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So ist das Leben

Ich sitze bei meiner Mutter im Aufenthaltsraum, der Duft nach Kartoffelbrei und Bratensoße wabert in unsere Nasen, bald gibt es Essen. Sechs Bewohner und Bewohnerinnen haben an dem Tisch Platz genommen, an dem wir sitzen, Rollatoren parken an der Wand. An einem weiter entfernt stehenden Tisch beugt sich ein ausgemergelter kleiner Mann über einen Trinkbecher, in dem ein Strohhalm steckt. Der Mann ist allein am Tisch, niemand wurde zu ihm gesetzt und jeder weiß, warum.

Vor einigen Wochen, als ich meine Mutter ebenfalls in der Mittagszeit besucht hatte, war dieser Mann an ihren Tisch geschoben worden. Kaum hatte sich der Pfleger entfernt, begann der Mann geräuschvoll und ohne vorgehaltene Hand zu husten. Er hustete immer stärker, quer über den Tisch. Er hustete, als ob sein Leben davon abhinge, die höchstmögliche Lautstärke zu produzieren und es schien, als ob in seiner Brust nichts zu finden sei, das diesen Husten rechtfertigen könnte und er ihn deshalb gewaltsam herauspresste, sodass seine Augen hervortraten und das Gesicht rot anlief, wir hatten alle Angst, dass gleich ein Lungenflügel mit herausschießen und neben den Blumendekorationen oder gar auf einem der Teller landen würde.

Angesichts dieses Spektakels kam das Plaudern am Tisch zum Erliegen. Nur eine kurzatmige Frau murmelte vernehmlich zu ihrer Sitznachbarin: „Wer ist das? Der sitzt doch sonst nicht bei uns?“ Da hörte der Mann plötzlich auf zu husten und schnappte nach Luft, als hätte der Sinn des Ganzen einzig und allein darin bestanden, die Wahrnehmung der anderen auf sich zu lenken, auf welche Art auch immer. Alle richteten verstohlene Blicke auf ihn, doch dann entlud sich eine neue Welle dieses fürchterlichen Hustens. Die Frau sah ihn jetzt ärgerlich an und sagte: „Hören Sie doch auf, es wird einem ja schlecht.“

Seither gehört der Husten des neuen Bewohners zum Hintergrundgeräusch hier. Inzwischen wird das Essen verteilt, der Servierwagen bewegt sich zwischen den Tischen, ich verabschiede mich. Als ich an der Verbindungstür angekommen bin, wende ich mich noch einmal um zu meiner Mutter. Sie sitzt aufrecht da und schaut mir mit einem konzentrierten Blick hinterher, als wolle sie sagen: „So ist das Leben. Man kann sich nicht alles aussuchen.“

Ich muss lächeln und winke ihr noch einmal zum Abschied. Im Augenwinkel sehe ich den Mann, der wieder zu husten beginnt. Ein Mädchen hat sich inzwischen zu ihm gesetzt und hilft ihm beim Essen.