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Das Spektakel

„Am 30. Mai ist der Weltuntergang“. So heißt ein Lied aus den Fünfzigern, das gerade wieder durch das Web geistert.

Die Welt hatte schon einige Untergänge, die es sich dann doch nochmal anders überlegt haben. Tschernobyl ist so ein Beispiel, oder als Saddam Hussein in Kuweit einfiel und die Ära der Dauertalksendungen und Live-Streams einläutete.
Beidesmal fühlte ich mich ähnlich wie heute.
Tschernobyl betraf uns immerhin, aber was hatten wir mit dem Golfkrieg zu tun? Die Medien nahmen uns trotzdem mit auf die Reise, bis alle dachten, dass auch auf uns bald Panzer zurollen. Wir hingen mit klopfenden Herzen am Fernseher und über Tageszeitungen.

Was ist das?

Medien, Regierungen, Sekten, Populisten – sie alle erreichen Ziele leichter, wenn die Menschen Angst haben. Diese Ziele reichen von hohen Auflagen bei Publikationen über das Hinnehmen von Ausgangssperren bis zur Selbstaufgabe in radikalen Gruppen.

Ich unterstelle den Regierungen derzeit nicht, dass sie unsere Angst nutzen. Die Angst ist einfach da, erschaffen und gepflegt von Medien, deren Preise für Werbeanzeigen von Zuschauerquoten und Klickraten abhängen. Aber hätten wir die Bilder in Italien nicht gesehen, wäre bei Verordnungen zu Kontaktsperren, Geschäftsschließungen und Kurzarbeit das Geschrei groß.

Es geht Hand in Hand, und es ist so einfach zu bewerkstelligen.
Das macht mir mehr Angst als das Virus.


Bild von photosforyou auf Pixabay

Flugrolle

Vor ein paar Wochen im Flieger: Ich sitze zwischen einer fünfköpfigen Familie aus Bayern, weil versehentlich keine nebeneinander liegende Sitze für den geliebten Briten und mich gebucht worden waren. Meinen Fensterplatz habe ich einem der Kinder überlassen („Mei is des nett von Iahna!“) und so kommt man ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass alle miteinander zum ersten Mal in einem Flugzeug sitzen. Vor allem die junge Mutter neben mir zupft ständig am Anschnallgurt herum und je aufgeregter sie wird, desto gelassener werde ich. Beim Start blättere ich in einer Zeitung und beim unangenehmen Absacken während des Flugs beruhige ich die erstarrte Frau: „Das ist normal“.

Interessant. Bei anderen Flügen halte ich nämlich die Hände in die Oberschenkel gekrallt und gehe im Geist durch, ob zu Hause alle meine Unterlagen geordnet sind und ob ich  in diesem Leben genug für meine Kinder getan habe. Falls wir herunterfallen.

Was lernen wir daraus? Der bewundernde Blick einer jungen Bayerin, deren Frage „Muss des so rütteln?“ ich mit einem souveränen „Ja“ beantworten kann, wirkt offenbar, als habe die Regie mir eine neue Rolle zugewiesen: Die der vielgereisten Kosmopolitin. Und das Beste daran: Ich konnte sie spielen.

 

Anm.: Zu diesem Beitrag inspirierte mich Meermond mit ihren Gedanken über Schachteln. Danke für den Impuls! 🙂

Es gibt keine Sicherheit

Wir kennen die üblichen Bedrohungen: Infektionen, Rückenleiden, Herzinfarkt – die Medien sind voll davon. Doch wenig Fett und viel Bewegung (auch darüber liest man viel) bewahren uns davor – wir können uns schützen.

Anders sieht es bei Opfern von Straftaten aus. In der Öffentlichkeit wird weit weniger beleuchtet, was gegen Räuber und Gewaltverbrecher zu tun ist und  man sucht vergeblich nach Ratgebern wie „7 Tricks zum Schutz vor Mördern“. Allerdings ist die Gefahr, durch ein Messer oder Bombenattentat ums Leben zu kommen auch weitaus geringer. Viel häufiger sterben wir an Krebs oder bei einem Unfall, aber trotzdem rauchen wir weiter, trinken Alkohol, fahren jeden Tag Auto und gelegentlich Ski. Es gibt ja genug Menschen, denen es auch nicht schadet – wir können uns beruhigen.

Nur beim Verbrechen funktioniert diese Beschwichtigungsstrategie nicht, denn: es tritt am wenigsten häufig ein. Deshalb haben wir am meisten Angst davor, denn wir sind nicht daran gewöhnt.

„Kein Mensch darf sagen: Solches trifft mich nie.“
(Menander, griechischer Dichter, 342 – 291 v. Chr.)

Wir leben in einem der sichersten Länder, und doch ist auch bei uns jeder Tag unberechenbar.  Sicherheit ist eine Illusion, und so war es schon immer. Schicksalsschläge gehören nicht erst seit den Terrorangriffen zum Leben. Gegen die Angst davor hat früher Beten geholfen, aber das ist aus der Mode gekommen. In der modernen Zeit wird mit der Angst Geschäfte gemacht, und sie laufen gut – wir sollten uns nicht davon kirre machen lassen!

 

Diagnoseeffekt

Heute Morgen beim Doktor. Ich will endlich wissen, warum mir immer ein bisschen eng ist im Brustkorb. Nicht schlimm, und während meiner erst wenige Monate zurückliegenden Raucherzeit ignorierte ich es einfach, die Ursache war ja klar. Nur als es ohne Zigaretten nicht aufhörte, wunderte ich mich. Lässt du mal nachschauen, dachte ich also, und wurde beim Lungenfacharzt vorstellig.

Über zwei Stunden lang wurden Untersuchungen mit mir angestellt, um eingehend Anatomie und Funktion meiner Atmungsorgane zu betrachten: Röntgenaufnahmen, Belastungstests, Lungenfunktionstests, Bluttests und Bronchienprovokationstests oder wie das heißt. Man fühlt sich hinterher wie ein umgestülpter Handschuh, und all das wegen eines leichten Drückens im Brustkorb.

Jetzt weiß ich: Es kommt nicht vom Rauchen, wenngleich es dadurch natürlich nicht gerade besser wurde. Aber die Diagnose ist eine andere: Ich habe Asthma, und zwar schon seit Jahren.

Nun merke ich es auch: Ich kann plötzlich nicht tief einatmen, es tut ein bisschen weh beim Ausatmen und mein Brustkorb zieht sich zusammen. Überhaupt fühle ich mich so, wie man sich bei mangelnder Sauerstoffzufuhr eben fühlt: krank. Ich hole Kortisonspray und Notfallspray aus der Apotheke, fahre nach Hause, setze mich hin, lese die Gebrauchsanleitung und höre dem geliebten Briten zu, der nun detailliert meine nächtlichen Hustenattacken schildert einschließlich schaurigen Vorführungen des Keuchens und Röchelns, das ich dabei angeblich von mir gebe. Davon weiß ich nichts, aber es passt zur Symptomatik und vervollständigt das Bild: Ich bin ein armes, asthmatisches Tröpfchen.

Das Gute daran: Es wurde kein Tumor oder sonst etwas Schreckliches gefunden, und das war im Hintergrund immer meine klitzekleine Befürchtung gewesen. Also positiv denken und inhalieren, sage ich mir. Beides hilft.

Schtori vom Pferd

Ich gehe die Straße entlang und auf einen Mercedes zu, der vor der Einfahrt eines Neubaus parkt. An den Mercedes ist ein Pferdeanhänger gekoppelt. Beim Näherkommen höre ich, wie es darin klopft und stampft, eine der Seitenwände beult sich nach außen. Erschrocken wechsle ich die Straßenseite und beschleunige meine Schritte. Als ich fast vorbei bin, sehe ich, dass der Anhänger hinten offen ist. Eine Rampe führt zum Asphalt herunter, von innen dringen dumpfe Schläge. Kein Mensch ist zu sehen. Einen Moment lang überlege ich, was zu tun ist: weitergehen, umdrehen oder in Panik ausbrechen? Ich entschließe mich für die Panik, bleibe stehen wie schockgefroren und starre in die Öffnung des Anhängers. Innen bewegt sich etwas. Mein Herz macht jetzt einen argen Hüpfer.

Es ist aber kein Pferd, das sogleich auf die Rampe tritt und zur Straße hinunter balanciert. Es ist ein Mann. Er hält mehrere Regalteile auf den Armen und bemüht sich, die ungleich langen Bretter nicht fallen zu lassen. Jetzt sehe ich, dass Kisten und Möbel in dem Anhänger gestapelt sind. Ach so. Da zieht jemand um.

Erkenntnisgewinn: Angstbehaftete Menschen wie zum Beispiel Fremdenfeindliche sehen einen offenen Pferdeanhänger, aus dem Tritte dröhnen. Es könnte alles sein. NEIN, ich sympathisiere NICHT mit Pegida. Es fiel mir nur grad so ein.

Perspektivenwechsel

Spinne (10)

Graust’s euch?

Mich schon.

Spinne (11)

Dieselbe Spinne, derselbe Ort, derselbe Tag.

Distanz schafft ein größeres Sichtfeld. Ein Schritt rückwärts, und mehr Elemente werden sichtbar. Größenordnungen relativieren sich, der Kontext wird klar, es ist nur eine vollgefressene Kreuzspinne auf dem Balkon. Keine 3 cm groß. Sie kann nicht springen, auch wenn es mir fast unmöglich scheint, das zu glauben. Sie wird keinen Satz machen, niemals in meinem Gesicht landen und mich nicht auffressen. Sie kann es nicht, es ist so. Ich sage es mir immer wieder auf.

Jeden Tag trainiere ich, indem ich sie anschaue, mich sogar mit der Kamera ran traue. Ich will das untere Exemplar sehen, nicht das obere. Es funktioniert, aber nur draußen.

 

Und bei anderen Ungeheuern des Alltags manchmal auch gar nicht.

 

Mutig, mutig!

Ungläubig blicke ich an die Wand. Ich halte den den Abluftschlauch des Trockners in der Hand und wie ich so zum Fenster schaue, zeichnet sich darunter auf der Mauer das Schattenbild des Schlauchs ab und mit ihm etwas, das aussieht wie eine monströse Spinne. Mein Blick flattert auf den Schlauch, aber da ist nichts. Natürlich nicht. Die Spinne hängt ja auch unten dran. Der Schlauch klatscht auf den Boden, daneben die Spinne. Sie ist längst verstorben.  Deshalb geht sie auch nicht ab, als ich sie mit dem Fuß abschütteln will.

Zum Glück ist die Zeit vorbei, da ich einen Raum, in dem sich wissentlich eine Spinne aufhält – egal ob lebend oder tot – überhaupt nicht betreten hätte. Das Leben hat mich hart gemacht. Als Frau eines Geschäftsreisenden und Mutter mehrerer Kinder blieb mir nichts übrig, als gelegentlich das Treppenhaus oder Esszimmer von solchen Ungeheuern zu befreien, meist durch das Werfen von Gegenständen.

Mit den Jahren fühlte es sich dann nicht mehr an, als ob das Tier seine Größe in der nächsten Sekunde um ein Vielfaches explodieren lassen könnte, um mich mit behaarten Fängen festzukrallen und mir den Kopf abzubeißen. Lächerlich. Ha! Tapfer hacke ich jetzt mit einem Kleiderbügel auf den Schlauch ein, um das Viech abzubekommen. Da bewegt es sich.

Im nächsten Moment hänge ich an der Tür und spähe mit pochendem Herzen zurück. Die Spinne ist tot. Es war nur ein Windzug.

Horch

Wenn im Teekocher unserer Büroküche Wasser heiß wird, klingt das Blubbern, als ob jemand die Treppen hochpoltert. Das erschreckt mich jedes Mal, weil ich denke, der Boss ist auf dem Weg zu uns. Es sollte mir gleichgültig sein, in fünf Wochen bin ich auf freiem Fuß. Die letzten Jahre waschen sich aber nicht ab wie Staub im Frühlingsregen. Im Augenblick stehe ich jedenfalls in der Teeküche und halte die Luft an. Es ist aber nur das Wasser, das Krach macht.

Noch vierundzwanzigmal aufstehen.

Die Sekunden vor dem Sturm

Herr Bauer wird kleiner. Der Raum, den er einnimmt, verringert sich, es ist, als stecke er in einer Presse: die Schultern fallen zusammen, Arme kleben am Körper, steif sitzt er im Besprechungsraum. Nur die Augen huschen von hier nach da, als suchten sie nach einem Ausgang.

Jetzt wird gewartet. Er verknotet die Beine, starrt auf den staubigen Efeu in der Ecke, vergisst fast zu atmen. Der Direktor überfliegt das Blatt, das er eben erhalten hat.  Ein Kunde zerpflückt eine Lieferung.

Was Herr Bauer auch sagen wird – der andere wird es Ausflüchte nennen. Faule Entschuldigungen. Unschuldsbeweise wird er fortwischen, nicht zuhören, nicht wissen wollen, und bevor er losbricht, blättert Herr Bauer quer. Überschlägt den sicheren Monatslohn, die Angst, keine neue Arbeit zu finden, das Zugrundegehen hier. Für einen Notstopp bleibt nicht mehr viel Zeit.

Angsthase, Pfeffernase!

„Radioaktivität am AKW Fukushima zehnmillionenfach erhöht“. Gelesen heute morgen in Spiegel online. BBC News reduzierte die extreme radioaktive Belastung auf Wasser, das in den Reaktoren steht, inzwischen erkannten das auch die Spiegel-Redakteure.

Der Independent kommt auf seiner Titelseite heute erst weiter unten auf Japan zu sprechen und zweifelt dort am Wahrheitsgehalt der extrem hohen Radioaktivität. Der Sieg Vettels in Australien hat jedenfalls höhere Priorität. Die New York Times hingegen bringt zur aktuellen Lage in Japan bisher keine Meldung.

Während wir in Deutschland von einer Katastrophe zur nächsten hecheln, gerne mehrmals täglich, berichten ausländische Medien weit emotionsloser über die Vorgänge in Japan. Nur wir wälzen uns in der Angst. Kein Wort liest man, dass Reaktoren in Deutschland niemals von extremen Erdbeben bedroht sein werden. Dass man es nicht vergleichen kann. Wir haben einfach gerne Angst.

Interessant, was heute im Observer steht: „Man fragt sich, warum Deutsche so gegen die Atomindustrie sind, die für ihre französischen Nachbarn selbstverständlich ist. Weber* hält es für die nationale Psyche: ‚Deutsche fürchten sich vor allem. Wir haben Angst vor Krebs, vor zuviel Salz auf unseren Brezeln, vor dem Kauf der falschen Eier. Es ist eine Sache der Mentalität.‘

Das bekommen wir in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz heute noch schriftlich. Ich geh jetzt wählen.

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*ehemaliger Arbeiter in Neckarwestheim

Mein Morgengrauen

Die morgendliche E-Mail vom Höllenhund. Was ist es heute? „Listen Sie Lieferanten und ihre Vereinbarungen auf, bin immer wieder überrascht über deren Preisgestaltung.“ Aha. Gestern war mir um die Ohren geschlagen worden, dass ich zu teure Leistungen durchgehn lasse. „Diese Schlamperei muss beendet werden, Vorschläge bitte.“ Guten Morgen, Chef.

Ich hole mir eine Tasse Kaffee, schlurfe zurück zum Schreibtisch und schiebe lustlos Papier hin und her. Dann ein paar Klicks durch den Posteingang. Aufträge werden gegeben, Lieferungen angezeigt, ein paar gute Wünsche zum neuen Jahr. Jedenfalls weiß ich heute beizeiten, was den Tag verderben wird, es sei denn es kommt eine Reklamation. Das hat natürlich Vorrang. Dann brüllt der Chef, man wirtschafte den Laden herunter, und während er geifert, verklebt sein Gehirn. Der Sachbearbeiter wird zum Versager erklärt und das setzt sich fest wie ein Geschwür. Wochenlang. Oder länger.

Für die Arbeit von gutbezahlten Lieferanten hatte ich noch keine Reklamation. Aber halt: Zurück zum Thema. Ich drücke die Preise unserer Lieferanten nicht genug. „Billig müssen sie sein, perfekte Qualität wollen wir, und – keine Reklamationen!“ Als ob ich es in der Hand hätte.

Ich lösche die Mail, gehe im Kopf die Angriffe durch, die es geben wird, schnell noch etwas Baldrian. Ein Tag beginnt.

Samuel Koch wird langsam aufgeweckt

Auch ich falle der kollektiven Anteilnahme anheim, aus besonderem Grund. „Aus dem Koma zurückholen … etwa drei Tage“. Das sagten sie auch zu uns, vor eineinhalb Jahren. Etwa drei Tage dauere es, bis der Junge erwacht. Es wurden fünf. Dieser Albtraum, dieses Gelähmtsein, das Entsetzen – es lässt sich nicht beschreiben. Man taumelt von einer Stunde zur nächsten. Man denkt, das Kind wacht nicht mehr auf.

Unser ganzes Leben lang planen und organisieren wir. Wir entwerfen Zeitpläne, legen Abläufe fest und was nicht geht, planen wir neu. Aber damals, am Bett unseres Sohnes, da gab es nichts zu planen, ich wurde zu Stein. Wir warteten, dass er aufwacht. Wir warteten, dass er aufwacht, damit es uns besser geht, doch der Junge hatte seinen eigenen Zeitplan. Und er machte ihn ohne uns.

Ich weiß, was die Eltern von Samuel Koch jetzt aushalten müssen und was da noch kommt. Nichts wird mehr sein wie vorher.

Wen’s interessiert

Anderes Thema

Büroreize

Welche Reflexe der Minirock einer hübschen Mitarbeiterin bei männlichen Kollegen auslöst, wissen wir. Es gibt aber auch gewöhnlichere Reize am Arbeitsplatz, und weniger angenehme.

Zum Beispiel, wenn – wie der Pawlowsche Hund beim Ertönen einer Klingel anfängt zu sabbern – beim Anblick eines Schreibtischs Adrenalin in die Blutbahn schießt. Gibt es Konditionierung durch Büro-Einrichtungen? Bestimmt können Gegenstände oder Handlungen Reize und zuvor erlernte Reaktionen darauf auslösen. Beispiele:

E-Mail-Eingang – Hektik
Auftragsformular – Bedrängnis
Telefon – Angst

Häufig erfahrene Zustände holt das Unterbewusstsein her, auch wenn in diesem Augenblick gar nichts passiert. Das ging mir heute so durch den Kopf, als ich den Computer hochfuhr und dabei Herzklopfen bekam.

Abgeschieden

Bei der wöchentlichen Mitarbeiterbesprechung fällt mir etwas auf. Es sind die Gesichter der Kollegen: es ist, als tragen sie Tauchanzüge. Unsichtbare Tauchanzüge, die eng am Kopf anliegen und ihre Gesichter einquetschen, sie gar ein wenig hervortreten lassen, so scheint es. Angestrengt sitzen sie da mit starren  Oberkörpern, während der unbeherrschte Firmenchef uns gerade wieder anbellt wie ein aufgescheuchter Hofhund.

Ich lächle in mich hinein. Nach der Versammlung greife ich gutgelaunt nach dem Notizblock, verlasse den Raum, steige die Treppe hinunter, schlendere den Gang entlang. Dann trete ich in den Eingangsbereich und – hinaus auf den Vorplatz. Ich schaue zum Himmel und atme ein, tief. Ein Blick zum Storchennest: Niemand zu Hause.  Sie besuchen jetzt immer die Wiese weiter vorne. Ein paar Kollegen gehen vor mir her, sie tragen keine Tauchanzüge, nur die Zurückgebliebenen. Gott hat meine Gebete erhört, seit ein paar Tagen befindet sich mein Büro auf der anderen Straßenseite. Jeder Schritt in die Abgeschiedenheit des Nebengebäudes vergrößert die Distanz. Zwar hat der Terror Beine und sucht uns gelegentlich heim, aber doch nicht den ganzen Tag. Hier ist gut sein.

Ein Tagesbeginn

Wenn ich morgens aufwache, saust manchmal ein Hammer auf mich nieder. Da steht einer neben dem Bett und gibt mir eins drauf, und noch eins und noch eins und noch eins. Nicht dass es mir die Besinnung rauben würde – das wäre schön, dann wär’s ja vorbei. Nein, ich werde im Gegenteil immer wacher. „Hoffentlich kommt kein komplizierter Auftrag heute“, heißt so ein Hammerschlag. Oder: „Hoffentlich liefert der Übersetzer gute Qualität“. “Hoffentlich liefert er überhaupt.“ „Hoffentlich gibt es keine Reklamation“. “Hoffentlich schaffe ich das Pensum“. “Hoffentlich vergesse ich nichts.“ Als hätte ich sonst nichts, über das ich nachdenken müsste, als wäre das Büro das Wichtigste. So liege ich am Morgen schon erschöpft in den Laken und versuche zu zählen, zu beten, langsam zu atmen, doch mein wild gewordenes Herz schlägt gegen den engen Brustkorb, dass es weh tut. Dann denke ich: Mit fünfzig ist man nicht mehr so stark. Daran muss es liegen, die Hammerüberfälle fingen im letzten Jahr erst an. Vielleicht muss man Firmen verstehn, wenn sie ältere Menschen nicht mehr einstellen wollen.

So ein Tag wie heute …

… den kann man abhaken. Nicht nur dass ich arbeiten musste, am Sonntag. Im Gesundheits- oder Sonstwasdienst bin ich dabei nicht tätig, ein depperter Eilauftrag war es. Und nein, ich bin auch nicht selbständig. Allenfalls darf ich dafür mal einen Nachmittag freinehmen.

Eigentlich müsste ich fröhlich pfeifend den Tag verbringen, denn mein Kind kommt bald aus England zurück. Der Flug ist gebucht, in München wird er landen und sein Freund holt ihn ab. Ja, der Freund, mit dem er vor einem Jahr verunglückte. Der den rechten Arm praktisch nicht mehr gebrauchen kann, nur zwei Finger lassen sich gerade noch bewegen. Dieser Freund also fährt wieder Auto. Ich weiß, da werden Tests gemacht, um die Fahrtüchtigkeit zu prüfen, hat mein Sohn ja auch hinter sich, und er brauchte ein paar Anläufe, bis die Reaktionen wieder ausreichten, um ein Fahrzeug steuern zu dürfen. Sicher hat man seinen Freund auch getestet und es wurde befunden, dass auch mit zwei Fingern ein Schalthebel benutzt werden kann. Sicher ist er längere Strecken schon gefahren. Sicher ist es ein Automatik-Fahrzeug. Sicher ist … gar nichts.

Der Tag fing jedenfalls damit an, dass ich in der Zeitung Traueranzeigen las. Das mache ich meistens am Sonntagmorgen, ob morbide oder nicht – manchmal kennt man ja jemanden. Und ein ganz klein wenig – ich gebe es zu – macht es auch froh, selbst gesund und am Leben zu sein und um niemanden trauern zu müssen. Nur heute Morgen – dabei war in den Anzeigen kein bekannter Name aufgetaucht – liefen mir auf einmal Tränen herunter.

Der nette Engländer an meiner Seite hat seinen Tagesplan daraufhin spontan umdisponiert. Er verzichtete auf die Power-Rad-Tour in die Berge, schob  das karge Frühstück aus Toast und Energie-Drink weg und machte sich über eine große Schüssel Müsli her. Zusammen radelten wir dann in mein Büro (die Strecke ist flach wie ein Pfannkuchen) und er wartete, bis ich erledigt hatte, was zu erledigen war. Das war das Schönste am heutigen Tag.

Fit wie Lumpi – das Komplettset

Ich will meine Kondition zurück. Früher hatte ich sie, so lange ist das noch gar nicht her. Aber in diesen Tagen strengen mich die einsamen und freudlosen Joggingrunden durch Wohnsiedlungen an. Deshalb – neuer Versuch – fahre ich seit kurzem mit dem Fahrrad zur Arbeit. 10 flache km.

Viele Menschen radeln mit mir denselben Weg oder sie kommen entgegen. In freundliche und verschlafene Gesichter blicke ich, manch eines lächelt mir zu. Ich atme die Frische des Morgens ein. Entlang einiger Sträucher mit unscheinbaren weißen Blütendolden fahre ich durch schweren, fruchtigen Duft. Abends pustet mir die Hitze ins Gesicht, sie fegt über Straßen und Felder, seit Tagen haben wir Sonne und Wind wie an der Küste. Anders als dort schimmern bei uns aber aufgeworfene Erdschollen feucht und dunkelbraun. Mächtige Bäume schunkeln im Takt der Böen, die durch ihr schweres Laub brausen.

Entlang der Spargelfelder mit ihren langen Reihen angehäufter Erde verliere ich meine Rastlosigkeit. Zwischen bunt gekleideten Arbeitern auf  Erdbeerfeldern verpuffen all die Befürchtungen, Griesgrämigkeit versickert auf satten Viehweiden und Radwegen mit Menschen, die mir ein Lächeln schenken. Außer Atem und völlig entspannt komme ich nach 40 Minuten an.

Das ist es, was ich im Moment brauche.

Das zweite Leben

Durch alle Himmel, Universen und Atmosphären und schließlich durch eine Windschutzscheibe stürzte heute vor einem Jahr ein mächtiger Engel. Mit Panzerflügeln stieß er die Gewalt des Aufpralls zurück, während ein schwarzer Audi in das Fahrzeug schoss, in dem mein Kind saß. Im selben Bruchteil dieser Sekunde preschte ein zweiter Kämpfer des Himmels vor. Er stemmte sich auf dem Fahrersitz über den Jungen, der dort wie eingefroren das Lenkrad festkrallte. Durch die kolossale Stärke dieser Beschützer blieben mein Sohn und sein Freund am Leben.

In einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Geräten und Monitoren fanden wir ihn. Tief in sich hinab gesunken lag er da und nichts zeigte Leben, nur seine Brust hob und senkte sich im Takt der Beatmungsmaschine. Ich strich über sein Gesicht und die Krämpfe in meinem Herzen wurden noch schmerzhafter. Seine Haut war so kühl.

Nie werde ich mir verzeihen, am Nachmittag dieses Pfingstsonntags den Anruf meines jüngsten Sohnes nicht angenommen zu haben. Ich erkannte seinen Namen im Display, doch wir waren bei Freunden und ich wollte mich nicht absondern mit dem Telefon am Ohr. „Es wird nichts Wichtiges sein“, dachte ich. Kurz darauf rief meine Tochter an. Genervt antwortete ich nun und erfuhr, dass die Polizei da sei, mit einem der andern Söhne ist etwas passiert, Genaueres sagen sie nicht, nur den Eltern. Die nicht da waren. Zehn Minuten lang ließ ich mein jüngstes Kind in höchster Not allein, so wie ich meinen anderen Sohn allein gelassen hatte, der verunglückte, und wenn es auch nichts geändert hätte: ich war nun einmal nicht da, als meine Kinder mich am meisten brauchten. Nie wieder werde ich sie vertrauensvoll verabschieden können, wenn sie auf Reisen gehen, und nie wieder habe ich seither ein Telefon klingeln lassen, wenn sich von der Familie jemand meldet. Noch heute erschrecke ich manchmal, wenn eins der Kinder anruft und dann nehme ich hektisch ab, um zu wissen, ob alles in Ordnung ist.

Mein Leben ist wackelig geworden seither. Mir ist, als befinde ich mich auf einem dieser Riesenteller, wie sie auf manchen Spielplätzen stehn. Wenn man sich draufsetzt, gibt die Scheibe nach und es ist eine Kunst, sie zu erklettern und die Balance zu halten.

Ins Ungewisse

Mit all dem Metall im Körper hätte der Flughafendetektor Funken sprühen müssen. Aber mein Sohn ging durchs Tor und es kam kein Piep. In Ruhe steckte er seine Geldbörse wieder ein, die in einer Wanne zusammen mit anderem Zeug durchleuchtet worden war. Er nahm seine Sachen wieder an sich, schnallte den Gürtel um und schaute zu uns. Ich streckte den Daumen nach oben und er winkte scheu, lud seinen Rucksack über die Schulter und verschwand. Na Bravo, dachte ich. Wenn ein Terrorist erfährt, dass die Detektoren an diesem Flughafen heute falsch oder gar nicht eingestellt sind, kann er mit einem Gewehr an Bord gelangen.

Die Maschine wurde dann doch nicht entführt, Gott sei Dank. Knapp eineinhalb Stunden später landete sie in London und der Junge schaffte es mit Taxi und Zug nach Brighton, wo er die nächsten drei Monate leben wird. Dieses Abenteuer war lange sein Traum. Er war ausgelöscht worden vor einem Jahr, als dieser Audi in den Alpha fuhr, in dem mein Sohn als Beifahrer saß. Danach konnte er sich monatelang nicht einmal erinnern, einen Traum je gehabt zu haben. Wichtig war da nur, dass er lebte. Dass die Hirnblutungen abheilten und zahllose Nägel und Platten ihn so zusammenhielten, dass er eines Tages aus dem Rollstuhl wieder aufstehen konnte. Aber irgendwann, als Operationen und Rehabilitation hinter ihm lagen, kam er zurück: Der Wunsch, Neues kennen zu lernen, ein anderes Land, England. Da fing er an zu planen.

Wir telefonierten heute kurz mit der Familie, in der er untergebracht sein wird während des Sprachkurses. Es beruhigt mich zu wissen, dass diese Leute wirklich existieren und er in Sicherheit ist. Ich weiß, es klingt blöd, der Junge ist 21 und er findet sich zurecht. Auch seine Geschwister haben Auslandsaufenthalte hinter sich und in Gefahr ist man zu Hause sowieso nicht weniger. Trotzdem. Ihn gehen zu lassen ins Ungewisse, war schwer. Ich habe das Vertrauen nicht mehr, dass immer alles gut geht. Manchmal geht es auch schief, wie wir jetzt wissen,  und ich  kann ich nur beten, ganz fest, dass keinem der Kinder je wieder etwas zustoßen wird.

Täuschungen

Sein kleiner Körper presst sich mit dem Rücken an die Wand, der mächtige Vater erhebt seinen Arm. Seit langer, langer Zeit hat er geschimpft und geflucht, er wollte nicht aufhören damit. Ganz klein macht sich der Bub. Er fürchtet die Schläge, doch es geschieht etwas anderes.

Verschreckt schlägt er die Augen nieder, sein Blick wandert nach unten und was er entdeckt, macht ihn schwindelig. Plötzlich trägt er nämlich kein kariertes Hemd mehr und kurze Hosen, sondern einen dunkelgrauen Anzug mit weinroter Krawatte. Er zupft an ihr, als habe er noch nie eine gesehn, jedenfalls nicht an sich, da entdeckt er Haare auf seinem Handrücken. Er sucht nach einer Erklärung, auch für den Ehering, der auf einmal an seinem Finger steckt. Als ob dicker Nebel sich langsam verzieht, erkennt er nun Schemen und ihm dämmert, was schließlich klar wird: Er ist gar kein Junge mehr. Vor ein paar Wochen wurde er fünfundvierzig Jahre alt, einszweiundachtzig ist er groß und fünfundneunzig Kilo schwer. Jetzt guckt er hoch.  Sein Vater steht immer noch da, klein geworden und stumm.

Der Junge, der kein Junge mehr ist, schaut sich um. Wo blieb das Ungeheuer, das ihn Zeit seines Lebens verfolgte und ängstigte? Er sieht keins. Er sieht einen zerfurchten kleinen Mann, dem er nichts zu sagen hat, und er geht. Unsicher schaut der Vater ihm hinterher.