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Komische neue Welt

Zurück bei der Arbeit (stundenweise vorerst) merke ich erst, wie mir die Kolleginnen und Kollegen gefehlt haben. Neun Wochen sind lang. Wir stehen da mit maskierten Gesichtern und freudigen Augen, dürfen uns aber nicht in die Arme fallen. Ich seufze.

Dann fahre ich den Computer hoch und wurstle mich durch all das Liegengebliebene. Mein Büro ist klein und das Fenster geschlossen, weil es sonst zieht. Ein Dozent kommt herein, schließt die Tür, lässt sich auf dem Besucherstuhl nieder. Ich setze meine Maske auf, er nimmt seine ab. „Lass nur, wir sind ja unter uns,“ sagt er. Als täte er mir einen Gefallen, wenn er nicht auf die Maskenpflicht besteht.

Ich stelle immer wieder fest, dass die Unangepassten wegen der Einschränkungen mehr Gewese machen. Dieser Dozent ist auch so einer mit Ecken und Kanten, an sich ist das in Ordnung aber ich bitte ihn trotzdem, seine Maske wieder aufzusetzen. Er schaut mich mit großen Augen an.

Warum muss ich erst darauf hinweisen, dass ich Asthma habe und mein Lebenspartner im höheren Alter ist? Warum fühlt es sich an, als habe ich gerade etwas ganz Schräges verlangt?

Ungern setzt er die Maske wieder auf und geht bald wieder. Auch recht.

Morgenkontemplation

Auf dem Weg zur Arbeit betrachte ich jeden Morgen ein Fräulein in einem Glaskasten. Dieser klebt an der Frontseite einer kleinen Maschinenfabrik und mein Radweg führt eine Weile lang direkt darauf zu.

In dem Kasten sitzt das Fräulein: schmal, ein wenig verhuscht, mit kinnlangem, bräunlich gelocktem Haar und sommers wie winters in einem dünnen Blüschen. Stets blickt sie angestrengt auf einen kleinen Computerbildschirm und kommt ihm mit dem Gesicht einen Tick zu nahe. Selbst aus der Ferne meine ich zu erkennen, dass sie nicht mehr ganz jung ist und eine Brille braucht. Niemals habe ich sie mit einer anderen Person gesehen.

Auch befindet sich der Zugangsbereich mit Lagerhallen, Gabelstaplern, Parkplätzen und dem Eingangsbereich auf der hinteren Seite des Gebäudes, sodass nicht ganz klar ist, wozu es das alles überblickende verglaste Büro auf der Vorderseite braucht. Vielleicht waren die Nutzflächen früher einmal anders angeordnet, oder es ist eine veränderte Einteilung für die Zukunft geplant.

Oder: das Fabriklein hat längst zugemacht, aufgekauft von einem dicken Konzern, und das Fräulein hat man einfach vergessen. Vielleicht ist ihr Gehaltszettel zwischen denen von 5000 weiteren Konzern-Mitarbeitern an anderen Standorten versunken und der Wareneingang ist gar kein Wareneingang, sondern der Zugang zu Abstellflächen für veraltete Ersatzteile, die der neue Eigentümer noch nicht wegwerfen möchte. Dem Fräulein auf der Vorderseite erscheinen aber Bewegungen im Bestand, und unberührt vom Treiben da draußen werden diese von ihr gewissenhaft verbucht und auswertet, wie sie es immer getan hat, und ihre Listen verschwinden vielleicht in den Tiefen eines Verzeichnisses, von dem niemand weiß außer sie selbst.

Dies ist der momentane Status meiner Überlegungen. Jeden Morgen sinne ich ein paar Minuten lang darüber nach, wie alles sein könnte, so wie andere im Yogasitz oder beim Gebet verharren, um inspiriert in den Tag zu kommen.

Und was begegnet euch auf dem Weg zur Arbeit?

Das Irina-Konzept

Morgens im Büro: Ich habe Irina etwas auf den Tisch gelegt und warte, dass sie es abzeichnet, damit ich das Dokument gleich wieder mitnehmen kann.
„Hey“, sagt sie, „was bist du so hektisch? Du siehst mich gar nicht an!“ Jetzt sehe ich sie an – perplex. Sie lacht. „Ihr Deutschen … immer arbeiten, immer in Eile, aber die Kollegen sind doch auch da.
„Irina,“ ich lege den Arm um sie, drücke sie ein wenig, wir mögen uns, „ich komme hierher zum Arbeiten und nicht, um Kollegen anzuschauen!“
„Aber du musst auch die Menschen sehn. Nicht nur Arbeit.“
Dann betrachtet sie meinen funkelnden Fingerring und wir reden ein wenig über Schmuck. Ich wage nicht wegzulaufen, obwohl mein Schreibtisch voll ist. Erst als es um ihre perfekt gepflegten, korallenroten Fingernägel geht und sie auch meine lackieren will, jetzt und hier – den Nagellack hat sie offenbar in der Handtasche – mache ich mich lachend aus dem Staub.

Irina stammt aus Russland und sie klagt oft, dass ihr die Arbeit über den Kopf wächst. Trotzdem findet sie immer wieder Zeit, mit Kollegen, Dozenten und Kursteilnehmern ein Schwätzchen zu halten. Dann ruft sie gutgelaunt „Chaallo, wie warr dein Urlaub“, lacht ihr zwitscherndes Lachen und die um sie herumstehenden Leute scheinen ihre besten Freunde zu sein.

Ich glaube, diese Plaudereien sind für sie Teil ihrer Arbeit. Der Schmierstoff sozusagen. Der Respekt, das Interesse, die Wertschätzung.

Wir Deutschen machen das anders. Ich weiß jetzt grad nicht genau wie, anders eben, und vielleicht manchmal auch gar nicht, aber wir kriegen mehr geschafft.

Wer hat Recht?

Me is boring

Seit zwei Wochen fällt mir dieser Satz immer wieder ein. Er stammt von einem meiner Kinder und heißt übersetzt (man kommt nicht ohne weiteres darauf): Mir ist langweilig. Vor Jahren schuf das Kind diesen Satz unter Nichtbeachtung aller Regeln der englischen Sprache, und doch fand er Eingang in den Familienjargon und wird noch heute verwendet. Selbst vom geliebten Briten.

Ich habe mich seit meiner Kindheit nicht mehr gelangweilt, doch seit Kurzem verfüge ich über viel Zeit. Tatsächlich überlege ich manchmal, was ich als Nächstes tun könnte. Es gibt nichts Wichtiges zu erledigen, nachmittagelang, ebensogut könnte ich auch nichts tun, was dem Sachverhalt der Langeweile nahe kommt. Aber soweit ist es noch nicht, es ist nur ungewohnt, tagsüber ein Buch zu lesen oder einfach das Fahrrad herauszuholen und zu erkunden, ob sich der Frühling schon irgendwo sehen lässt.

Wie kommt das? Ich habe eine Arbeitsstelle, aber da geh ich ja nur vormittags hin. Die Nachmittage und oft auch die Abende oder Wochenenden verbrachte ich bisher als freiberufliche Übersetzerin. Und nun hatte ich endlich den Mut, meinen größten Kunden aufzugeben. Ich stehe nicht mehr zur Verfügung, sagte ich. Übrig sind ein paar kleinere Auftraggeber und deshalb habe ich Zeit. So viel wie seit Jahren nicht und wenn, dann war es aus keinem guten Grund. Aber jetzt? Ich bin gesund, ich habe Arbeit, und ich habe Zeit.

Die Einkommenssituation verändert sich natürlich, aber ich lebe nicht allein, und Materielles bedeutet mir nicht viel. Wozu also der Aufwand? Ich geh nachmittags lieber in die Stadt. Bummeln. In die Bücherei. Vielleicht rufe ich eine Freundin an und verabrede mich, wenn sich überhaupt noch eine an mich erinnert. Nächste Woche habe ich einen Friseurtermin und es macht mich nicht nervös, denn: Ich werde Zeit haben.

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Alltag Reloaded

In der Regel bewegt sich der Mensch Tag für Tag zwischen zwei Orten hin und her: dem Zuhause und der Arbeitsstelle. Ich mache das nicht. Ich bleibe jetzt immer zu Hause, tue aber alles, dass es sich wie Arbeiten anfühlt: Ich stehe früh auf, setze mich an den Schreibtisch, wenn Übersetzungsaufträge kommen, räume ansonsten ein Zimmer nach dem andern aus und wieder ein, damit alles sauber und ordentlich ist. Das muss schon sein, ich bin ja gerade erst eingezogen.

Außerdem habe ich Zeit. Danach sehnen sich alle, ich Glückskind. Gestattet mir aber den Hinweis, dass viel Zeit mit wenig Geld einhergeht, wenn eine derart freie Tagesplanung damit zu tun hat, dass man „dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht“. Gestattet mir den zweiten Hinweis, dass eine Arbeitsstelle nicht nur eine Einnahmequelle ist, sondern auch ein Gerüst, an dem Rosen hochklettern und die Zwischenräume mit Blüten und Blättern füllen: also strikt einzuhaltende Vorgaben zum täglichen Handeln, aber auch der gelungene Arbeitsschritt, das nette Wort, der Spaß in der Kaffeepause. Das Gerüst zu Hause ist dagegen dünn, wackelig, und höchstens ein paar magere Trichterwinden versuchen, daran hochzukommen.

Jetzt brauche ich Freunde. Zum Reden, zum Lachen. Glücklicherweise habe ich sie.
Und euch, mit denen ich das Eine oder Andere teilen kann.
DANKE!

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Platz frei

Gestern habe ich

– zum letzten Mal vor der Hochschule geparkt
– zum letzten Mal in einem Büro darin den Computer hochgefahren
– zum letzten Mal dort eine Tasse Kaffee getrunken
– zum letzten Mal mit den Kollegen gequatscht und herumgealbert
– zum letzten Mal den Computer ausgeschalten
– zum ersten Mal geheult, als ich die Ausgangstür aufdrückte und das Gebäude verließ.

Danach ging ich zum Friedhof. Die Pflanzen auf dem Grab meiner Mutter blühen immer noch üppig und ich zog – nach fast drei Monaten – die Trauerbänder aus den Schalen. Die Sonne ließ die Umrisse der Bäume, die weiter vorne am Weg entlang eine Arkade formen, zu einem Lichtkranz aufleuchten. Darunter blieb es trüb, und aus dieser Düsternis heraus tauchte ein Mann auf. Er trug einen schwarzen Mantel und hielt mit starrer Geste ein Holzkreuz in die Höhe. Mehrere dunkel gekleidete Menschen folgten ihm, der kleine Zug kam mir langsam entgegen. Mich schauderte, ein scharfer Wind blies mir die Haare aus dem Gesicht, die Sonne wärmt nicht mehr. Ich zupfte noch ein paar trockene Blättchen ab und machte mich auf den den Heimweg.

Meertau hat kürzlich in einem Kommentar etwas Mutmachendes geschrieben: „Ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Wer ich mal werde, weiß ich noch nicht. Aber der Platz für mich ist schon frei.“

 

Wolken (2)

Abb. © SylviaWaldfrau Weiterlesen

Funfsig Sänt

Vor ein paar Wochen fragte mich eine Freundin, ob ich denn jede Art von Arbeit annehmen würde, wenn mein jetziger Vertrag ausgelaufen ist. „Nein“, antwortete ich. „Das Leben ist zu kurz für Dinge, die nicht zu mir passen.“

Heute stehe ich bei Penny an der Kasse und beobachte die füllige Frau im roten Kittel. Sie ist um die fünfzig und trägt das stark blondierte Haar mit rosa Kämmchen zurückgesteckt. Energisch zieht sie die Waren über den Scanner, dann ruft sie: „Neun funfsig“. Ihre Augen wandern für einen Moment nach oben, als wäre ein YinYang-Symbol auf die Rigips-Decke gemalt, dessen Anblick eine Sekundenmediation auslöst. Ihr Blick kehrt nach innen, wo sie dem Anschein nach eine geordnete Welt vorfindet, die keiner weiterführenden Gedanken bedarf. Der alte Mann vor mir legt einen Zehn-Euro-Schein hin. Sie erwacht sofort und alles ist wieder wie vorher. „Dankeschään“ singt sie routiniert, klemmt das Geld an die Kasse und schnarrt: „Chaben Sie funfsig Sänt klein?“

In diesem Augenblick beneide ich die Frau. Sie hat Arbeit. Sie ist im Einklang mit sich und dem Leben. Vielleicht darf man nicht zu wählerisch sein.

Konzentriert betrachte ich die nun an mir vorbeiziehenden Bananen, Tempos und Tiefkühlerbsen. Lass dich nicht hängen, ermahne ich mich. Kein Grund zur Panik. Für mich wird sich auch wieder ein Türchen öffnen. Wirst schon sehn.

On the road again

Am liebsten würde ich leben wie in einem Reisebus. Start, Ziel, Ankunft – alles geplant. Nach jeweils zwei bis drei Stunden würden Zwischenstopps eingelegt zur Erfrischung oder um etwas anzuschauen. Eine malerisch gelegene Burgruine zum Beispiel oder einen Bergsee, an dessen eleganter Promenade es Eiscreme zu kaufen gäbe. Die Tourismusindustrie kennt das Bedürfnis der Menschen nach Komfort, Erwartbarkeit und angenehmen Überraschungen. Die Fernreise im voll klimatisierten Bus mit seitlich und rückwärts verstellbaren Sesseln sowie unterwegs ein paar Oh‘s und Ah‘s kann man deshalb als Komplettpaket buchen.

Im Bus des Lebens lässt sich der Streckenverlauf weit schwerer vorhersagen. Man muss froh sein, wenn das Ziel überhaupt näherkommt, denn darauf gibt es keinen Anspruch. Die Sitze werden auf manch einer langen Fahrt eng und man will nur noch ankommen. Die Straßenschilder mit den Entfernungsangaben bleiben jedoch immer gleich: 798 Kilometer. Wer Mut hat, kann sich aus dem fahrenden Bus fallen lassen mit dem Risiko, sich zu verletzen und der Wahrscheinlichkeit, dass dieser Ort nicht die erträumte Anzahl an Sonnentagen garantiert.

Und dann bleibt so ein Bus mitunter auch noch mitten auf der Strecke stehen. „Aussteigen,“ heißt es dann ohne weitere Erläuterungen, man wird ausgespuckt wie zerbissener Kaugummi. Da steht man dann und findet sich allein mitten auf der Autobahn, orientierungslos, ratlos, andere Fahrzeuge brausen vorbei und keines hält an. Die Raststätte ist geschlossen, der Parkplatz leer.

So geht es mir gerade.

Meine geliebte Arbeitsstelle im Förderprojekt eines Bundesministeriums wird es bald nicht mehr geben. Das Projekt wird eingestellt. Unsere Verträge laufen im Herbst aus.

 Bus

Die passende Musik zur Stimmung habe ich gerade bei finbarsgift gefunden.

Die Sommerstars

Die wahren Helden dieser Tage sehe ich auf der Fahrt über eine Brücke. Die wird gerade saniert und ich stehe im Stau, in der Hitze klebt mir die Bluse an den Leib und die Frisur beginnt zu tropfen. Ich beobachte die braun gebrannten Kerle auf der Baustelle. In der heißen Sonne schieben sie Rüttelmaschinen vorwärts und schreiten neben Walzen einher, es wird gefräst, gesprüht, gestampft, gedampft, die Schultern glänzen vom Schweiß und den einzigen Schatten spendet eine Schildmütze, die der Eine oder Andere sich tiefer ins Gesicht zieht.

Fast jede Arbeit kann von Männern wie Frauen verrichtet werden, selbst Fußballspieler sind keine Ausnahme, wie das Team von Silvia Neid vor kurzem wieder klar gemacht hat. Aber Straßenarbeiter, die wochenlang bei dreißig bis vierzig Grad Celsius schuften – ich würde mal sagen: Das können nur Männer. Also: richtige Männer. An dieser Stelle deshalb ein Gruß aus tiefster Bewunderung und ehrlicher Überzeugung: Jungs, ihr an den Straßen und anderen Baustellen: Ihr seid die Größten!

Pragmatisch, klassisch, gut

Das wünscht sich jeder: Im Outlook-Kalender steht: „Bewerbungsgespräche“, und man wird auf der anderen Seite sitzen. Auf der entspannten. Wir brauchen nämlich zwei weitere Mitarbeiter in unserem Team, und ich gehöre zu einer Kommission aus sechs Leuten, um die armen Kandidaten einzuschüchtern: Vorgesetzter, Abteilungsleiterin, Personalreferent, Frauenbeauftragte, Schwerbehindertenbeauftragter, und ich. Die künftige Kollegin.

Nacheinander nehmen vier junge Leute und eine Mittvierzigerin auf dem Bewerberstuhl Platz. Alle sind qualifiziert und ich hatte erwartet, dass auch alle „irgendwie gleich“ auftreten, wie man es eben lernt in den Karrieretipps im Internet oder in den Broschüren vom Arbeitsamt. Tatsächlich ist aber die eine zu schüchtern, der andere flapsig, die dritte unvorbereitet, der vierte ein Selbstdarsteller. Und dann kommt ein junger Mann, frisch gebügelt im Anzügle und mit Krawatte an diesem heißen Sommertag, und der schaut uns konzentriert an, antwortet pragmatisch, weiß, worauf es ankommt und verzichtet auf Eigenreklame. Vor uns sitzt ein intelligenter Erwachsener mit einem Jungengesicht. (Süß!). Den nehmen wir.

Und natürlich den klaren Sieger der Veranstaltung: Was Fachwissen und Auftreten betrifft, kann der „älteren Dame“ niemand das Wasser reichen. Kompetent, lebendig, schnörkellos. Eine Frau, die weiß was sie kann, was sie will und die keine weitere Aufmachung braucht. Hundert Punkte für Qualitäten, die auch heute noch Bestand und mit dem Alter nichts zu tun haben.

Jobgeflüster

Die größte Schwierigkeit bei meiner neuen Arbeitsstelle besteht darin, den Kaffeebecher vom ersten in den dritten Stock zu transportieren. Auf der Treppe kann man nämlich leicht von einem um die Ecke flitzenden Studenten umgerannt werden. Die jungen Leute sind ja die Einzigen, die ich hier mal in Eile sehe, und wahrscheinlich haben sie auch nur zu viel Feuer und könnten ebenso gut langsam gehen.

Oben angekommen muss ich aber noch die richtige Tür finden, auch das ist nicht einfach. Man kommt nämlich von der Treppe in einen geräumigen Flur, aus dessen Mitte ein mächtiger Holzbalken wächst und genau meine Bürotür verdeckt. Immer wieder will ich in den falschen Raum, nämlich in den daneben, und jedes Mal ist er abgeschlossen, zum Glück. Der richtige ist ein schummriges kleines Büro mit schmalem Kastenfenster, vor dem die herbstlichen Reste einer mächtigen Buche hin- und herschaukeln.

Nun ist alles unter Kontrolle. Ich balanciere den Kaffeebecher an den Schreibtisch und mache mich an Harmloseres: an meine Arbeit. Was ich hier tue, tue ich gern: ich schreibe. Ich schreibe Texte für Broschüren, Flyer oder die Website, und wenn ich Lust habe etwas anders zu tun, dann mache ich etwas anderes. Ich bin fürs Marketing eines Forschungsprojekts zuständig, mehr hat man mir nicht gesagt. Und so schöpfe ich aus der Erfahrung meiner vergangenen Berufsjahre, und möchte hier nie wieder weg.

Einstiegsshow

Eine Frau unbestimmten Alters und mit einfallsloser Kurzhaarfrisur zieht einen kleinen Holzkasten aus dem Regal. Sie setzt ihn auf dem Schreibtisch ab und was ich zu sehen bekomme, habe ich lange nicht mehr gesehen. Ich wusste gar nicht, dass es das noch gibt. Wir befinden uns im Jahr 2012, Computer und Datenverarbeitung sind erfunden, und hier krabbelt jemand mit den Fingern durch ein Bündel Karteikarten. Ich war geheißen worden, mich auf einen Stuhl zu setzen und verfolge das Geschehen wie eine Filmszene, die vor hundert Jahren in einer Amtstube spielt.

Die Frau fischt nun eine Karte heraus, legt sie behutsam auf den Schreibtisch und beugt sich darüber, um in Schönschrift eine Eintragung vorzunehmen. Dann nimmt sie von einem Stapel grüner Karten die oberste, hämmert einen Stempel darauf, schiebt sie in eine Plastikhülle und reicht sie mir herüber. Mein Parkausweis.

Dann tippt sie etwas in die Tastatur ihres PCs, der durchaus zur Ausstattung gehört, nun fängt der Drucker neben mir an zu schnaufen und spuckt zischend ein Blatt aus, auf dem zwei Wörter stehen: mein Name. Die Frau greift nach dem Papier und zieht mit einem Lineal feine Linien um die Wörter, schneidet sie mit der Schere akurat aus und gibt mir auch das. „Für das Postfach-Schild“.

Ich arbeite jetzt im öffentlichen Dienst.

Rechen- und andere Aufgaben

Ich bin in einen dunklen, holzgetäfelten Speiseraum geführt worden und nehme an einem langen Tisch Platz. Man erklärt mir, dass in der Früh beim Vorbereiten der Lunchpakete zu helfen sei, ansonsten handle es sich bei der Stelle um das Entgegennehmen von Reservierungen, Check-in, Check-out, oder mal eine Glühbirne auswechseln. Das traue ich mir zu. An der Rezeption einer Jugendherberge kann man wenig falsch machen, mit den Lunchpaketen schon gar nicht. Eine nette Tätigkeit, stundenweise, ohne blutspeiende Höllenhunde vor dem Schreibtisch. Hoffe ich.

Die Leiterin, eine hagere Frau in grünem Sommerkleid, schließt nun ihre Mappe und wirft mir einen fragenden Blick zu. „Könnten Sie sich das vorstellen?“ An die Schichtarbeit würde ich mich gewöhnen müssen, aber arbeiten im frischen Wind von jungen Menschen? „Ja, es wäre schön, wenn es klappt.“

Zu Hause wirbeln wilde Kalkulationen durch meinen Kopf. Wie kann ich genug Geld zusammen bringen? Ich bräuchte in größerem Umfang Übersetzungen oder etwas anderes, um leben zu können. Finde ich Möglichkeiten? Und wird bei so geringem Verdienst später einmal meine Rente reichen? Ein Jahr ist es her, dass ich aus dem Jobkarrussel ausgestiegen bin oder besser herausgeschleudert wurde. Bis dahin war ich ein gutes Einkommen gewöhnt. Was sich jetzt anbahnt, ist mir völlig neu. Ohne den vollen Einsatz im Beruf gerät man leicht in eine Abwärtsspirale.

Einstellungssache – II

Schade um das Essen. Die Fleischscheibe, die ich mir in der Küche eines Sternekochs vor ein paar Tagen auf den Teller legte, zerging auf der Zunge, ein fantastisch zarter Gaumenkuss mit Meerrettichsoße, etwas so Feines habe ich lange nicht bekommen. Das Personal zahlt hier einen geringen Monatsbetrag und kann sich dann nehmen, was das Haus zu bieten hat. Jeden Tag essen in einem Spitzenrestaurant, das wär schon was gewesen! Dennoch entschied ich mich dagegen.

Dabei machte der Probetag richtig Spaß. Im dazugehörenden Hotel spazierten Geschäftsleute hin und her, Amerikaner vor allem, spannend. Sympathische Mitarbeiter wuselten herum wie in einem Ameisennest, es wurde gerufen, gelacht, gelärmt, auf vornehme Zimmerlautstärke heruntergedreht, wenn ein Gast in der Nähe war. Die Anmeldung duckt sich ein wenig zerschrammt in eine Nische, wir befinden uns in einem fast tausend Jahre alten Gebäude. Es ist natürlich aufgefrischt worden, aber so hochglanzpoliert und leblos wie viele moderne Häuser kann es nie sein, man findet Spuren eines langen Daseins. Ich mag das. Ein kleines Familienunternehmen hat es hier jedenfalls geschafft, zu einer großen Adresse zu werden, und es sucht jemanden für den Empfang.

An die Schichtarbeit hätte ich mich gewöhnen müssen, und nein, Geld gibts auch nicht viel. Gastronomie eben. Aber wenn man sich am Arbeitsplatz fühlt wie ein Fisch im Wasser, dann verschwimmt mancher Einwand. Trotzdem werde ich hier nicht arbeiten, denn heute traf ich einen Freund, der die Inhaber kennt. Er bestätigte, was ich von anderen Quellen schon weiß: Man wird hier nicht gut behandelt. Überhaupt nicht gut.

Es ist schwer, so etwas ernst zu nehmen, wenn man sich in eine Stelle verliebt hat und Ausflüchte sucht: irgendwas ist überall. Ich weiß doch, was ich kann, und ich werde mich behaupten, bin schließlich ein Profi, der Job ist es wert. In diese Falle tappte ich vor drei Jahren schon einmal. Ich hatte bei einer neuen Stelle dieselben Warnungen erhalten, sagte trotzdem zu und heute weiß ich nicht mehr, was ich kann und ob ich überhaupt etwas kann, und ein Profi bin ich auch nicht mehr. Das ist kein Job wert.

Verflixt. Es ist trotzdem schwer, sich von einer Möglichkeit zu verabschieden, bevor man sie richtig kennt. Aber … nein. Ich werde dort nicht arbeiten.

Einstellungssache

Eine Asiatin betritt den Raum. Die Übersetzerin einer exotischen Sprache, ist mein erster Gedanke, schwer zu finden und teuer. Es ist aber die Reinemachefrau, die jetzt einen Eimer abstellt, und ich befinde mich in keiner Sprachagentur, sondern in einem Industriebetrieb im Vorzimmer des Geschäftsleiters. Seine Assistentin hat mir an ihrem Schreibtisch Platz gemacht. Die junge Frau, die bald Mutter wird, schiebt einen Apfelschnitz in den Mund, zerrt den Papierkorb aus der Ecke und fährt fort, mir eine Verzeichnisstruktur zu erläutern. Vielleicht werde ich ihre Nachfolgerin. Ich bin hier bei einem Probe-Arbeitstag, weil es so schwer ist, vom Übersetzen zu leben.

Die Asiatin kommt näher, ein kurzer Blick huscht zu mir, weil sie mich noch nie gesehen hat. Ich lächle ihr zu und hebe einen Papierstapel hoch, während sie mit einem Tuch auf der Tischplatte herumwedelt. Sie lächelt unsicher zurück, leert dann hastig den Papierkorb und macht sich auf leisen Sohlen davon. Vielleicht hat auch sie sich Manches anders vorgestellt. Das Leben ist kein Ponyhof.

Wölkchenversuche

Hunderte Obstbäume haben Blüten geschoben und wissen nun nichts damit anzufangen. Auf  Stromleitungen sitzen Amseln wie aufgefädelt und beobachten, wie kalter Landregen den Frühling fortspült, der Wind bläst einem Spaziergänger den Mantelkragen hoch. Scheißwetter. Ich sitze an einer Übersetzung, auch am Sonntag (wenigstens ist damit ein bisschen Geld verdient), und stolpere über einen Wölkchenversuch.

Keine Frage: Der Blick aus dem Fenster zeigt, dass es draußen nicht beim Versuch geblieben ist, doch welche Wölkchenversuche könnten beim Test eines Fahrzeuggetriebes gemacht werden? „Versuchsprogramm – Einlegestatistik (Wölkchenversuch)“.

Keins meiner Wörterbücher kennt den Begriff, und bei meiner Recherche falle ich wegen drei Dingen aus allen Wölkchen:

  1. Es gibt etwas, das Google nicht kennt: Wölkchenversuche.
  2. Die Übersetzerin (ich bin die Korrekturleserin) schon: Cluster trial.
  3. Google kennt auch Cluster trial nicht.

Egal. Cluster hat was mit Wölkchen zu tun, und Google findet immerhin cluster randomized controlled trials (RCT), na also, abhaken. Die Übersetzung ist korrekt, wieder was g’lernt, und der Tag war doch nicht umsonst.

Maßstäbe

„Der Bräutigam meiner Tochter war ältester Sohn und Enkel, ein hochgewachsener, kräftiger blonder Bursche mit polynesischem Temperament, der seine Zeit mit angenehmen Vergnügungen auf seiner Jacht, im Strandhaus, mit seiner Autosammlung und unschuldigen Festen vergeudete. Mein einziger Einwand war, dass dieser potentielle Schwiegersohn weder eine Arbeit hatte noch studierte, sein Vater ließ ihm eine großzügige Rente zkukommen und hatte ihm ein völlig eingerichtetes Haus versprochen, wenn er Paula heiratete. Eines Tages kam er zu mir, bleich und zitternd, aber mit fester Stimme, um mir zu sagen, wir sollten doch mit den Anspielungen aufhören und Klartext reden, er habe meine verfänglichen Fragen satt. Er erklärte mir, in seinen Augen sei die Arbeit nicht eine Tugend, sondern eine Notwenidgkeit, wenn man essen könnte, ohne zu arbeiten, würde nur ein Dummkopf schuften. Er verstand nicht unseren zwanghaften Drang zu Opfer und Mühen, er glaubte, selbst wenn wir „ungeheuer reich“ wären, wie Onkel Ramón immer sagte, würden wir immer noch in aller Frühe aufstehen und zwölf Stunden täglich ackern, weil das in unseren Augen das einzige Maß für Rechtschaffenheit sei.“

Die Rede ist von einem jungen Mann aus Venezuela, diese Stelle aus dem Buch „Paula“ von Isabel Allende fiel mir in den letzten Wochen immer wieder ein. Abends vor allem, so ab sieben oder acht Uhr, wenn ich immer noch vor dem Bildschirm saß und deutsche mit englischen Sätzen verglich. Freischaffende haben eben andere Arbeitszeiten, tröstete ich mich, und die langen Stunden am Schreibtisch machen mich weit weniger nervös als Tage, an denen nichts zu tun ist. Ich würd gern mal eine Zeitlang Südamerikanerin sein und mich an ruhigen Tagen einfach aufs Sofa legen und einen Mittagsschlaf halten. Als Deutsche könnt ich das nie.

Gebongt!

Man will seine Zeit ja nicht tatenlos absitzen. Anstatt also Bücher zu lesen oder lange Spaziergänge zu machen, womit nachweislich kein Geld zu verdienen ist, habe ich die letzten zwei Wochen gebastelt. Am PC, und ganz allein. Jetzt hab ich eine Website, seit 10 Minuten ist sie online: www.exiga.de

Gut, gell? Und jetzt schau ich mal in den Bücherschrank.

Jubel!

Hey Leute, ich hab mein Übersetzungsprogramm kapiert! Trados, falls das irgendjemandem was sagt. Nach wochenlangen erfolglosen Eigenversuchen dachte ich schon, ich bin komplett verblödet, das Ding ist wirklich komplex. Und jetzt – nach nur einer Schulung (es folgen weitere) kann ich ein Projekt anlegen, mit Translation Memorys umgehen, Termbanken und Autosuggest-Wörterbücher einfügen und alignieren. Funktioniert alles! Muss das grad mal loswerden.

Es ist nämlich so: Man glaubt, alles und jeder verabschiedet sich, weil man etwas nicht beherrscht. Oder nicht gleich. Seit Wochen quäle ich mich mit dieser Software herum, dabei hab ich genug Zeit zu lernen, ich muss noch nicht leben können von Übersetzungen. Es ist eigentlich nicht wichtig, aber das ist nicht durchgedrungen. Deshalb habe ich manchmal beschlossen, etwas zu tun, was ich sicher kann: Die Wohnung putzen zum Beispiel. Aber jetzt … kann ich Trados! (Naja die Basics.) Ich bin stolz auf mich!

Wochenende

Überbordende Buntheit in der Sonne des Südbalkons: zwei Euro zahlte ich  für die Setzlinge, und sie sind gewaltig ins Kraut geschossen. Ihr Blütendach flattert rosa, purpur, blau und violett im Nachmittagswind. Weiter weg schnurren Autos vorbei, irgendwo läuft Radiomusik, vielleicht aus einem offenen Fenster, während drinnen gerade sauber gemacht wird. Die Kirchturmuhr schlägt halb drei. Samstagnachmittag.

Meine Kollegen immer noch eingesperrt in einem Seminarraum. Seit gestern abend gibt es da Vorträge, Workshops, Teambuilding. Niemand hatte hinwollen, keiner wagte es, sich zu weigern, Urlaubsausgleich gibt es nicht.  Ein Käfer krabbelt über meine Hand und kitzelt. „Das ist Frau …, sie wird nicht dabei sein“, hatte der Chef mit ungewöhnlicher Milde dem Referenten mitgeteilt, als dieser vor kurzem jedem Mitarbeiter vorgestellt wurde.  So erfuhr ich, dass dieser Kelch an mir vorüber geht. Wozu auch, in drei Wochen bin ich weg, aber man weiß nie.

Jetzt sitze ich in der Balkonsonne, lege den Kopf zurück und die Beine aufs Geländer, nehme einen Schluck Tee. „Happy Afternoon“, den mag ich am liebsten.