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Das zweite Leben

Durch alle Himmel, Universen und Atmosphären und schließlich durch eine Windschutzscheibe stürzte heute vor einem Jahr ein mächtiger Engel. Mit Panzerflügeln stieß er die Gewalt des Aufpralls zurück, während ein schwarzer Audi in das Fahrzeug schoss, in dem mein Kind saß. Im selben Bruchteil dieser Sekunde preschte ein zweiter Kämpfer des Himmels vor. Er stemmte sich auf dem Fahrersitz über den Jungen, der dort wie eingefroren das Lenkrad festkrallte. Durch die kolossale Stärke dieser Beschützer blieben mein Sohn und sein Freund am Leben.

In einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Geräten und Monitoren fanden wir ihn. Tief in sich hinab gesunken lag er da und nichts zeigte Leben, nur seine Brust hob und senkte sich im Takt der Beatmungsmaschine. Ich strich über sein Gesicht und die Krämpfe in meinem Herzen wurden noch schmerzhafter. Seine Haut war so kühl.

Nie werde ich mir verzeihen, am Nachmittag dieses Pfingstsonntags den Anruf meines jüngsten Sohnes nicht angenommen zu haben. Ich erkannte seinen Namen im Display, doch wir waren bei Freunden und ich wollte mich nicht absondern mit dem Telefon am Ohr. „Es wird nichts Wichtiges sein“, dachte ich. Kurz darauf rief meine Tochter an. Genervt antwortete ich nun und erfuhr, dass die Polizei da sei, mit einem der andern Söhne ist etwas passiert, Genaueres sagen sie nicht, nur den Eltern. Die nicht da waren. Zehn Minuten lang ließ ich mein jüngstes Kind in höchster Not allein, so wie ich meinen anderen Sohn allein gelassen hatte, der verunglückte, und wenn es auch nichts geändert hätte: ich war nun einmal nicht da, als meine Kinder mich am meisten brauchten. Nie wieder werde ich sie vertrauensvoll verabschieden können, wenn sie auf Reisen gehen, und nie wieder habe ich seither ein Telefon klingeln lassen, wenn sich von der Familie jemand meldet. Noch heute erschrecke ich manchmal, wenn eins der Kinder anruft und dann nehme ich hektisch ab, um zu wissen, ob alles in Ordnung ist.

Mein Leben ist wackelig geworden seither. Mir ist, als befinde ich mich auf einem dieser Riesenteller, wie sie auf manchen Spielplätzen stehn. Wenn man sich draufsetzt, gibt die Scheibe nach und es ist eine Kunst, sie zu erklettern und die Balance zu halten.

Aktueller Stand

Weil er immer noch krumm ist, muss der rechte Zeigefinger noch einmal operiert werden. Die Platten werden entfernt um zu sehen, ob es dann besser ist. Wenn nicht, folgt eine weitere Operation.

Anfang Oktober geht es wieder einmal nach Ulm, zur Kernspin. Das ist das mit der Röhre, eine halbe Stunde lang, Spaß macht das nicht. Aber er kennt es, hat er ja schon mindestens zweimal hinter sich gebracht.

Es ging uns außerdem durch den Kopf, ob er mit dem Knie – er kann es nur eingeschränkt beugen – wieder Auto fahren kann. Er kann, sagte der Therapeut. Er kann nicht, sagte der Psychologe. Der machte Reaktionstests mit ihm, nicht alle waren gut. Die Hirnleistungen sind fast wieder wie vorher, aber eben nur fast. Auf der Straße kann das gefährlich werden, niemand weiß es besser als er. Aber es wird noch ein bisschen Wasser den Bach hinunterfließen, bis er wieder Arbeiten geht und ein Auto braucht. Bis dahin wird das in Ordnung sein und er fährt halt so lange Bus.

Viel höre ich nicht mehr von ihm, er ruft nur gelegentlich an. Also geht es ihm gut. Wir hoffen, (er am meisten), dass es im Oktober endlich nach Hause geht.

Entwicklungen

Wie oft haben wir telefoniert in den letzten Wochen, ich kanns gar nicht schätzen! Er hat sich einsam gefühlt oder litt unter Langeweile und ein kleines bisschen, dachte ich, griff er bestimmt auch deshalb zum Telefon, weil er gern mit mir redet. Weil ich so eine tolle Mutter bin. Mein Kind ruft an und ich weiß, wie es ihm geht, ein liebevolles, herzliches Verhältnis haben wir. Gut hingekriegt, dachte ich.

Wenn man darüber nachdenkt, könnte man das Leben eines Schwerkranken mit der Kleinkindphase vergleichen. Ein Zweijähriger ist ganz und gar auf die Eltern angewiesen, es braucht den engen Kontakt. Ein Zwanzigjähriger, der bei einem Verkehrsunfall halb tot gefahren wird, auch.

Das Kind wird größer und es braucht die Eltern für wechselnde Bedürfnisse. Am Krankenbett konnten wir zunächst nur seine Hand halten, da sein. Dann musste er wegen des Durcheinanders in seinem Kopf beruhigt werden, später getröstet, dann unterhalten, viele Maultaschen wurden gebraten und mitgebracht, zusammen mit Bildern, Karten, Wäsche, Socken, T-Shirts, Büchern, Getränken, die Süßigkeiten nahmen wir wieder mit. Die wollte er nicht. Im Rollstuhl brachten wir ihn an den Rhein, klatschten Beifall, als er mit dem Rollator gehen lernte, wir haben viel mit ihm telefoniert.

Die letzte Phase eines Kindes vor dem Erwachsenwerden ist bekanntlich die Pubertät. Da werden die eigenen Freunde wichtig und die Eltern haben ihre Schuldigkeit getan. Die Eltern können gehen. Seit sein Freund aus der Reha entlassen wurde, hat er andere junge Menschen kennen gelernt. Nicht einfach in einer neurologischen Klinik, aber auch dort gibt es Mädchen und Jungs, mit denen er über Bob Marley oder die Simpsons reden oder Spaß beim Pizza-Essen haben kann. Er hat sie gefunden, seit einer Weile schon erzählt er von ihnen.

Und jetzt ruft er nicht mehr an. Er ruft auch nicht zurück, in dieser Woche habe ich kein einziges Mal mit ihm gesprochen. Als gelernte Mutter weiß ich natürlich, dass es ihm also besser geht als vorher. Trotzdem. Trotzdem wär’s nett, wenn er wenigstens… also, ich meine … die Mütter unter den Lesern wissen, was ich meine.

Was geht am Wochenende?

Morgen wird ein schöner Tag. In der Früh werden wir mal wieder in die Rehaklinik fahren und den Jungen holen, zum ersten Mal ohne Rollstuhl, Rollator oder sonstiges Gerät. Die Tage des Herumsitzens zu Hause an den Wochenenden sind vorbei! Weit kann er freilich nicht gehen, schnell sowieso nicht und er wird hinken. Das rechte Knie braucht noch Zeit, um wieder geschmeidig zu werden. Aber er braucht keine Hilfe mehr. Er kann wieder gehen.

 

Am Abend – da gehen wir ins Irish Pub. Dorthin, wo wir vor ein paar Monaten saßen und ich weinte und wusste mir nicht zu helfen, weil mein Kind so schwer verletzt worden war. Der irische Kellner, der uns ein Glas Whiskey servierte und ein paar Augenblicke lang zuhörte, als ich von dem Unfall erzählte, betrachtete mich unsicher als ich ihn fragte, ob er ein Gebet für meinen Sohn zum Himmel schicken könne. Er gab zu bedenken, dass er lange nicht gebetet habe und ich sagte: das macht nichts. Beten hilft immer. Je mehr, desto besser, dachte ich, gerade die Selten-Beter findet Gott vielleicht besonders anrührig und er wird aufmerksam. Es kann nicht schaden, dachte wahrscheinlich der junge Ire und versprach, für den Jungen zu beten.

 

Als wir ihn das nächste Mal im Pub sahen, berichtete er nicht ohne Stolz, dass er tatsächlich gebetet habe. „And you know what? I will do it again.“

 

Sie wurden alle gehört, unsere Gebete, und deshalb gehen wir morgen zusammen mit ihm, seiner Freundin, seinen Geschwistern und jedem, der Lust hat, ins Irish Pub zum Feiern. Ich freu mich drauf!

Ein Freudentag!

Mehr als drei Monate dauerte es von dem Moment, als ein Fahrzeug in ein entgegenkommendes Fahrzeug raste, in dem mein Junge saß, bis zu dem Tag, als dieser Junge ohne Hilfsmittel wieder gehen konnte. Nach mehreren Röntgenaufnahmen und Untersuchungen im Krankenhaus Singen wurde bestätigt, dass alle Brüche so gut verheilt sind, dass sie wieder mit dem vollen Körpergewicht belasten werden dürfen. Rollstuhl, Rollator – das war gestern. Seit heute darf er gehen, und wenn er auch wenige Schritte schaffte vorerst: er ging über die letzte Hürde auf dem Weg zurück ins normale Leben. Jetzt noch die Muskeln aufbauen, Gelenke beweglich machen, Gedächtnis trainieren. Verglichen mit dem, was er hinter sich hat: Ein Klacks! Ohne Zweifel haben wir ihn im Oktober wieder bei uns.

Geduld erreicht alles

Wir wissen immer noch nicht, wie lange der Junge in der Rehaklinik bleiben wird. Der neueste Stand ist, dass ein Antrag auf Verlängerung um sechs Wochen genehmigt wurde. Anfang Oktober könnte er also heim kommen, ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum nicht. Mit dem Rollator kann er gehen und vielleicht in ein bis zwei Wochen wird er seine ersten „freihändigen“ Versuche machen dürfen. Davor geht’s aber nach Ulm, um die Beckenbrüche zu untersuchen. Erst wenn feststeht, dass er sein Becken wieder voll belasten darf, kann der Rollator in die Ecke.

Außerdem steht ein Termin an in der Handchirurgie des Krankenhauses in Singen. Der rechte Zeigefinger ist immer noch geschwollen und gekrümmt, es wird jetzt mal nachgesehen.

Anfang Oktober also. Er braucht einen Anhaltspunkt, ein Ziel. Therapien wird er noch lange brauchen, und viel wird man zu Hause organisieren müssen. Wir wissen auch nicht, ob er sofort wieder Auto fahren kann und will. Aber es wird Lösungen geben. Jetzt gilt es erst einmal noch, Geduld zu haben. Sechs Wochen klingt nicht lange für die, die jeden Tag Arbeiten gehen und noch anderes im Kopf haben. Wie schnell weht da eine Woche vorbei! Und noch eine, noch eine, schon wieder eine vorbei. In der Klinik aber hat man – trotz strengem Wochenplan – Zeit. Seine Gedanken kreisen nur um ein Thema, wir telefonieren jeden Tag und es bleibt immer gleich wichtig: Wann darf er endlich heim?

Schwein gehabt!

Interessant, wie viel Aufregung manchmal ausgelöst wird durch die Befürchtungen eines Einzelnen, in diesem Fall ein Pfleger: „Ich glaub, der hat die Schweinegrippe!“. Es folgten Quarantäne im eigenen Zimmer, Absage aller Therapien, Beurteilung durch den Arzt, Beschaffung eines Tests, der offenbar in der Klinik nicht vorrätig war, zahlreiche Telefongespräche (der Junge, sein Vater, der Arzt, mein Lebensgefährte und ich in unterschiedlichen Kombinationen) beschäftigten uns am Donnerstag stundenlang. Wann die Tests gemacht werden, wann die Ergebnisse bekannt sind, ob er noch am selben Tag nach Hause soll oder doch erst am Freitag, wer ihn abholt und wann … das alles war nicht so lässig zu erfahren und zu planen wie es sich anhört. Grand Malheur also bei allen Betroffenen.

Das Testergebnis erfuhren wir gestern: Die Beschwerden der vergangenen Woche rührten von einer leichten Sommererkältung. Er fühlt sich nun wieder sauwohl, erst recht durch den unverhofften zusätzlichen Wochenend-Tag. Soviel für heute aus dem Oink-oink-Studio!

Leichte Sommererkältung. Ha!

Was ich im letzten Artikel schrieb, stimmt nicht ganz. Das mit den Hundstagen schon, aber etwas anderes nicht.

In der Nacht erschien nämlich ein Pfleger dreimal und rammte ihm ein Fieberthermometer unter die Achsel, quartierte den Zimmergenossen aus dem Zimmer aus und den Jungen selbst hätte er wohl am liebsten nur mit der Zange angefasst. Den ganzen Tag schwitzte der Arme deshalb alleine vor sich hin: keine Therapien, keine anderen Patienten, nix. Wenn jemand zu ihm kam, musste er einen Mundschutz tragen, und erst am Nachmittag hatte man im Krankenhaus Singen die Utensilien für Tests besorgt. Nun warten wir auf das Ergebnis: Hat er die Schweingrippe? Oder hat oder sie nicht?

Auf jeden Fall will man ihn in der Klinik vorübergehend nicht mehr und so wird er heute Abend nach Hause geholt in ein verfrühtes Wochenende. Wenn das Ergebnis positiv ist, bleibt er eine Woche lang hier. Ihm gefällts! Sein einziges Leiden besteht schließlich aus einem bisschen Halsweh, und zwar schon seit letztem Sonntag. Zeit genug also, den Virus – wenn er ihn hat – an alle zu verteilen.

Überzogen finde ich den „Rausschmiss“ trotzdem nicht, denn ich erinnere mich an die Zeit wenige Tage nach dem Unfall. Da war der erste Fall von Schweinegrippe in Deutschland aufgetreten, ich glaube in Stuttgart. Und damals flehte ich zu Gott: „Lass ihn nicht diesen furchtbaren Unfall überleben und dann stirbt er an der Schweinegrippe!“ Ich wurde erhört, aber eine Zeitlang hatte ich Angst. Deshalb ist die Entscheidung der Klinik richtig. Zum Schutz der schwächeren Patienten und vielleicht auch eines überdrehten Pflegers.

Hundstage hell und klar …

… zeigen an ein gutes Jahr. Werden Regen sie begleiten, kommen nicht die besten Zeiten.

Na also. Heller und klarer können Hundstage überhaupt nicht sein wie dies Jahr. Da ich nicht in der Landwirtschaft tätig bin und der Bauernkalender also nicht zuständig ist für mich, nehme ich diesen Spruch als allgemeines Omen: Es kommt ein gutes Jahr!

Ich hab nachgeguckt: die Zeit vom 23. Juli bis zum 23. August heißen Hundstage und bedeuten drückend heißes Sommerwetter. Hundstage haben aber nichts mit Hunden zu tun, sondern mit Sternen. Zur Hochsommerzeit steht nämlich die Sonne in der Nähe von Sirius, dem sogenannten Hundsstern. Daran liegt die Hitze aber auch nicht, der Stern hängt einfach so rum am Firmament. Tatsächlich liegt es am Sonnenstand, der Wassertemperatur der Meere und der Lufttemperatur über den Kontinenten. Das bringt Menschen wie Hunde zum Schwitzen.

So, wieder was g’lernt. Aber was ich eigentlich sagen wollte – ach, ich habs vergessen. Es ist zu heiß. Meinem Sohn ist es auch zu heiß. Ah ja das wars: Er hat eine leichte Sommererkältung im Moment. Will nach Hause. Will wenigstens einen Zeitpunkt wissen, wann er nach Hause kann. Will, dass das Leben wieder einfach ist. Das wollen wir alle.

Gute Besserung!

Sommer in der Stadt

Das erste Mal seit Pfingsten, glaube ich, haben wir dieses Wochenende keine „Einsatzpläne“. Wir holten meinen Sohn schon gestern Nachmittag aus der Reha-Klinik ab und saßen dann bei ihm und seinem Vater auf der Terrasse. Ich erfuhr alles Neue des Tages, er führte seinen Rollator vor, der nun den Rollstuhl ersetzt. So ähnlich sieht das aus. Da er sich auf seine Hände noch nicht aufstützen kann, liegen die Unterarme in Schienen. Ein paarmal ging er im Kreis damit und zeigte uns, wie er damit sogar Stufen überwinden kann. Ich blieb, bis seine Freundin eintraf, und das Wochenende gehörte danach – uns.

Am Abend saßen wir draußen im Irish Pub und aßen Fish & Chips, tranken Rotwein, redeten und sahen den Menschen nach. Die Hitze des Tages steckte noch in den Mauern, junge Leute standen in kleinen und größeren Gruppen herum, niemand wollte in den Häusern sein. Bei weit offenem Fenster kämmte im ersten Stock nicht weit von uns eine Frau vor dem Spiegel ihr Haar, ein Mädchen in rot kariertem Kleid stöckelte mit einem Drink in der Hand vor dem Pub hin und her, ihr Gang nicht mehr ganz sicher, die Augen verstohlen bei den Jungs weiter drüben. Dort Gejohle und Gelächter, ein junger Mann mit Hut und Sonnenbrille schlenderte die Gasse herauf. Sehr cool. Nächstes Jahr, dachte ich, ist mein Junge wieder dabei. Trifft sich hier oder woanders mit Freunden und genießt die Sommernächte wie immer. Man wird nicht mehr merken, was er dieses Jahr durchstehen musste.

AT ist nicht nur Österreich!

Hab ich schon einmal erzählt, was AT-Strümpfe sind? Die Jüngeren unter euch muss man vielleicht aufklären über diese Kreation der Beauty-Salons in Krankenhäusern und Rehakliniken: Sie gehen bis übers Knie, sind maßgeschneidert, der modische Patient trägt sie in weiß und blickdicht. Alle andern Patienten auch. Anti-Thrombosestrümpfe komprimieren die oberflächlichen Beinvenen, das venöse Blut fließt so schneller zum Herzen zurück. Tag und Nacht müssen sie getragen werden, wenn die Muskelpumpe in den Beinvenen nicht ausreichend betätigt werden kann. Also von liegenden bzw. sitzenden Patienten. Marco hatte die Dinger fünf Wochen lang an, in Gailingen werden sie ihm wenigstens über Nacht abgenommen. Und seit heute – tattaaa – braucht er sie überhaupt nicht mehr! Die Strümpfe nicht und auch nicht mehr die tägliche Heparin-Spritze. Seine Wege legt er inzwischen mit einer Gehhilfe zurück, der Rollstuhl langweilt sich auf dem Gang. Nach zweieinhalb Monaten droht jetzt keine Thrombose mehr.

Meilensteinchen

An den Wochenenden darf er nach Hause. Mit dem Rollstuhl kann er freilich nicht viel unternehmen, aber er kann in seinem Zimmer sein, bei seiner Familie, bei seiner Freundin. Das reicht fürs kleine Glück.

Am Sonntagabend holten wir ihn ab, um ihn zurück in die Reha zu bringen, er saß mit seinen Geschwistern vor der Haustür in der Sonne und rauchte. Zwei Dinge fielen mir auf:

Erstens: Er konnte die Zigarette nicht abklopfen. Der rechte Zeigefinger gekrümmt, geschwollen, unbeweglich, die ganze linke Hand nicht zu gebrauchen. Also schnippte nach ein paar Zügen jeweils seine Freundin die Asche für ihn ab.

Zweitens: Ich sah ihn noch nie rauchen. Ich wusste, dass er zum Raucher geworden war, schon vor dem Unfall, aber da saß er nun mit der Zigarette und ich sah ihn so zum ersten Mal.

Was ganz Blödes fiel mir ein. Wie ich vor Jahren mit meiner Tochter auf der Terrasse saß und wir eine Zigarette miteinander rauchten – auch sie sah ich damals so zum ersten Mal – und dass mir war, als gehöre sie nun etwas mehr zu den Erwachsenen.

Ich meine: deshalb macht man’s ja. Man raucht, um erwachsener daher zu kommen, und jeder Erwachsene versucht davor zu warnen und lässt nichts Gutes daran gelten, ich am Allerwenigsten. Mein eigenes Beispiel sollte genügen als Warnung, man kommt so schwer davon los und es ist so unnötig. Aber anstatt zu protestieren, machte es gestern „plopp“ bei mir und ich dachte: Jetzt ist er erwachsen geworden. Wie bescheuert ist das? Nicht als er anfing zu arbeiten, nicht als er den Führerschein machte, nicht als er kämpfte wie niemand von uns zuvor, um gesund zu werden. Nein. Als er eine Zigarette in der Hand hielt.

Ich führe diese Entgleisung auf angegriffene Nerven zurück. Es kommt zu Fehleinschätzungen. Seltsamerweise brauche ich in letzter Zeit mehr Beruhigungsmittelchen als in den Wochen direkt nach dem Unglück, dabei geht es ihm immer besser. Nur mir irgendwie nicht.

Jedenfalls bezog er heute ein neues Zimmer, er ist jetzt auf der Aktiv-Station. Nicht mehr bei den Schwerbehinderten. Er mag seinen neuen Zimmernachbarn und es wird ihm so hoffentlich leichter fallen, wenn sein Freund diese Woche nach Hause entlassen wird.

Vom Glück an sich

Glück ist nicht messbar. Wir wissen nur, ob wir es sind oder nicht, und wie lange es anhält. Es prickelt in uns, wenn wir im Lotto gewonnen haben, wenn wir den Menschen sehen, den wir lieben, wenn wir endlich neue Arbeit gefunden haben, oder den verloren gegangenen Hausschlüssel. Das alles bedeutet für den Moment oder auch für länger Glück. Glück kann aber auch heißen, im Badezimmer zu stehen und unter der Brause mit warmem Wasser den Körper abzuspülen. Für Woodstock-Besucher zum Beispiel, als sie nach dem Fest nach Hause kamen, oder für einen Marathonläufer nach vierzig Kilometern. Oder: Für jemanden, der mehr als zwei Monate lang keine Dusche benutzen konnte, weil sein Körper nicht in der Lage war zu stehen. Wenn ein jemand nach einem schweren Auto-Unfall zum ersten Mal wieder alleine zurecht kommt mit Dingen des Alltags – das ist eine Art von Glück, für die uns die Wahrnehmung fehlt. Unser Patient aber hat sie, und es machte ihn glücklich, dass er das Duschen heute zum ersten Mal wieder alleine hingekriegt hat. Dass er mit einem Hilfsgerät gehen kann auch, selbst wenn er es noch nicht dauernd benutzen darf. Und dass er nun keine Schmerzen mehr hat im Becken; er kann in der Nacht auf der Seite liegen, sich wenden, so schlafen, wie es am bequemsten ist.

Weniger glücklich ist er dagegen darüber, dass nächste Woche sein Freund aus der Reha entlassen wird. Dessen Arm muss noch intensiv behandelt werden, aber von zu Hause aus geht das auch. Wer wohl der neue Zimmernachbar sein wird?

Auszeit

Ich musste ihn dauernd ansehn gestern, als wir alle auf der Terrasse saßen, er an einem großen Tisch mit seinen Geschwistern und Freunden. Er war so entspannt, denn er war zu Hause, wenigstens übers Wochenende, das erste Mal seit es passierte. Er redete und lachte , ich fragte mich: Ist das der Junge, der er war? Narben hat er im Gesicht, am Körper, im Kopf, auf der Seele vielleicht auch. Aber sein Wesen hat sich nicht verändert, und dafür – wie für vieles andere – bin ich dankbar. Sein Freund saß neben ihm, ein stiller Junge. Ich weiß nicht, ob er immer so still war, aber er befand sich ja nicht in der eigenen Umgebung und bei den eigenen Leuten. Sein Gesicht ist gut verheilt, und er kann wieder normal gehen. Der rechte Arm braucht noch viel Therapie, und er muss am Auge operiert werden.

 Seine Mutter saß bei uns an einem anderen Tisch, sie kam mit ihrem Lebensgefährten und ich mochte beide sofort. Es steckt eine große Kraft und Festigkeit in dieser zierlichen Frau, und Empfindsamkeit. Sie sieht, was voran geht, und lässt das andere nicht zu wichtig werden. Mir gelingt das leider nicht immer. Als Marco ins Haus wollte, musste er vor der Terrassentür aus dem Rollstuhl aufstehen und von seinen Brüdern vorsichtig über die Schwelle getragen werden. Da sah ich: das ist nicht der Junge, der er früher war, und er wird es noch lange nicht sein. Es tat mir so weh. Sie sagte etwas wie „du wirst sehen, er wird wieder herumrennen, er ist schon auf dem Weg dahin“, und es war das Einzige, was ich hätte hören wollen. Ja, so ist es richtig zu denken. Ich weiß selbst nicht, warum es mir manchmal so schwer fällt.

Marco indes grinste nur, als er die Türschwelle überwunden hatte. „Lasst euch nie in einen Unfall verwickeln“, rief er, als er sich in den Rollstuhl zurücksinken ließ und jeder ihm zusah. Heute abend bringen wir die beiden zurück in die Reha.

Am Telefon

Er braucht uns in dieser Zeit, auch jetzt noch. Nur braucht er uns anders als unmittelbar nach dem Unglück; da konnten wir ja nur seine Hand halten, sein Haar streicheln, beten, da sein. Später trösteten wir ihn, weil er nichts allein tun konnte und manchmal verzweifeln wollte, wegen der Schmerzen auch, und weil er so schwach war, weil alles so lange dauerte.

Heute braucht er uns, um sich abzulenken. Man merkt es an den vielen Stunden, die wir mit ihm am Telefon verbringen. So gut wie jeden Tag rede ich mindestens eine halbe Stunde lang mit ihm, manchmal auch zwei- oder dreimal. Ebenso oft ruft er seine Schwester an und natürlich seine Freundin. Auch mit seinem älteren Bruder telefoniert er regelmäßig, der Einzige, der mit ihm über irgendwelche Albereien lache. Er ruft an, wenn er gelangweilt da liegt, während ein Gerät sein Knie beugt und streckt oder weil er gerade keine Kurse hat oder weil er mit seinem Freund im Zimmer nicht reden kann. Weil der selbst telefoniert, Besuch hat oder draußen auf einer Parkbank in der Sonne sitzt.

Er kann ja nichts tun. Lesen zum Beispiel strengt an, denn bis er einen Abschnitt zu Ende gelesen hat, weiß er den Anfang nicht mehr. Die Gedanken wollen nicht bleiben und was auf Papier geschrieben steht, kommt nicht als Ganzes an. Es sind nur versprengte Stückchen, die sein Kopf hereinlässt und die er dort zusammenfügen muss.

Nach draußen kommt er alleine nicht, seit der Operation am Arm letzten Dienstag weniger denn je. Die Schiene ist weg, aber schon die kleinste Bewegung der Hand tut weh, er kann sie nicht bewegen. Als wir ihn gestern an seinem Geburtstag besuchten, hat er etwa eine Stunde lang seinen Ärger abgeladen, er schimpfte und klagte, auch weil sie ihm die Gehhilfe nicht geben und er noch immer im Rollstuhl sitzt.

Zum Ablenken bleiben also Filme oder Serien auf seinem Computer, und wir.

Abartig geil

Tagelang schob ich mich durch überfüllte Straßen. Rutenfest! Den Ravensburgern unter den Lesern muss ich das nicht erklären, den andern kann ich es nicht. Mein Sohn fehlte. Im Biergarten schien trotz des Gedränges ein Platz leer geblieben zu sein. Er war das Thema während des ganzen Festes und alles, was ich tun konnte war, wie ein Tourist mit der Kamera Bilder einzufangen für ihn. Er hatte es sich gewünscht, damit er wenigstens etwas zum Anschauen hat.

Übrigens war das Rutenfest nicht der Grund, dass ich nichts berichtet habe in den letzten Tagen. Mein Computer ist nur gerade dabei sich zu verabschieden. Aber nun endlich zur „abartig geilen“ Neuheit (O-Ton des Sohnes) von heute: Er kann wieder laufen! Mit einem Gerät durfte er die ersten Gehversuche machen, wie glücklich er war! Ganz verändert klang seine Stimme, als er mich anrief. Wie dieses Gerät funktioniert, hab ich nicht verstanden, irgendwo stützt er sich mit den Unterarmen auf, damit Becken und Bein nicht voll belastet werden, und es funktioniert. Nur das ist wichtig:  Er kann damit gehen. Das Gleichgewicht zu halten fiel ihm schwer, im Becken knackte es und er hat jetzt Muskelkater in den dünn gewordenen Waden. Aber mit seinen eigenen Beinen ist er den Gang auf- und abgewandert, und das ist – abartig geil!

Am Montag und Dienstag war er in Ulm, dort wurden am linken Arm die Drähte entfernt. Es tut ihm noch weh, doch die Schiene ist weg und jetzt sieht man, dass sein Oberarm ungefähr noch denselben Umfang hat wie sein Unterarm. Intensives Aufbautraining liegt also vor ihm.

Morgen ist sein 21. Geburtstag. Was für ein Geschenk, dass wir das mit ihm erleben dürfen.

Lebensfragen

Es klingelt an der Tür, der Junge öffnet, es sind zwei Polizisten. Sie wollen die Eltern sprechen. Der Junge ruft die Mutter. Der Schmerz, der sich ihr beim Anblick der Männer heiß ins Herz bohrt, wie damals, als es hieß: es gab einen Unfall. Alles zieht sich zusammen in ihrer Brust. „Was wollen Sie?“ haucht sie. „Wir haben Ihren gestohlenen Roller gefunden.“

*

Der Sohn kauert im Beifahrersitz und starrt auf die Straße. Der Mann am Steuer rast in den Tod, so kommt es ihm vor. Er klammert die Hände ineinander, erschrickt vor den Fahrzeugen, die auf ihn zukommen, er schielt aus dem Augenwinkel zum Fahrer. Der ist noch jung, ein Zivi, er bringt ihn vom Rehazentrum in die Klinik zu weiteren Untersuchungen. So viele Fahrzeuge kommen ihnen entgegen. Wird wieder eins die Fahrspur wechseln und in sie hineinprallen? Drei Stunden lang dauert die mörderische Fahrt.

*

Die Mutter ruft die Tochter an. Um vier wollte sie da sein. Die Tochter geht nicht ans Telefon. Die Mutter ruft auf dem Handy an, nichts. Noch einmal auf dem Festnetz, noch einmal auf dem Handy, nichts. Sie ruft den Freund der Tochter an. „Sie ist nicht da.“ Der Mutter wird eng im Herzen, sie steht da und atmet. Langsam. In den Bauch atmen. Sie ruft noch einmal auf dem Handy an, jetzt nimmt die Tochter ab. „Wo bist du?“ „Vor deiner Tür!“ Es ist sechs Minuten nach vier.

*

Wir sind anders geworden.

Werden wir zurück finden in das Leben, in dem Unglück nur andere trifft? Werden wir wieder ohne nachzudenken in ein Auto steigen? Werden wir unseren Kindern fröhlich hinterher winken, wenn sie verreisen? Ich frage mich, ob Normalität wie wir sie kannten noch möglich ist. Und wann. Nach einem Jahr vielleicht? Nach zwei? Oder niemals?

Diese Geschichte fällt mir dazu ein: „Der Meister machte mit seinen Schülern einen Ausflug. Zur Rast setzen sie sich an das Ufer eines Flusses, das steil abfiel. Einer der Schüler fragte: “Sag Herr, wenn ich nun abrutsche und in den Fluss falle, muss ich dann ertrinken?” “Nein,” antwortete der Meister, “du ertrinkst nicht, wenn du in den Fluss fällst. Du ertrinkst nur, wenn du drin bleibst.”

Ich wünsche euch einen schönen Sonntag.

Licht am Ende des Tunnels

Zum ersten Mal seit fast zwei Monaten gab es ein paar Tage Pause in diesem Blog. Grund waren/sind Computerprobleme, aber es gibt auch nicht mehr so viel zu erzählen. Marco hat fühlt sich ganz wohl in der Reha-Klinik. Am Telefon klingt er gut gelaunt, manchmal ein wenig aufgekratzt durch das, was er hier erlebt. Gestern vor allem, als er nach Ulm gebracht worden war für Untersuchungen. Dort gab es grünes Licht für weitere Therapien, denn man kann nun damit beginnen, sein Becken zu belasten. Schritt für Schritt natürlich, doch für ihn bedeutet das die Aussicht auf mehr Selbständigkeit.

Zum Beispiel rückt sein Traum näher, bald ohne Hilfe duschen zu können. Im Moment geht das noch nicht, denn er kann nicht stehen. Auch ist sein linker Arm in Schienen und muss als Schutz vor dem Wasser „eingetütet“ werden. Mit einem Müllsack macht man das, der wird drübergestülpt und am Oberarm mit Klebband befestigt. Aber auch diese Schiene soll bald verschwinden, nächsten Dienstag – wieder in Ulm – wird man aus dem Arm Nägel, Platten, was immer halt drin ist, entfernen. Bis dahin kann er mit dem rechten Bein vielleicht schon etwas anfangen, denn die Therapie zum Muskelaufbau begann heute.

Marco giert danach, dass etwas getan wird mit seinem Körper. Er will beweglich werden, Kraft bekommen, und Schmerzen stören ihn nicht. Er spürt,  dass es voran geht.

Sieben Wochen

Sieben Wochen ist es her. Am Pfingstsonntag geschah der Unfall, den Marco und sein Freund nur knapp überlebten. Heute sitzen sie zusammen in einem Zimmer in der Rehaklinik, beinah wieder die Buben, die sie vorher waren. Sie reden, sie lachen, sie ertragen ihren Alltag. Die schlimmen Wochen mit Operationen, Morphium und Bewusstseinsstörungen sind überstanden. Marco ist noch auf den Rollstuhl angewiesen, vergisst viel, sein Freund wird noch am Auge operiert werden. Aber die schweren Verletzungen sind dabei zu verheilen. Zumindest die körperlichen. Und die längste Zeit in den Kliniken ist hoffentlich vorbei.

Seine Schwester brachte heute eine Schüssel voll selbst gebackener Muffins, sein kleiner Bruder hatte einen Laptop mit Filmen im Gepäck. Ich kam mit den obligatorischen Maultaschen, und so gefällt es Marco. Er hatte schon vor uns Besuch gehabt von seiner Tante und seinen Cousinen, Programm also ab mittags. Das braucht er am Wochenende, er wüsste sonst nicht, wie er die Zeit herumbringen soll.

Ein bisschen gestresst war er, ungeduldig manchmal, ich glaube, er hat Angst. Angst vor der Untersuchung in Ulm nächste Woche, vor der Fahrt, und dass sein Becken auch weiterhin nicht belastet werden darf. Angst, dass deshalb mit dem Lauflern-Training nicht begonnen werden kann, dass er lange in Gailingen bleiben muss, dass sein Freund früher nach Hause geht.

Viel haben die beiden geschafft. Große Anstrengungen haben sie gemeistert. Aber der Weg ist trotzdem noch lang.

Festsitzen

Das Bewusstsein, festzusitzen und sich nicht befreien zu können, ist schlimm. Sein Freund wird früher nach Hause gehen, da ist er sich sicher. Ein fremder Junge wird in sein Zimmer ziehn, und schon entschied er: er mag ihn nicht. Hass kocht hoch. Hass auf den Audifahrer, der ihm das antut. Freilich, drei Schwerverletzte, eine getötete Frau, und ihm selbst ist nicht viel passiert – für diesen Mann könnte es noch schwerer sein, doch das sagt sein Verstand. Sein Bauch sagt, die langen Stunden, Tage und Wochen in den Kliniken sind die Schuld dieses Mannes.

Interessant, was mein Vater gestern erzählte. Er hatte seinen Enkel angerufen und meinte: „Es war schön, mit ihm zu reden und Gott sei Dank geht es allmählich besser. Allerdings hat er eine andere Stimme als vorher.“ In den letzten sieben Wochen sind Veränderungen vorgegangen mit seiner Stimme. Als er aus dem Koma aufwachte und wieder zu reden begann, war sie schwach, hoch, piepsig. Bei sehr alten Männern hört man das manchmal. Später wurde die Stimme rau und brüchig, tiefer, jeden Tag anders. Allerdings kam es mir vor, als sei sie nun endlich normal geworden. Aber sein Großvater sprach seit dem Unfall zum ersten Mal mit ihm, er kann es besser beurteilen. Weniger kraftvoll klinge sie, mit weniger Ausdruck. Es war das Erste, was er erwähnte.

Nächsten Dienstag wird er wieder nach Ulm gebracht. Sein Becken wird geröntgt und erst dann kann man sagen, ob mit den Therapien zum Muskelaufbau begonnen werden kann. Bis jetzt läuft nicht viel, es sind Schulstunden, Ergo- und Logotherapie, ein bisschen Phsysio für das Knie. Er schimpft, weil für die täglichen Dinge des Lebens so viel Zeit verloren geht. Aufstehen, waschen, anziehn, in andere Räume kommen, essen, alles strengt an und dauert lange. „Alte Menschen leben auch so,“ sagte ich, „und es wird meist nicht mehr anders.“ „Aber die haben schon lange gelebt! Da würd’s mir auch nichts ausmachen!“ Ich glaube nicht, dass es daran liegt, wie lange man gelebt hat. Es liegt daran, dass man gelernt hat das Leben zu nehmen, wie es ist. Das können manchmal auch Jüngere und Ältere nicht. Nur mit zwanzig kanns wahrscheinlich niemand.