnenbrille braucht. Ich glaube, er hat zu viele angebracht, sage aber nichts. Die Decke ist schön geworden. Und hektisch wars auch nicht.

Eingeschnitten

Vor kurzem trieb sich der Liebste beim Seeputzen des Angelvereins einen Schilfspan unter den Fingernagel. Zwei Tage später quetschte er einen anderen Finger beim Aufbau eines Stahlregals. Tags darauf stach ich mir den Ohrstecker in den Daumen, den ich aus dem Ohrläppchen meiner Mutter befreien wollte. Eine Stunde danach bohrte sich eine Scherbe in meine Fingerkuppe beim Versuch, ein zerbrochenes Weinglas in den Glascontainer zu werfen. Am nächsten Tag war es eine Fischdose, die ich ungeschickt öffnete und die einen weiteren Finger anritzte, wenige Stunden danach die Folie eines Frischkäsebechers.

Nicht dass wir generell Probleme mit der Feinmotorik hätten. Wir überstehen ohne weiteres auch längere Zeiträume unlädiert. Doch hier sitzen wir nun mit unseren Verletzungen. Die Esoterik kennt energetische Verwerfungen, aufgrund derer bestimmte Ereignisse geradezu gezwungen sind stattzufinden. Mit sechs verwundeten Fingern in wenigen Tagen tendiere ich dazu, solchen Interpretationen Raum zu geben. Aber welche Energien wären hier am Werk? Fehlt es uns an Fingerspitzengefühl?

Ausgeschlossen

Ich sitze am Schreibtisch, schiebe Elemente in einer Indesign-Datei hin und her, mein Handy fiept. Eine SMS vom geliebten Briten. „Stehe vor der Wohnungstür, Schlüssel drin. Muss aufs Klo.“ Damit es nicht zu einfach ist, findet in einer Stunde ein wichtiger Termin statt, bei dem er anwesend sein muss und die Unterlagen dazu liegen im Arbeitszimmer.

Ich rufe meinen Sohn an. Er hat einen Schlüssel und ist zum Glück diese Woche bei seinem Vater, nur eine Straße weiter. Am Telefon teilt er mir jedoch mit, dass er gerade nach Stuttgart zurückgefahren ist. Und damit nicht genug.

Als der Sohn in Stuttgart seine Wohnungstür öffnen will, stellt er fest, dass er den Schlüssel bei seinem Vater vergessen hat.

Der geliebte Brite hat immerhin noch den Autoschlüssel, sodass er zu meiner Arbeitsstelle kommen und meinen Schlüssel holen kann. Toiletten haben wir hier auch. Der Sohn dagegen braucht den Schlüsseldienst. Und beides ereignete sich heute morgen, zwischen zehn und elf.

Kann das noch Zufall sein?

Karfreitag in Griechenland

Heute möchte ich mal von Ammoniakgebäck und einem gemütlichen Abend in Griechenland erzählen. Am Karfreitag werden dort also  traditionell kleine Kringel gebacken, die tatsächlich mit Ammoniak zubereitet werden, damit sie schön aufgehen. Man kann auch Haarfärbemittel damit herstellen (aus Ammoniak, nicht aus den Kringeln) und da Griechenland nicht entvölkert ist, wissen wir jetzt, dass man Ammoniak essen kann.

Wenn diese „Kulurakia“ verspeist oder an die Nachbarn verteilt worden sind und man weiß nicht, was anfangen am Abend, dann schaut man spontan bei einem Freund vorbei. Wie es dort zugeht, seht ihr hier, vor zwei Tagen aufgenommen:

 

 

Woher ich das alles weiß? Die Tochter lebt gerade in Samos, einer griechischen Insel nahe der türkischen Grenze. Wer mehr über das Leben dort wissen will, erfährts hier: http://marissasamos.wordpress.com/

Aber egal ob griechisch, deutsch, schweizerisch oder schwäbisch:

Ich wünsche euch allen ein scheenes Ooschderfeschd!

 

Begegnung am Nachmittag

Ich fahre in die Seniorenanlage am Ort, um meiner Mutter die Einkäufe zu bringen. Vor mir fährt ein Ford, der jetzt nach links abbiegt und ich folge ihm langsam. Ein Audi kommt entgegen und der Ford hält an, da die Straße schmal ist. Zu schmal für das Augenmaß des Fordfahrers, das Fahrzeug setzt zurück. Setzt zurück und setzt zurück, ich sehe, was kommt und schlage auf die Hupe.

Es hupt aber nicht. Das kommt daher, dass ich nicht weiß, wo die Hupe ist. Also, ich weiß, wo an meinem alten Auto die Hupe ist, aber seit einer Woche fahre ich ein anderes. In diesem bleibt mein Herumhämmern auf der Mittelscheibe des Lenkrads wirkungslos und es beginnt diese Zehntelsekunde, in die so viel hineinpasst. Ich weiß was geschehen wird, dass ich nichts dagegen tun kann, spüre Hilflosigkeit im oberen Magendrittel und überlege, ob ich die Reparatur in Werkstätte A oder B machen lassen soll – es gibt zwei, die in Frage kommen – , wie viel Zeit das kosten wird und dass ich die Übersetzungen dann abends machen muss, um nicht in Verzug zu kommen. Nach diesem ausgefüllten Augenblick schrammt der Ford in meine Fahrertür.

Eine Frau steigt aus, ich mache Bilder, wir tauschen Daten aus. Ein Versicherungsfall, nichts Schlimmes. Wir plaudern noch ein paar Minuten und es stellt sich heraus, dass die Verursacherin meine Mutter kennt. Ich soll ihr schöne Grüße ausrichten. Mach ich.

 

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Anders–artig

Ich verlasse den Drogeriemarkt und eile zurück zum Auto. Vor mir schreitet ein jüngerer Mann, an dem ich nicht ohne weiteres vorbei komme, weil noch mehr Passanten unterwegs sind. Ich tripple vor seinem mächtigen Rücken hin und her wie ein Fußballspieler, blicke auf den bulligen Nacken und sein kurz geschorenes Haar, die ganze Gestalt ist groß, breit, ein Kerl wie eine Maschine. Mit abgespreizten Armen und gemessenem Schritt steuert er auf ein seitlich gelegenes Gebäude zu. Er trägt eine knarrende Motorradjacke und kurze Armeehosen, es hat etwa 9 Grad Außentemperatur. Ich starre seinen beeindruckenden Waden hinterher, die nicht nur ihrer Größe wegen den Blick auf sich ziehen, sondern auch wegen mehrerer Tattoos. Einen Moment lang vergesse ich meinen Termin bei der Steuerberaterin und dass ich zu spät dran bin. Ich schaue dem Mann hinterher, der jetzt gelassen auf das Gebäude zugeht, einen Umschlag in den Briefkasten wirft und und weggeht. Es ist das Finanzamt.

Ein wenig hatte ich erwartet, dass einer wie er vorher ein paar Steine in die Glasfront wirft, oder wenigstens flucht oder vor der Eingangstür ausspuckt.

Kochfrosch

Wird ein Frosch in einen Topf mit heißem Wasser geworfen, hüpft er erschreckt wieder heraus. Setzt man ihn jedoch in einen Topf mit kaltem Wasser und erhitzt dieses langsam immer mehr, dann bleibt der Frosch sitzen. Bis er tot ist.

Das Beispiel wird in Managementseminaren u.ä. gerne verwendet, denn Menschen verhalten sich in Krisen wie Frösche, und nicht nur in Unternehmen: Wenn bestimmte Lebensumstände sich nicht allmählich entwickeln würden, sondern von jetzt auf nachher – ob man nicht manchmal erschreckt davon springen würde, während man sich ans Aufgekochtwerden gewöhnt hat?

Kulturaspekte

Wir treten in einen Raum, in dem mehrere Sofas und Ohrensessel mit geschwungenen Armlehnen und dicken Polstern zu kleinen Gruppen angeordnet sind. Blumenbilder und Holztäfelungen schmücken die magnoliengelb gestrichenen Wände, schwere Satinvorhänge rahmen die Fensterfront und ein weicher Teppich dämpft jedes Geräusch. Es klingt hier wie an einem Wintertag, wenn es frisch geschneit hat. Auf einem Servierwagen aus Messing steht ein Geburtstagskuchen mit neun Kerzen.

In einer der Polstergruppen hat sich eine Abordnung betagter, hübsch gemachter Damen niedergelassen und plaudert lebhaft. Gleich betritt Inspector Barnaby den Raum und lässt sich von ihnen an der Nase herumführen, möchte man meinen. Aber wir sind nicht im Film. Wir befinden uns in einer Einrichtung für betreutes Wohnen in Liverpool, meine Schwieger-Mum wird heute Neunzig. Umgeben von ihren Freundinnen sitzt sie im schneeweißen Strickwestchen um die schmalen Schultern auf einem mächtigen Sofa und ihre Augen leuchten: Besuch aus Deutschland.

Wir nehmen Platz, bringen Geschenke, die Geburtstagskarte wird herumgereicht, die Ladies betrachten uns interessiert. Nach einer Weile steht eine nach der andern auf, greift nach ihrem Gehstock aus verziertem Holz, dann wackeln sie gemeinsam zur Tür hinaus.

Es sind die Details. Ich denke an die Einrichtung, in der meine eigene Mutter lebt: Weiß getüncht, verglast, verchromt, Sitzmöbel mit Kunstlederbezügen, PVC. Die Begegnungsräume sind nicht unfreundlich, es gibt auch Blumen und kleine Dekorationen, alles perfekt gestaltet, effizient verwaltet und ich denke, während sich neben mir das Geburtstagskind und ihr Sohn unterhalten: Wenn ich in diesem Alter bin, dann möchte ich lieber hier sein als in Deutschland.

Zeitspannen

Ich wundere mich immer wieder darüber, wie viel in die halbe Sekunde zwischen halb und ganz Aufwachen passt. Da haben Geschichten Platz, Ängste, Träume, ich weiß nicht wie das Gehirn das macht. Vor ein paar Tagen zum Beispiel reisten wir nach England. Ich war unterwegs eingenickt und wachte auf, weil es ein wenig rummste und ich kurz hochgehoben wurde. In dem Moment zwischen Schlafen und Wachsein realisierte ich, dass das Flugzeug aufgesetzt hat, dass wir uns bereits auf dem Rollfeld befinden, dass ich zum ersten Mal vor der Landung eingeschlafen war und den Anflug verpasst hatte: das Fallen des Fliegers in kleinen Etappen, die Ungewissheit und Zweifel, ob es gut gehen wird, das Krallen im Bauch und das enge Herz. So geübt bin ich also, dachte ich am Ende der halben Sekunde nicht ohne Stolz: Die Panik ist beherrschbar, ich bin vor der Landung eingenickt.

Das alles passte in einen einzigen Augenblick. Dann war er vorbei, ich schlug die Augen auf und saß nicht im Flugzeug, sondern im Auto. Der geliebte Brite neben mir war gerade über eine Bodenwelle gefahren im Baustellenbereich, wir befanden uns noch auf dem Weg zum Flughafen.

Kinder erstellen

Kinder machen in der Generation Facebook:

Gebärmutter anklicken,
Baby downloaden.

Auch das wird noch erfunden werden, doch bis dahin kostet die Installation des Nachwuchsprogramms weiterhin Zeit, Arbeit, Nerven und Geld. Ich weiß, wovon ich rede.

Mein Kind wird heute 30.

Eins vorneweg: Eine 3 mit 0 ist auf jeden Fall besser als eine 3 ohne 0: Das Kind schläft durch, es lügt/stiehlt/schlägt nicht mehr, es hat einen Schulabschluss, es hat einen Universitätsabschluss, eine Arbeitsstelle, Menschen an seiner Seite.

Warum also meine Sorgen in früheren Lebensphasen? Was befürchtete ich denn? Wozu die Aufregung, wenn das Kind etwas anderes tat als ich für richtig hielt?

Es war nicht alles einfach, und doch möchte ich das Kind nicht downgeloadet, nicht mit einem Setup-Assistenten komfortabel zum Laufen gebracht haben. Ich will die Befürchtungen, die Krisen gehabt haben, denn ich will mit dem Kind zusammen gelaufen sein. Manches würde ich heute anders machen, ich hatte nicht immer Recht. Doch ich kann nichts mehr tun, als das Kind zu lieben, wie ich es immer getan habe. Heute danke ich Gott für dieses und meine anderen Kinder, für den Reichtum, den er mir als Mutter geschenkt hat.

Vom richtigen Gespür

Jemand erzählte mir neulich die wahre Geschichte einer Katze, die nicht nur über sieben Leben, sondern auch über sieben Antennen verfügte. Noch heute ärgert er sich, wenn er an sie denkt. Es begann wie unzählige Geschichten mit Kindern, die sich ein kleines süßes Schmusekätzchen wünschen. Mein Bekannter wusste aber, wer dann für Futter, Tierarzt und Katzenklo zuständig sein würde, und sagte Nein.

Die Kinder hörten indes nicht auf zu bitten und zu flehen, und als alles nichts nützte, brachten sie eines Tages ein Katzenjunges vom Nachbarn, wo es zu ungewolltem Nachwuchs gekommen war. Ob man es eine Weile behalten dürfe, bettelten sie, nur ein halbes Jahr. Das kleine Pelzknäuel maunzte leise und blickte meinen Bekannten mit großen Augen an als wolle es sagen: So herzlos kannst du nicht sein, dass du mich zu Leuten zurückschickst, die mich loswerden müssen. Man einigte sich auf vier Wochen, bis der Nachbar einen Platz gefunden hat, wo es bleiben kann.

Fortan schlich das Kätzchen meinem Bekannten um die Beine, schnurrte, wenn er es auf seinen Schoß hob, rieb behaglich das Köpfchen in seine Armbeuge, wenn er am Abend auf dem Sofa saß, ließ sich die Samtpfötchen kraulen. Eine bezaubernde Liebschaft entstand. Mein Bekannter mochte sich ein Leben ohne Miezchen bald nicht mehr vorstellen und sagte den Kindern, es dürfe bleiben.

Von diesem Tag an begab sich die Katze wieder auf ihre eigenen Wege. Vorbei wars mit den Kuschelstunden. Streicheln ließ sie sich nur dann und wann und meist nicht von ihm. Wenn er sie zu fassen versuchte, fauchte sie und krallte, und was meinem Bekannten blieb, war die Zuständigkeit für Futter, Tierarzt und Katzenklo.

Zuwendung entsteht schon immer fast wie von selbst, wenn ein Ziel im Hintergrund steht. Das ist nicht nur bei Katzen so.

MySchneeglöckchen

Ich hab die ersten Schneeglöckchen entdeckt. Im Supermarkt. Sie hatten sich sicher was anderes ausgedacht als in einem Stahlregal zur Welt zu kommen, aber es gehört zum Wesen jeder Geburt, nicht zu wissen wohin man kommt. Einer Schneeglöckchenzwiebel geht es nicht anders und sie wird sicher unruhig, wenn sie den jährlichen Trieb nach oben schickt. Sie weiß ja nicht, was über ihr ist, man sieht doch nix. Was in diesem Jahr ein flauschiges Gärtner-Beet ist, kann im nächsten ein Plastiktopf bei Netto sein. Oder die Zwiebel hat schon viele Frühlinge gesehen, aber niemand hat sie aus dem Schatten neben dem Parkplatz geholt.

Zerschrumpelt ist sie auch schon, ob das noch zum Blühen reicht? Sie könnte sich in ihre kleine Erdblase schmiegen und nichts wachsen lassen. Sie könnte beschaulichen Zwiebelträumen nachhängen und kein Kinderfuß fetzte ihr Laub nieder, keine Mauer stünde im Licht. Wenn es dort oben nur Frühlingswärme, Himmelblau und Bienengesumm gäbe, ja, das wäre etwas anderes. Aber man weiß nicht, was kommt.

Wenn ich eine Schneeglöckchenzwiebel wäre, ich glaube – ich würde es trotzdem wagen. Ich würde treiben. Schräg zur Sonne hin. Mut ist, wenn man’s trotzdem macht, ich würde südliche Knollen bilden. Ich wäre eine Wanderzwiebel.

Zeitzonen

Sonntagmorgen, ich stehe unter der Dusche, heißes Wasser läuft an mir herunter und ich mache mir Gedanken über die Zukunft. Das liegt nicht an der Dusche, sondern an meinen Zehennägeln.

Ich angle nach dem Handtuch und beginne mich trocken zu frottieren, die Füße sind als Letztes dran. Ich rubble über die großen Zehen, die seit der letzten Bergwanderung bräunlich-violett schimmern. Bei strengem Abwärtsmarschieren bilden sich bei mir immer Blutergüsse unter den Zehennägeln und es dauert jedes Mal Monate, bis sie herausgewachsen sind.

Ich versuche mir dann auszumalen, wie mein Leben sein mag, wenn ich das letzte verfärbte Stückchen abknipse. Im April oder Mai werden meine Zehen wieder rosig aussehen. Mein Leben auch? Oder wünsche ich mir etwas anders? Unglück an sich ist ja nichts Schlimmes. Ohne Unglück keine Veränderung, ohne Veränderung kein Wachsen.

Aber die Zeit vergeht ja so schnell. Plötzlich ist es nicht mehr Januar, sondern Juni, dann auf einmal September und aus dem Blauen heraus Weihnachten. Ohne dass etwas passiert ist? Wenn man etwas haben will, was man bisher nicht hat, muss man etwas tun, was man bisher nicht getan hat. Und zwar bevor der Zehennagel herausgewachsen ist.