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Liebe ältere Menschen, ich hab nichts gegen euch!

Ich bin ja selbst ein älterer Mensch, und es macht mir nichts aus.

Dachte ich.

Eigentlich wollte ich hier nur das Sommerloch stopfen und ein kleines Rätsel posten. Tippte das also in die Suchmaschine ein und als Erstes erschien: „Sommerrätsel für Senioren und Demenzkranke“. Das nicht, war mein erster Impuls.

Es folgten Rätsel für Kinder (unter fünf verschlungenen Wegen den richtigen erkennen, der zum Strand führt), das Sommerpreisrätsel einer Tageszeitung (ein Kreuzworträtsel) und mehr Denksportaufgaben für Menschen im höheren Lebensalter.

Nein, dachte ich wieder, keine Seniorenrätsel. Womöglich spricht es mich an und dann habe ich es schriftlich: Ich bin die Zielgruppe. Alt. Oder gar dement. Es gibt Dinge, die will man nicht wissen und so war ich ratlos.

Ich meine – ich hab nichts gegen ältere Menschen. In den Jahren, als ich mich um meine Mutter kümmerte, habe ich eindrucksvolle Persönlichkeiten kennengelernt und ins Herz geschlossen, alle zwischen 90 und 100 Jahre alt. Ich verstehe meinen Widerwillen selbst nicht recht.

Na gut.

Hier mein Sommerrätsel:

Es handelt sich um ein Anagramm, d.h. Buchstaben müssen richtig geordnet werden.
Zum Beispiel STAPELEFACH —> APFELTASCHE

Jetzt die Aufgabe: Was verbirgt sich hinter ARSCHBROT?

Die Lösung findet ihr unter https://www.seniorenfreundlich.de/raetsel-quiz.html
(man muss etwas nach unten scrollen)

Eine Menge witziger Rätsel wie z.B.
„Schreibt man „nämlich“ mit H?“ (Ja, nämlich mit einem H am Ende!)
gibt es hier:
https://www.seniorenfreundlich.de/pisa-test.html

Bildquelle: https://pixabay.com/

Ist es für euch ein Unterschied zu wissen, dass es sich um Seniorenrätsel handelt?

Huiiii!

Wenn man beim Schwimmen die Köpfe älterer Menschen an sich vorbeiflitzen sieht, dann befindet man sich im Thermalbad eines Kurorts am Strömungskanal. Sind sie nicht schön? Mir gefallen die gelösten und vergnügten Gesichter der Seniorinnen und Senioren: Sich noch einmal mitreißen lassen, davontreiben – was für ein Spaß! Es macht gar nichts, dass das Ziel bekannt ist und es überhaupt nur im Kreis herum geht. Die kleine Illusion gelingt dennoch, und vielleicht erinnert es die Eine oder den Andern an Zeiten, als sie dieses Gefühl tatsächlich erlebten.

 

 

Älter = schöner

Die Friseurin hat meine Haare zu kurz geschnitten. Vor allem der Pony ist missraten, lässt viel zuviel von meiner hohen Stirn frei. Ich seh aus wie ein Mann. Den Blick in den Spiegel erspare ich mir vorerst, ansonsten bemühe ich mich aber wenig, den Schaden zu mildern. Die Haare wachsen wieder nach und bis dahin sehe ich eben so aus. Bin ich altersgelassen geworden, oder höre ich auf, Frau zu sein?

Ich versuche, mich auch mit über fünfzig Jahren hübsch anzuziehen und schminke mich ein bisschen. Aber muss ich mein Aussehen noch trickreich stylen? Muss ich die latesten Fashion Trends tragen? Kann ich mich nur dann wohlfühlen, wenn die Frisur perfekt sitzt? Ach was. Ich muss nicht mehr mit den Wimpern klimpern, ist das schön. Ich behaupte sogar: Ist das sexy! Menschen, die mit sich selbst zufrieden sind, authentisch wirken und noch ein vergnügtes Lachen hinbekommen, ernten immer den einen oder anderen Blick. Und wenn nicht – auch egal. Ich liebe meine Familie, meinen Briten, meine Arbeit, meine Hobbies. Das reicht. Und mein Gesicht passt zu mir, es ist ja schließlich meins. Ob mit langem oder kurzem Pony.

Vielleicht muss man älter werden, um das zu erkennen.

Zu diesem Text inspirierte mich eine Blogparade von Frau Quadratmeter zum Thema “Älter werden”, die längst beendet ist. Aber was ist schon ein Datum?  😉

Männerinstinkt

Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs und sehe von weitem einen alten Mann. Er sitzt in der Spätherbstsonne auf einer Parkbank. Der Mann hat die Ellbogen lässig auf seinen Rollator gestützt und schaut in meine Richtung. Als ich näher komme, hebt er langsam eine Hand zum Mund. Ich überlege noch, was er da macht, weil er mich so ungeniert anstarrt. Als ich fast auf seiner Höhe bin, schiebt er sich zwei Finger zwischen die Zähne und gerade als ich an ihm vorbeigeradelt bin, ertönen zwei kurze, schwingende Pfiffe. Hab ich das eben wirklich gehört? Pfeift der mir hinterher? Ich wende mich um, er starrt mir mit eingefrorenem Grinsen nach und ich falle fast vom Rad. Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht – dass mir auf meine alten Tage noch jemand nachpfeift oder wie der Alte das überhaupt hingekriegt hat. Dem eingefallenen Mund nach zu schließen hat er nämlich gar keine Zähne mehr.

Besuch bei der alten Dame

Neulich in Liverpool bei der Mom des geliebten Briten: Wir wissen nicht mehr, was wir mit ihr reden sollen, sie kann keine einzige Frage beantworten. Nicht einmal, was es vor einer halben Stunde zum Lunch gegeben hat. Immer wieder schaut sie sich um und fragt, was sie hier wollte. „Am I right here?“

Der Brite bemüht sich weiter um seine Mutter, ich steige irgendwann aus. Mein Blick wandert durch die Visitor Lounge. Ein paar leere Sessel stehen herum, es sind keine weiteren Besucher anwesend. Vom Fenster her dringt kühle Luft herein, draußen fährt eine Ambulanz vor. Neben der Tür befindet sich eine verglaste Wand, durch die man in den angrenzenden Raum bicken kann. Dort sitzen sechs oder sieben BewohnerInnen dieser Pflegeeinrichtung an einem Tisch und essen. Eine von ihnen – die einzige Afro-Britin – weckt Erinnerungen in mir. Noch vor einem Jahr saß meine Mutter genauso da: schweigend, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Als denke sie über etwas nach.

Die Tochter hilft der Frau beim Essen. Dann steht sie auf und macht ihr die Haare: löst Zöpfchen, kämmt das grauschwarze Gekrissel, nimmt sich mit kleinen Seitwärtsschritten den ganzen Kopf vor und flicht die Zöpfe neu. Als alles fertig ist, sieht die Mutter aus wie eine altehrwürdige Fürstin aus der Antike. Sie spricht während der ganzen Zeit kein Wort. Ein wenig schief sitzt sie im Rollstuhl und lässt sich nun von der Tochter aus dem Raum hinausschieben, blicklos, als sei ihr Geist schon ein Stück vorausgegangen.

Heute jährt sich der Todestag meiner Mutter zum ersten Mal.

Liverpool

 

Wünsche

Neulich an der Fleischtheke: Der Verkäufer, ein stattlicher Mann, fragt die Kundin vor mir: „Sonst noch Wünsche?“
„Ach“, sagt sie lapidar, greift nach den Wurstpäckchen auf dem Tresen und legt sie in den Korb ihres Rollators, „Wünsche hätte ich schon … aber ob Sie die erfüllen können?“
Es kommt ihr so aus der Seele, dass ich laut lachen muss. Sie dreht sich um und sagt glattweg:
„Naja wenn er mich so fragt, kriegt er halt eine Antwort!“ Nun lachen wir beide und sie schiebt dem Verkäufer, den sie offenbar kennt, ihre Geldbörse hin. Er nimmt ein paar Münzen heraus und zählt sie laut vor.
„Wenn man lachen kann“, fährt die Frau derweil fort, „ist wenigstens ein Wunsch schon erfüllt.“
Sie sagt das mit einer Stimme, als stehe sie mitten im Leben und wisse selbst nicht genau, wie sie in diesen gebrechlichen Körper geraten ist, aber alles andere ist in Ordnung. Ihren Humor hat sie noch.
Sie nimmt die Börse wieder in Empfang und schiebt vorsichtig den Rollator zur Seite, damit ich Platz habe.
Es ist eigenartig. Die Frau ist wohl über achtzig Jahre alt, spricht aber wie die Person, die sie wahrscheinlich immer war:  spontan, rundheraus, mit fester Stimme und einer guten Portion Mutterwitz. Ihr Äußeres passt nicht zu der Art, wie sie redet.  Es ist wohl nur ihr Körper alt geworden.

Inga

So weit ist es mit mir gekommen. Meine Arbeitsstelle endet im September, heute sprach ich beim Arbeitsamt vor, und nun werde ich an Inga verwiesen. Inga ist aber keine lässige Sachbearbeiterin, sondern die Abkürzung für interne ganzheitliche Integrationsberatung. Das ist ein Spezialteam der Arbeitsagentur für „arbeitslose Personen mit größerem Unterstützungsbedarf“. Mit ü50 gehört man dazu. Man wird mich wieder integrieren müssen, ich werde also aus etwas herausfallen.

All die Anstrengungen in meiner jetzigen Stelle führten zu keinem Ergebnis: Unser Förderprojekt läuft aus und bei jedem Griff auf den Deckel eines anderen Fördertopfs klopft uns jemand auf die Finger. Wir halten zusammen, wir geben nicht auf, aber es bleiben nur wenige Wochen.

Die junge, hübsche Beraterin mit klimpernden Armreifen und sorglos-strahlendem Lächeln erklärt mir Inga. Man nehme sich dort viel mehr Zeit für jeden Einzelnen, verspricht sie und schiebt mir einen Flyer zu. Na schön. So ist es jetzt eben. Ich bin schwer vermittelbar.
 
 
Brighton (35)
 

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Im Nachttisch meiner Mutter finde ich ein Körbchen mit zwei Piccolo-Flaschen Henkell Trocken und ein Sektglas. Es hatte in ihrer Wohnung auf dem Schrank gestanden, bevor sie in die Pflegestation umziehen musste. Sie hatte damals darauf gezeigt und ich packte es zu den anderen Sachen, die sie mitnehmen wollte. Offenbar hat sie den Sekt aber nie getrunken. Dabei hatte mich vor ihrem Umzug einmal jemand von der Verwaltung gefragt, ob meine Mutter öfters Alkohol trinke. Niemals, beteuerte ich damals. Als Chef-Einkäuferin ihres Haushalts hätte ich ihn ja besorgt haben müssen.

Auf das Naheliegende kam ich natürlich nicht. Erst als ich mich von den Mitarbeitern der Einrichtung verabschiede, kommt noch einmal die Sprache darauf. Ein Pfleger grinst und verrät: Es war die Wohnungsnachbarin. Frau Groß. Die brachte den Stoff, und dann haben die beiden zusammen gebechert. Typisch. Meine Mutter hat sich vom Leben genommen, was sie wollte. Vielleicht hat ihr ein gelegentliches Gläschen das Sprechen erleichtert, aber es wird nichts genutzt haben, denn die Nachbarin ist über neunzig und fast taub. Es wird egal gewesen sein.

Warum diese beiden Fläschchen noch da sind, weiß ich nicht, vielleicht hatte Frau Groß etwas Besseres als Henkell Trocken oder sie haben das Körbchen einfach vergessen. Ich mache jetzt jedenfalls eins auf, und dann erhebe ich es mit Blick nach oben und denke mir ein von Herzen kommendes „Wohlsein“!

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  © Ursula Holly

Frühsommertag

Als ich das Zimmer meiner Mutter betrete, schlägt mir dicker Mief entgegen. Sie friert jetzt häufig und die PflegerInnen wollen sicher verhindern, dass es ihr zu kühl wird. Ich weiß das. Ich weiß aber auch, dass sie bis zum letzten Tag, an dem sie selbst Entscheidungen traf, auf durchgelüftete Räume Wert legte. Ihr Leben lang riss sie mehrmals täglich Fenster und Türen auf und ließ es in der Wohnung durchziehen. Niemals hat es anders gerochen als nach frischer Luft.

Ich öffne das Fenster einen Spalt und trete an ihr Bett. Es ist früher Nachmittag und man hat ihr geholfen, sich zum Ausruhen ein wenig hinzulegen.
„Wie geht es dir heute?“ frage ich.
„Gut.“ Das Aussprechen des Worts gelingt nur mühsam, doch ihr Gesicht verzieht sich dabei zu einem Lächeln. Einen Moment lang ist es, als wäre die Zeit ein paar Jahre zurückgesprungen und ich wäre gerade mit ihren Einkäufen gekommen, hätte eine Begonie von Netto auf den Wohnzimmertisch gestellt, durch die offene Balkontür wäre duftende Frühsommerluft hereingeweht und ich hätte gefragt:
„Na, alles klar? Wie geht es dir?“
„Gut,“ hatte sie fast immer geantwortet und unter Anstrengung ein „alles klar“ hinterhergesetzt. Auf ihr Gesicht legte sich dann ein unbeschreibliches Strahlen, das mir vor ihrem Schlaganfall nie aufgefallen war und das sie auch im hohen Alter noch zu einer hinreißend schönen Frau werden ließ.

Ich blicke auf meine Mutter nieder, die überall Schmerzen hat, der die Fähigkeit zu sprechen fast ganz abhanden gekommen ist und die in einem stickigen Zimmer liegt. Aber wenn man sie fragt, wie es ihr geht, dann antwortet sie „Gut“ auf eine Art, die man als ernst gemeint interpretieren kann. Neben einer gelüfteten Wohnung hatte sie immer schon Klarheit darüber, wogegen es sich aufzulehnen lohnt und was einfach hinzunehmen ist. „Da muss man nicht jammern,“ höre ich sie stimmlos sagen, „das ändert auch nichts.“

So ist das Leben

Ich sitze bei meiner Mutter im Aufenthaltsraum, der Duft nach Kartoffelbrei und Bratensoße wabert in unsere Nasen, bald gibt es Essen. Sechs Bewohner und Bewohnerinnen haben an dem Tisch Platz genommen, an dem wir sitzen, Rollatoren parken an der Wand. An einem weiter entfernt stehenden Tisch beugt sich ein ausgemergelter kleiner Mann über einen Trinkbecher, in dem ein Strohhalm steckt. Der Mann ist allein am Tisch, niemand wurde zu ihm gesetzt und jeder weiß, warum.

Vor einigen Wochen, als ich meine Mutter ebenfalls in der Mittagszeit besucht hatte, war dieser Mann an ihren Tisch geschoben worden. Kaum hatte sich der Pfleger entfernt, begann der Mann geräuschvoll und ohne vorgehaltene Hand zu husten. Er hustete immer stärker, quer über den Tisch. Er hustete, als ob sein Leben davon abhinge, die höchstmögliche Lautstärke zu produzieren und es schien, als ob in seiner Brust nichts zu finden sei, das diesen Husten rechtfertigen könnte und er ihn deshalb gewaltsam herauspresste, sodass seine Augen hervortraten und das Gesicht rot anlief, wir hatten alle Angst, dass gleich ein Lungenflügel mit herausschießen und neben den Blumendekorationen oder gar auf einem der Teller landen würde.

Angesichts dieses Spektakels kam das Plaudern am Tisch zum Erliegen. Nur eine kurzatmige Frau murmelte vernehmlich zu ihrer Sitznachbarin: „Wer ist das? Der sitzt doch sonst nicht bei uns?“ Da hörte der Mann plötzlich auf zu husten und schnappte nach Luft, als hätte der Sinn des Ganzen einzig und allein darin bestanden, die Wahrnehmung der anderen auf sich zu lenken, auf welche Art auch immer. Alle richteten verstohlene Blicke auf ihn, doch dann entlud sich eine neue Welle dieses fürchterlichen Hustens. Die Frau sah ihn jetzt ärgerlich an und sagte: „Hören Sie doch auf, es wird einem ja schlecht.“

Seither gehört der Husten des neuen Bewohners zum Hintergrundgeräusch hier. Inzwischen wird das Essen verteilt, der Servierwagen bewegt sich zwischen den Tischen, ich verabschiede mich. Als ich an der Verbindungstür angekommen bin, wende ich mich noch einmal um zu meiner Mutter. Sie sitzt aufrecht da und schaut mir mit einem konzentrierten Blick hinterher, als wolle sie sagen: „So ist das Leben. Man kann sich nicht alles aussuchen.“

Ich muss lächeln und winke ihr noch einmal zum Abschied. Im Augenwinkel sehe ich den Mann, der wieder zu husten beginnt. Ein Mädchen hat sich inzwischen zu ihm gesetzt und hilft ihm beim Essen.

Bekannt- und Fremdwerden

Um in das Zimmer meine Mutter zu kommen, muss ich den Aufenthaltsraum durchqueren. Heute riecht es nicht nach Mittagessen wie sonst, sondern nach Kaffee. Ein rüstiger Mann hockt auf einem der Sofas. Sein Blick folgt mir, als ich ihn grüße und er ruft: „Helfen Sie mir beim Aufstehen, ich muss gehen. Man lässt mich nur nicht.“ Das sagt er jedes Mal. „Ich schicke Ihnen einen Pfleger“, antworte ich wie immer. Am Fenster blättert eine Frau mit einer spastischen Lähmung mit spitzen Fingern in einer Zeitschrift. Ich sehe sie gelegentlich vor der Tür beim Rauchen.

Ganz hinten sitzt an einem der Tische eine andere Frau, klein und schmächtig. Sie schaut in den Raum, ohne ihn wahrzunehmen, als denke sie über etwas nach. Ich betrachte sie aus dem Augenwinkel und frage mich, was der heutige Tag ihr bedeutet. Ob sie traurig ist oder nur wartet. Ob Eindrücke in ihr Bewusstsein dringen oder abfließen wie Seewellen, die gegen eine Klippe schlagen.

Ich bin schon fast an ihr vorbei und wende mich noch einmal um, da sehe ich erst: Es ist meine Mutter. Sonst liegt sie bei meinen Besuchen im Bett zur Mittagsruhe, aber heute bin ich später dran. Man hat sie in den Rollstuhl gesetzt, unter die Leute gebracht, und ich hätte sie fast nicht erkannt. Bestürzt setze ich mich zu ihr, lege kurz den Arm um ihre mager gewordenen Schultern. Sie lächelt, und das kommt mir wieder bekannt vor.

 

Die Konstanten des Lebens

Manchmal ergibt es sich, dass man eine Einladung zu einer kleinen Dinnerparty erhält von Leuten, die sonst nicht im Fokus der üblichen Samstagabendgestaltung stehen.

Ein alter Mann öffnet uns also die Eingangstür und wir betreten eine kühle, dunkle Diele. Als unsere Mäntel an schweren Eisenhaken hängen, werden wir ins Wohnzimmer geführt und von zwei sorgfältig zurecht gemachten, zierlichen Damen mit strahlendem Lächeln begrüßt. Sie stehen vor einem uralten Schrank mit aufwendig gearbeitetem Kranz und gedrechselten Standfüßen. Es riecht nach trockenem Holz und Staub.

Wir werden aufgefordert, an einem mächtigen Eichentisch Platz zu nehmen, auf dem mit Blumenranken verziertes Geschirr verteilt ist. Die Damen eilen in die Küche, um den alten Herrn bei seinen Gastgeberpflichten zu unterstützen. Es gibt hier keine Hausherrin mehr. Die beiden bewegen sich in ihren eleganten Blusen, schwingenden Röcken und teuren Schuhen, als trügen sie Hauskleid und Pantoffeln. Man kann sie sich gar nicht anders vorstellen, vielleicht sind sie so zur Welt gekommen. Das ist lange her.

Der alte Herr tappt derweil suchend hin und her, müht sich eine Weile mit der Musikanlage ab, „vorher gings doch auch,“ endlich erklingen französische Chansons. Aus der Küche dringt die hohe, kratzige Stimme der einen Dame und die Altstimme der andern, dann segeln sie zurück zu uns mit Feldsalat und Ziegenkäse aus einem Delikatessengeschäft, das sie nicht zu erwähnen vergessen. Wir nippen Champagner aus Kristallgläsern, die mindestens hundert Jahre alte sind.

Während des Essens spricht der Mann nicht viel, auch das übernehmen die Damen – beide verwitwet übrigens – für ihn. Sie zählen die Orte auf, die sie bereist haben, danach geht es um Kunst, also welche Gemälde man besitzt. Wir gehen zum Wein über und die Damen fangen an zu kichern. Von Zeit zu Zeit legt eine von ihnen freundschaftlich die Hand auf den Arm des Mannes, die andere klopft im Vorübergehn auf seine Schulter. Er erzählt nun mit kargen Worten kleine Anekdoten aus früheren Zeiten.

Schließlich stellt eine der Damen fest, dass sie nun beschwipst sei und nicht mit dem Auto nach Hause fahren könne. Es entsteht sofort eine lebhafte Diskussion darüber, wer sie mitnehmen könne oder ob sie lieber hierbleiben und im Gästezimmer übernachten solle. Wir lachen, hänseln, jeder bietet ihr einen Platz zum Mitfahren an. Der alte Mann sitzt auf einmal aufrecht auf seinem Stuhl, die Augen hellwach. „Freilich bleibst du da, es ist genug Platz“. In sein Lächeln spielt nun eine feine, kaum wahrzunehmende Unruhe, die ihn selbst zu überraschen scheint. Die Dame blickt mit gerunzelter Stirn und glänzenden Bäckchen ins Kaminfeuer, sie scheint über seinen Vorschlag nachzudenken. „Soviel hast du nicht getrunken, du kannst noch gut Auto fahren,“ befindet die andere Dame, die mit der tiefen Stimme.

Wir verabschieden uns und ich weiß nicht, wie der Abend ausging. Bei uns wollte sie jedenfalls nicht mitfahren. Ein beruhigender Abend. So viel verändert sich im Leben, aber doch nicht alles.

Die Wahrheit hängt an der Wand

Immer wenn ich vom Pflegeheim nach Hause komme, betrachte ich ein Foto meiner Mutter, als sie noch ein Mensch war. Das Bild lag zwischen ihren Unterlagen, die ich durchzusehen hatte, zusammen mit einem Geburtstagsgedicht von einer Freundin. Sie haben zusammen gefeiert damals, 2006 war das. Ich hielt die beiden Fundstücke eine Weile in den Fingern und tat dann etwas, was ich mit einem Bild meiner Mutter noch nie getan habe: Ich rahmte es ein und hängte es auf. Jetzt lacht sie knapp an der Kamera vorbei ins Zimmer hinein, das Gesicht noch füllig, ihr Haar schwarz und voll. Am rechten unteren Bildrand sieht man gerade noch ihre schönen Hände. Ich will sehen, dass das meine Mutter ist. Irgendwo unter der veränderten Hülle gibt es sie noch: die attraktive, lebendige Frau mit Freundinnen und Hobbys. In ihren Augen sehe ich es manchmal noch nachleuchten.

Schicksal

Wenn man eine Wohnung auflösen muss, findet man viele Habseligkeiten, die eine Entscheidung notwendig machen. Behalten? Fortwerfen? Ebay 3-2-1 deins? Eine halbe Socke zum Beispiel. Was tut man damit? Das erste Bündchen ist gestrickt, dann wurden die Finger meiner Mutter zu kraftlos. Oder sie verlor am letzten Zeitvertreib, den sie noch pflegen konnte, einfach die Lust.

Ich hätte diese Wolle nicht ausgesucht: mehrfarbig in Rot und Braun, vielleicht hat eine Freundin sie ihr mitgebracht. Ich gebe die halbe Socke trotzdem nicht in den Müll, sondern stecke sie gedankenverloren in einen Korb mit anderem Kram. Zu Hause liegt sie dann eine Weile herum, weil ich noch unschlüssig bin, was ihr Schicksal betrifft. Eines Abends aber setze ich mich hin und stricke sie weiter.

Das Muster sieht nicht mal schlecht aus, nur die Ferse kriege ich wieder nicht richtig hin. Meine Mutter beherrschte es perfekt, sie hätte mir mal zeigen sollen, wie das geht. Strickanleitungen aus Magazinen kapiere ich nämlich nicht. Ich hätte auch fragen können. Aber man meint ja immer, das hat Zeit.

Wenn die Socken fertig sind, bringe ich sie ihr ins Pflegeheim.

 

Socke (l)

 

Ein Leben im Wohnzimmerschrank

Ich muss jetzt in fremden Sachen wühlen. Sortieren, was mir nicht gehört. Überlegen, was meine Mutter noch braucht in der Pflegestation. Die Wohnung muss so schnell wie möglich geleert werden, denn die Miete ist hoch, der monatliche Pflegesatz noch höher.

Ich finde Schreiben und Dokumente, die mich nichts angehen. Mappen mit der Aufschrift „Privat“. Verschlossene Umschläge. Ein rotes, schnörkelig verziertes Schnapsglas mit Goldrand, das ich noch aus meiner Kindheit kenne. Sie hat ihren Gästen Slibowitz darin eingeschenkt oder Ouzo, oder Jim Bimm, wenn sie an den Wochenenden Party machte. An die Namen dieser Getränke erinnere ich mich gut.

Zwischen Papierstapeln liegt ein Seidenbild. Es stammt aus den Anfängen ihrer Zeit als Hobbykünstlerin, bevor sie Aquarell, Öl und Acryl entdeckte. Sie belegte hunderttausend Kurse und es gibt eine schier endlose Zahl an Werken, die daraus hervorgingen. Gemälde in Pink, Gelb und Blau, aber auch zarte Blumenbilder in unterschiedlichsten Farben und Techniken hängen bis heute an der Wand. Der Rest lagert im Keller. Den muss ich auch noch ausräumen.

Eine um die andere Schachtel oder Blechdose ziehe ich aus den Fächern, ordentlich verstaute Utensilien, Unterlagen, Schnickschnack. Jedes Ding hat seinen Platz. Genauso sieht es in meinen Schränken und Schubladen aus.

Was für eine traurige Einstimmung auf das Weihnachtsfest ist das in diesem Jahr.

Mut zur Zukunft

Altwerden ist nichts für Empfindliche. Das gilt für Betroffene und Begleiter. Es ist herb, wenn immer mehr aufhört und man weiß: es fängt nie wieder an. Man könnte sich über die Betrachtungsweise Gedanken machen. Wenn ich morgens zum Beispiel Cornflakes frühstücken will und feststelle, die Packung ist leer – sage ich dann: „Nun werde ich nicht frühstücken?“ oder schaue ich nach, was sonst noch da ist und bestreiche dann eine Scheibe Brot mit feinem Bienenhonig, den ich im Schrank gefunden habe? Das Leben wirft uns die Zutaten hin, und wenn es nicht die sind, die wir uns wünschen, dann können wir uns ärgern oder es lassen. Die Zutaten bleiben trotzdem dieselben. Meistens haben wir alles, was wir brauchen.

Aber es ist schon ein großer Schritt, das zu erkennen und zu leben, wenn es ans Eingemachte geht. Erstaunlicherweise gehen Menschen in ihrer letzten Lebensphase manchmal gelassener damit um als ihre Zuschauer. Die haben freilich auch mehr Arbeit damit. Trotzdem möchte man nicht tauschen und fragt sich, wofür es sich noch zu leben lohnt mit all den Einschränkungen und schwindender Selbstbestimmung. Warum man auch dann – trotz allem – leben will.

Vielleicht beginnt da im Verborgenen noch etwas ganz anderes.

Sinnvoll

Wenn man das Abo der regionalen Tageszeitung während einer längeren Abwesenheit nicht ruhen lässt, sondern an eine andere Adresse umleitet, dann bekommt man ein kleines Geschenk. Die Zeitung meiner Mutter wird also an mich geliefert, ich muss nicht mehr jeden Tag ihren Briefkasten leeren, der sonst überquillt, und als Dankeschön kam heute ein Reisenthel mini maxi Shopper. Faltbare Einkaufstasche nannte man das früher. Braun mit weißen Tupfen.

„Schau, das hast du vom Zeitungsverlag bekommen.“

Während die Krankenschwester eine Infusion prüft, hält meine Mutter das Päckchen zwischen den Fingern und dreht es ratlos hin und her. Dann lässt sie es auf die Bettdecke sinken und schiebt es mir zu. Natürlich. Sie braucht es ja gar nicht. So hübsch es auch ist – einen mini maxi Shopper für die Handtasche wird sie nie mehr brauchen. Also stecke ich ihn selbst ein und sinne darüber nach, was ihr in diesem Moment wohl gerade durch den Kopf geht.

Umstellungssache

Jeden Herbst ist es dasselbe: Kaum ist die Zeit umgestellt, schon irre ich durch Treppenhäuser und Flure des Gebäudes, in dem meine Mutter lebt. Ich weiß nicht, warum ich hier bei Dunkelheit, die von einem Tag auf den andern auftritt, plötzlich an allen Lichtschaltern vorbeigehe, bei jedem Besuch. Zu Hause passiert mir das nicht. Aber diese Seniorenanlage ist erst wenige Jahre alt und vielleicht deshalb erwarte ich ein modernes Bewegungsmeldersystem mit automatischer Lichtsteuerung. Hat es aber nicht.

Statt dessen tasten die armen alten Leute – vielleicht auch nur ich – an schwach beleuchteten Wänden entlang, um einen Lichtschalter zu finden. Man geht ja zunächst weiter im Glauben, dass die Lampen gleich angehen, und wenn man erkennt, dass das nicht geschehen wird, ist kein Lichtschalter mehr da. Also schleicht man die Treppen wieder hinunter, zurück zum Eingang, jetzt hab ich einen gefunden. Schon sieht die Welt wieder so vertraut aus, wie es an diesem Ort eben möglich ist. Im nächsten Stockwerk renne ich wieder am Lichtschalter vorbei.

Ein langer Gang liegt nun vor mir, im Dämmerlicht sieht er ganz anders aus als sonst. Aus den Winkeln und Türrahmen könnte jemand nach mir greifen, ein Dämon zum Beispiel. Man sieht ja nix. Und wenn die Augen nichts zu tun haben, werden auch die Gedanken so laut. Ich arbeite mich zum Treppenhaus zurück. Wo der Lichtschalter ist.

An manches gewöhn ich mich einfach nicht.

Leben und lieben

Zwei Glasscheiben gleiten vor mir auseinander. Ich betrete das Pflegeheim und entdecke am Ende eines langen Flurs meine Mutter. Sie sitzt  in ihrem Rollstuhl und starrt gerade aus, als warte sie ab, was als Nächstes geschieht. Hinter ihr – ebenfalls im Rollstuhl – macht sich ihr Mann zu schaffen. Meine Mutter hat nicht genug Kraft, um sich den langen Weg selbst anzuschieben. Stückchen für Stückchen stupst er sie deshalb vorwärts, wie eine kleine Bimmelbahn mit nur zwei Waggons ruckeln sie auf mich zu. 

Die beiden haben keine Eile. Er murmelt etwas, sie antwortet leise, ich gehe auf sie zu und übernehme meine Mutter, betrachte ihren Hinterkopf  wie vor einigen Jahren den meines Sohnes, wenn ich ihn durch den Park der Klinik schob. Ein Mensch im Rollstuhl muss dem, der hinter ihm steht, vertrauen können, er ist völlig schutzlos. Zum normalen Leben gehört dieser Blick auf einen Hinterkopf nicht.

Ihr Mann rollt hinter uns her, wir lachen. Vor dem Ausgang muss ich die alten Leute so rangieren, dass sie sich gegenüber sitzen. Sie beugen sich zueinander, karierter Wollmantel trifft blaue Trainingsjacke, zwei Gesichter schieben sich nach vorne und unter einiger Anstrengung treffen sich ihre Lippen zu einem Abschiedskuss.

Die Scheiben der Eingangstür gleiten wieder auseinander, ich bringe meine Mutter zum Auto zurück und wir winken ihrem Mann, der hinter der Glastür geblieben ist und uns aufmerksam zuschaut. Jetzt hebt er beide Arme hoch und winkt zurück. Eine Schwester erscheint hinter ihm, sie wird ihn ins Zimmer zurück begleiten.

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Ich wünsche euch allen vertrauenswürdige Menschen hinter euch und ein liebendes Gesicht vor euch. Ich wünsche euch Menschen, denen ihr vertraut und die ihr liebt. Ich wünsche euch ein glückliches neues Jahr.