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„Sie werden sehr glücklich sein.“

Die chilenischen Bergleute kurz vor ihrer Befreiung. Schon jetzt weiß der chilenische Psychologe Iturra, wie sie diesen Albtraum verarbeiten werden. „Sie werden sehr glücklich sein.“ Das finde ich interessant. In unseren Kulturkreisen weiß man viel über Traumasymptomatik und Traumabewältigung. Betroffene reagieren auf ein traumatisches Ereignis fast immer mit Hilflosigkeit, Erschrecken, Verunsicherung, damit einher gehen Veränderungen wie z. B. Übererregung, Schlafstörungen, Albträume, heißt es da.

„Sie sind dem Tod von der Schippe gesprungen. Was sollten sie jetzt noch befürchten, wovor Angst haben?“ heißt es in Chile.

Auch mein Sohn ist dem Tod von der Schippe gesprungen. Einen Frontalzusammenstoß von zwei Fahrzeugen bei hoher Geschwindigkeit überlebte er. Ich halte es mit dem chilenischen Psychologen, der offenbar mehr weiß. Es ist tatsächlich so: Der Junge ging gestärkt daraus hervor, selbstbewusster. Obwohl körperlich noch nicht wieder wie vorher, obwohl das nach wie vor brüchige Gedächtnis ihm die neue Ausbildung erschwert. Trotzdem ist er voller Kraft, er schaut nach vorne und lässt sich die Laune nicht verderben.

„In einem Jahr werden sie ein zufriedeneres Leben führen als vor dem Grubenunglück.“

Alles eine Sache der Einstellung?.

Spiegel online – zum Artikel

Auf einer Rückreise

Als wir heute nach einem Ausflug an der Stelle vorbeifuhren, an der mein Sohn vor einem Jahr und knapp vier Monaten verunglückte, meinte ich, das Geräusch zu hören. Es kreischte, als das andere Fahrzeug in ihn und seinen Freund raste. Dabei war es wohl eher ein Knall, doch ich hörte etwas Hohes, Grässliches, als habe ich selbst mit im Auto gesessen. Die halbe Sekunde vor dem Aufprall hakte sich fest. Was hat er gesehen, gespürt, empfunden? Man liest, dass es viel sein kann, was in diesem Moment durch den Kopf huschen kann. Er könnte realisiert haben, dass ein schwarzes Fahrzeug auf ihn zuschoss, vielleicht hörte er noch das Krachen. Erinnern kann er sich nicht. Die Bilder und Wahrnehmungen sind eingeschlossen in der Tiefe seines Bewusstseins, sie können oder sollen nicht heraus. Ich klappte die Sonnenblende herunter, mir war heiß.

Es ist schwer zu begreifen, dass es für immer Einschränkungen geben könnte im Leben meines Kindes. Er braucht Strategien, um sein Gedächtnis zu überlisten, das ihn oft im Stich lässt. Noch heute nimmt er Schmerzmittel wegen der Knochenbrüche. Anfang Zwanzig ist er, alles liegt vor ihm.

Als wir nach Hause kamen, war ich erschöpft.

Auszeitlos

Da es sonst niemand tut, lobe ich mich selbst: Eine ganze Woche ohne Tabakqualm liegt hinter mir! Der Entzug manifestierte sich nur in anhaltend schlechter Laune, und das konnte in den ersten Tagen vom dauerverregneten Juni-Beginn herrühren. Seit dem Sommereinbruch vor drei Tagen wurde es allerdings kaum besser, dabei quält mich kein Druck, eine Zigarette haben zu müssen. Was mir fehlt, sind die Inseln. Aus meinen überfrachteten Alltagen hatte ich wenigstens minutenlang dorthin flüchten können, eine Rauchpause ist eben eine Pause, ein zeitlich begrenztes Innehalten, ein Bremsmanöver mit Haltegriff, eine Art (absurder geht’s nicht) Luftholen.

Nun renne ich unterbrechungslos von Hektik und Druck bei der Arbeit zur alten Wohnung meiner Mutter, zu Restmöbel-Entsorgung, Renovierungsbedarf und Mieteransprüche sowie zu Schriftkram und Erledigungen in ihrer neuen Wohnung. Selbst wenn ich ein paar Minuten lang in der Sonne stehe zur Mittagszeit oder am Abend – ich weiß nicht, was ich dort anfangen soll. Ich komme nicht runter. Es gibt keinen Ersatz.

Täuschungen

Sein kleiner Körper presst sich mit dem Rücken an die Wand, der mächtige Vater erhebt seinen Arm. Seit langer, langer Zeit hat er geschimpft und geflucht, er wollte nicht aufhören damit. Ganz klein macht sich der Bub. Er fürchtet die Schläge, doch es geschieht etwas anderes.

Verschreckt schlägt er die Augen nieder, sein Blick wandert nach unten und was er entdeckt, macht ihn schwindelig. Plötzlich trägt er nämlich kein kariertes Hemd mehr und kurze Hosen, sondern einen dunkelgrauen Anzug mit weinroter Krawatte. Er zupft an ihr, als habe er noch nie eine gesehn, jedenfalls nicht an sich, da entdeckt er Haare auf seinem Handrücken. Er sucht nach einer Erklärung, auch für den Ehering, der auf einmal an seinem Finger steckt. Als ob dicker Nebel sich langsam verzieht, erkennt er nun Schemen und ihm dämmert, was schließlich klar wird: Er ist gar kein Junge mehr. Vor ein paar Wochen wurde er fünfundvierzig Jahre alt, einszweiundachtzig ist er groß und fünfundneunzig Kilo schwer. Jetzt guckt er hoch.  Sein Vater steht immer noch da, klein geworden und stumm.

Der Junge, der kein Junge mehr ist, schaut sich um. Wo blieb das Ungeheuer, das ihn Zeit seines Lebens verfolgte und ängstigte? Er sieht keins. Er sieht einen zerfurchten kleinen Mann, dem er nichts zu sagen hat, und er geht. Unsicher schaut der Vater ihm hinterher.

Wer wird denn gleich in die Luft gehen!

Bis zu 90 % aller Berufstätigen gehen morgens mit dickem Hals zur Arbeit. Nicht weil sie erkältet sind, sondern weil sie sich verschlucken beim Gedanken an den Tag. Für all jene, die von einer besseren Stelle träumen, hat der Buchmarkt gerade das passende Werk ausgespuckt. Die Autoren von „Warum es egal ist, für wen Sie arbeiten“ stellen klar: Beim nächsten Job wird alles gleich. Krümel gibt’s in jedem Bett, ändern kann man meist nur sich selbst und wie man die Dinge sieht.

Dazu fällt mir mein Nachbar ein. Er und alle Mitarbeiter in seiner Abteilung leben in Angst vor dem aufbrausenden und ungerechten Chef. Keiner geht gerne zur Arbeit. Was können sie ändern an sich oder ihren Sichtweisen? Den Abteilungsleiter, der mit seinen Ausbrüchen jeden als Deppen dastehen lässt, mit „nobody’s perfect“ abhaken? Der weinenden Kollegin zu realistischeren Erwartungen raten?  Eine sichere Stelle hat der Nachbar zwar in dieser Firma, auch nette Kollegen und Spaß an der Arbeit an sich. Nur diesem Vorgesetzten wollte er am liebsten ins Gesicht springen, mit den Fußballen voraus. Warum er es doch nicht tat? Weil er sich mit dem Schlamassel auseinandersetzte anstatt zu plärren.

Zunächst erkannte er, wie wenig es hilft, von allen geliebt zu werden. Möglicherweise ist es das, was Choleriker spüren, jagen und ausweiden. Sich hinstellen, Mut zeigen und den eigenen Standpunkt vertreten – dafür wird man nicht von jedem geliebt, von den Meisten aber respektiert. Auch von Hitzköpfen.

Zweiter Schritt: Selbstbewusstsein auf Vordermann bringen. Erkennen, wo man gut ist und es sich so lange vorsagen, bis es tief drinnen angekommen ist und nie wieder heraus will. Gelassenheit üben hilft auch, doch entwickelt es sich oft von selbst, wenn man den tollen Kerl in sich erst kennengelernt hat.

Danach lernte er, Ungerechtigkeiten nicht persönlich zu nehmen. Jähzornige Menschen suchen in ihrem Unmut Fußabstreifer, und wen sie erwischen, der kriegt es ab. Mit einem selbst hat das nichts zu tun, es könnte jeder andere sein, der in solchen Momenten genau dieselben Watschen bekäme.

Hilfreich ist auch Mitgefühl. Sie haben es ja nicht leicht, die HB-Männchen und -Weibchen. Welche Energie braucht es wohl für die täglichen Koller, und erst recht für die schwierigen Beziehungen in ihrem Leben, wenn es überhaupt welche gibt. Dabei versteckt sich unter dem explosiven Schutzmantel meist doch nur ein Würstchen, das Angst hat entdeckt zu werden.

Abschließend schärfte mein Nachbar seinen sarkastischen Blick auf den Arbeitsalltag, denn er wollte auch Spaß. Die Besprechungen im obersten Stock wurden zum Kabarett. Er beobachtete den Bauch des Chefs, der vibriert, wenn er nicht nachgibt.  Kleine Bemerkungen setzte er ein wie Nadelstiche, um sein Opfer beim programmierten Hochsprung zu erleben. Das falsch ausgesprochene Fremdwort überbrachte er zur Unterhaltung aller umgehend an die Belegschaft.

Wenn mein Nachbar heute zur Arbeit geht, hält er das Kinn nach oben. Und wenn er abends Aktuelles aus dem Büro vermeldet, lacht er sich schlapp. Zum Beispiel über das rosa gemusterte Hemd neulich. Seiner Frau sei wohl längst egal, wie die rollende Schweinebacke, mit der sie verheiratet ist, morgens das Haus verlässt. Das klingt böse, ist es auch. Für meinen Nachbarn ist es Therapie. Er gehört jetzt zu den 10% der Beschäftigten, die zur Arbeit gehen ohne Schmerz.

„Warum es egal ist, für wen Sie arbeiten“

Schutzhülle entfernen

Ich versuchs mal. Die Tage sind heller geworden und länger, die Sonne wird mir helfen, nicht wieder ins Dunkle zu versinken. Seit November nehme ich ein Anti-Depressivum, und nun will ich sehen, ob es ohne diese Schicht um mich herum wieder geht. Hochdosierte Johanniskraut-Dragees gibts stattdessen.

Meinem Kind geht es ja wieder gut, auch wenn er in seine bisherige Arbeit nicht zurückkehren kann. Die Knochen sind zwar  zusammengewachsen, stabil sind sie aber noch nicht und körperliche Arbeit wäre ein Risiko. Doch er fand die Lösung: Im Herbst beginnt eine neue Ausbildung in einem Büroberuf. Ich freu mich so. Endlich wissen wir, wie es weitergeht.

An meine eigene neue Arbeitsstelle hab ich mich einigermaßen gewöhnt. Schwierig ist es schon, aber im Moment glaube ich, auch ohne Citalopram weitermachen zu können.

Stimmig

„Diese Zahlen habe ich nicht berücksichtigt“, sagt Herr Bauer dünn und erschrickt. Er kann es nicht ausstehen, wenn er klingt wie eben. Voll und aus der Brust heraus soll seine Stimme tönen, die Stimme eines Menschen, der das Leben beherrscht. Stattdessen: Wie ein Vögelchen mit Angst vor dem Fuchs piepste es aus seiner Kehle. So bin ich doch nicht, rätselt er. Warum klinge ich manchmal so, beim Chef vor allem, wo ich es am wenigsten will?

„Was soll das heißen, Sie haben die Zahlen nicht berücksichtigt? Wie oft soll ich es noch sagen: Alle Zahlen gehören in diese Liste, auch diese. Ist das so schwer zu verstehen?“ Der Drache wetzt seine Krallen.

Herr Bauer strengt sich an, furchtlos zu klingen. „Ich sehe diese Liste zum ersten Mal. Warum haben Sie sie mir nicht früher gegeben?“ Na also. Schon besser. Es ist nicht schwer, ein bisschen lauter zu sprechen. Er drückt sich hier nicht in dunklen Gassen herum. Man darf ihn hören.
„Sie hätten ja mal danach fragen können!“

Ich kieg es hin, nahm Herr Bauer sich vor, und forsch erwiderte er: „Wonach hätte ich fragen können, wenn ich nicht weiß, dass es diese Zahlen gibt.“ Na bitte, so hört es sich anders an. Er darf es nur nicht vergessen. Immer wird er jetzt aufpassen und daran denken, dass er jemand ist. Dass er einen Platz hat. Und dass man ihn hören darf.

„Dann wissen Sie es eben beim nächsten Mal.“

Bestimmt.

Die zwei Seelen des Herrn Bauer

Wie der Michelinmann auf dem Dach einer Tankstelle bläht sich der Direktor vor einem Schaubild. Er trägt Details vor über die neuen Bohrmaschinen, wortreich und mit ausladenden Gesten betet er die Besonderheiten einer neuen Produktreihe herunter. Auf Zahlen und Zeichnungen deutend beendet er seine Ausführungen und mustert die Teilnehmer der Schulung. Krumm hockt Herr Bauer da und macht sich klein.

„Sitz grade“, schreit in der Tiefe seines Bewusstseins der Vater. Herr Bauer spürt die Faust, die ihm in den Rücken boxt,  seine Kinderhände klammern sich an der Tischplatte fest. Mit zusammengepressten Lippen starrt er auf den Teller vor ihm und hofft,  er werde davonkommen mit dem einen Schlag.

„Herr Bauer, haben Sie auch mal etwas zu sagen?“ Er schreckt aus seinen Erinnerungen, entdeckt an der Tafel die neue Überschrift: Verkaufsargumente. Gehorsam quält eine Anmerkung sich räuspernd vor die Runde. Man ist nicht zufrieden mit ihm. Nicht energisch genug sei er, nicht präsent genug. Vielleicht einfach nicht laut genug.

Noch eine Stunde bis Feierabend. Der Gedanke belebt ihn, denn auf dem Nachhauseweg wächst Herr Bauer. Groß geworden, mit hungrigem Herzen öffnet er Abend für Abend die Wohnungstür, Iris ist meistens schon da. Sie duftet wie ein Blumenstrauß und er liebt es, an ihr zu schnuppern. Wenn er sich zum Begrüßungskuss niederbeugt, streicht sie mit leichter Hand über seinen Rücken. Voll Wärme und Leben bereiten sie dann ihr Abendbrot.

Herr Bauer richtet sich auf. Er ist Teilnehmer einer Schulung und wie alle andern darf er sich äußern. Immerzu darf er sich äußern, erkennt er, und mit fester Stimme stellt er zu den Bohrmaschinen eine Frage. Er will wissen, was nun passiert. Das Ergebnis: Herr Bauer erhält eine Antwort. Eine normale, hilfreiche Antwort.

Freitagabend

Gestern saßen wir wieder einmal in dem kleinen Lokal an der Ecke an einem der alten Holztische, die vom Trödelmarkt stammen müssen wie das ganze Mobiliar dort. Kein Stück gleicht dem andern, aber jeden Tisch schmückt eine dieser altmodischen Dekorationsideen aus den 70er Jahren: Eine leere Whiskyflasche, auf der eine brennende Kerze steckt.

Gerade waren unsere leer geputzten Teller abgeräumt worden, auf denen die freitäglichen Fish & Chips serviert worden waren. Nun starrten wir auf den weit heruntergebrannten Kerzenstummel vor uns und es war eine angeregte Konversation darüber im Gange, ob er wohl brennend in die Flasche fallen würde oder nicht. Ich orakelte, dass die hartnäckig im Flaschenhals züngelnde Flamme vorher erlöscht, und so kam es auch wie jedesmal, wenn sich auf dem Glasboden bereits Kerzenreste versammelt haben. Nur wenn die Flasche noch leer ist oder fast leer, fällt der Stummel manchmal brennend hinein. Dass B. meine Vorhersagen immer wieder in Zweifel zieht und denkt, diesmal könne er das Spiel gewinnen, gehört in diesem Pub zu einem netten Abends mit ihm. Ich habe mein Wissen ja auch nur von dem jungen Mann, der dort bedient, aber das bleibt mein Geheimnis.

Wir redeten und beobachteten die Menschen, später begrüßten wir mit dem üblichen Hallo und Wie geht’s den Pakistani, dem B. jede Woche zwei Rosen abkauft. Das Geld schickt der kleine, freundliche Mann an seine Familie, die er seit vielen Jahren nicht gesehen hat. Wie immer bekam ich von ihm noch eine Rose dazu. Sie halten manchmal eine ganze Woche, und ich freue mich jeden Tag daran.

Es ist gut, ein paar feste Dinge im Leben zu haben, wenn schon alles andere davon treibt.

Morgengrauen

Es ist noch früh. Ich stehe auf dem Balkon und hänge den Pullover, den ich gestern trug, auf einem Bügel an die Leine.

Das Tageslicht dämmert zögernd. Im Garten sind Bäume mit letzten Blättern schwach zu erkennen, Nebel liegt zwischen den Häusern. Kein Vogel singt. Die feuchte Morgenluft riecht nach nassem Laub, vor meinem Mund bilden sich Dampfwölkchen.

Ich zupfe den Pullover in Form, er beginnt auszuatmen. Acht Stunden Mief stecken in ihm, drei Leute in einem kleinen Büro. Auch nervöser Schweiß, den die Unterwäsche durchließ, und der gekochte Blumenkohl zum Abendessen, ruhig, zu zweit, in der Küche. All das verflüchtigt sich bald. Der heutige Novembertag wird das Gewebe durchdringen und befreien von dem, was gestern war.

Kälte kriecht unter mein Hemd, ich gehe nach drinnen. Wieder ein Tag.

Sei gut zu dir

Von Zeit zu Zeit innehalten und die Last absetzen,
schwerelos werden, sich selber so leicht nehmen,
dass die Seele fliegen kann,
aufsteigen aus dem Nebel der Gewohnheiten,
sich erheben über die Wolken des Alltags,
einen Ort der Stille und Klarheit finden…

(Jochen Mariss)

Gestern auf meinem Schreibtisch gefunden. 🙂

Sei gut zu dir

Verdrängen

„Was ist Ihnen lieber – eine Küchenschabe, die vor Ihren Augen über den Boden krabbelt, oder ein Haus voller unsichtbarer Termiten, die in den Wänden stecken? Die Schabe kann zwar Krankheiten übertragen, aber zumindest wissen Sie, dass sie da ist, und Sie können etwas dagegen tun. Bei den Termiten dagegen glauben Sie die ganze Zeit, Sie hätten ein wunderbares Heim – bis es eines Tages einstürzt und Sie in einem Haufen Sägemehl aufwachen, zu dem die Termiten Ihr Sweet Home verarbeitet haben.“

Michael Moore

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Tipps zum Thema „Probleme verdrängen“

Carpe diem

Bis ans Ende unseres Lebens sagt Gott jeden Morgen: „Hier, schau her, du bekommst noch einmal einen ganzen Tag. Mach was draus!“ Wie denn, wird zum Beispiel jemand sagen, der in der Firma acht Stunden lang mit einem cholerischen Boss verbringen muss. Darf man deshalb einen Tag verloren geben?

Ich habe heute zur Mittagszeit einen kleinen Spaziergang gemacht. Dort, wo ich arbeite, gelangt man nach wenigen Schritten in eine ländliche Gegend mit Weiden und Obstwiesen, und nach dem kalten Nebel der letzten Tage war es heute bei blauem Himmel besonders schön. Ich kam an gefleckten Kühen vorbei, die gelangweilt im Gras lagen und mir mit großen Augen hinterher schauten. Im milden Licht der Oktobersonne lag die Landschaft da wie weichgezeichnet, feiner Dunst verschleierte weiter entfernte Bäume und Felder. Ich atmete den Geruch nasser Erde ein und schaute etwas weiter einer Schar Vögel zu, die sich auf einer Wiese niedergelassen hatten und aufgeregt durcheinander hüpften. Sie beschwatzten wohl ihre  bevorstehende Reise. An einem Bauernhaus leuchteten vereinzelt  Geranien an den Fenstern, sonst sah man kaum mehr Blühendes. Die Gärten sind abgeräumt und machen sich für den Winter zurecht. Alles hat seine Zeit in der Natur, und alles hat seinen Platz. Mein Herz wurde weit bei diesem Gedanken. Ich hob eine Walnuss auf und legte sie später auf meinen Schreibtisch.

Habe ich etwas gemacht aus diesem Tag? Zumindest habe ich etwas sehr Schönes nicht übersehen.

Und noch etwas Schönes übersehe ich nicht: Mein Computer stürzt nicht mehr ab! Meine Tochter und ihr Freund haben einen Preis verdient, die haben das am Wochenende hingekriegt. 🙂

Sein Leben selbst leben

Etwas Merkwürdiges ist geschehen, seit ich die Beiträge über den Auto-Unfall hier gelöscht habe: Ich denke nicht mehr so viel darüber nach! Als ob das furchtbare Ereignis etwas weggerückt wäre. Ich weiß gar nicht, ob ich das möchte, eins meiner Kinder wär schließlich beinah ums Leben gekommen. Das Entsetzen darüber will ich nicht einfach fortwischen, nur weil ein paar Monate vergangen sind.

Trotzdem beschäftigt es mich nicht mehr so, was gerade mit ihm ist und was ich davon als nächstes hier erzählen werde. Ich sträube mich gegen dieses Loslassen, aber es geht von allein. Und wenn man darüber nachdenkt: Ich muss nicht immer leiden, wenn meine Kinder leiden, ich muss mich auch nicht immer freuen, wenn sie es tun. Als Mutter gerät man leicht in diesen Sog, manchmal aus Angst vor der Leere im eigenen Leben, doch zu denen gehöre ich nicht.

Ich liebe meine Kinder und ich bin da, wenn sie mich brauchen. Aber sie leben ihr Leben selbst und sie können es auch. Deshalb möchte ich versuchen, den Unfall meines Sohnes den Unfall meines Sohnes sein zu lassen. Er ist stark geworden und er weiß, dass er kämpfen und gewinnen kann. Ich geb ihm einen Engel mit und versuche, in mein eigenes Leben zurückzukehren, das auch um andere Menschen und Dinge kreist und in dem es Leichtigkeit wieder geben darf.

Zurück zu mir!

Wer seine Werte lebt und im guten Kontakt ist mit seinen Bedürfnissen, wirkt authentisch, stark und leistungsfähig. Hab ich eben im Internet gelesen. Nun, meine Werte lebe ich mehr denn je, meine Bedürfnisse dagegen habe ich weggesperrt seit dem Auto-Unfall meines Sohnes. Fast vier Monate sind vergangen, er wird bald aus der Klinik entlassen werden und die Therapien, die er noch braucht, zu Hause fortführen. Es wird noch viel Zeit vergehen, bis er zurück findet in die Normalität. Ganz wie vorher wird er wahrscheinlich nicht wieder sein, ich mit Sicherheit auch nicht. Das schreckliche Ereignis gehört nun zu unserem Leben. Aber es geht auch weiter, zum Glück geht es weiter mit ihm, er kann wieder gehen und klar denken. Dafür bin ich jeden Tag dankbar, nicht alle Eltern haben so viel Glück.

Ich beende nun die Berichte über das, was seit dem Unfall geschah, mal sehn, ob mir noch etwas anderes einfällt, was ich euch erzählen will. Ein gelegentliches Wort zum Sonntag wird es sicher weiterhin geben, vielleicht über meine Erkenntnisse beim Versuch, das Schwere abzustreifen und wieder nach meinen eigenen Bedürfnissen zu forschen. Irgendwo müssen sie ja sein!

Danke an alle, die – auf welche Weise auch immer – bei uns waren in den vergangenen Monaten.

Morgen am Meer

Leer geweht die Welt
von Wellen überspült
was gestern war

an jedem Tag
neue Fußspuren
am weiten Ufer
zerfließender Zeit

Annemarie Schnitt

 

An alle Selbstzweifler

Es war einmal eine alte chinesische Frau. Die hatte zwei große Schüsseln, die an den Enden einer Stange hingen, die sie über den Schultern trug. Eine der Schüsseln hatte jedoch einen Sprung, und am Ende der Wanderung vom Fluss zum Haus war sie stets nur noch halb voll mit Wasser. Die andere Schüssel war makellos, so dass das Wasser darinnen blieb und die alte Frau brachte also jeden Tag anderthalb Schüsseln Wasser nach Hause. Die makellose Schüssel war stolz auf ihr Verdienst, die mit dem Sprung aber war betrübt, weil sie nur die Hälfte dessen verrichten konnte, wofür sie gemacht war.

Nach zwei Jahren, die der Schüssel mit dem Sprung wie ein endloses Versagen erschienen, sagte sie zu der alten Frau: “Ich schäme mich so, weil auf dem ganzen Weg zu deinem Haus Wasser aus mir heraus läuft.” Die alte Frau lächelte. “Ist dir nicht aufgefallen, dass auf deiner Seite des Weges Blumen blühen, auf der Seite der anderen Schüssel aber nicht? Ich habe auf deiner Seite Blumen gesät, weil ich das heraus tropfende Wasser bemerkte. Nun gießt du sie jeden Tag, und seit zwei Jahren schmücke ich mein Haus mit diesen Blumen. Wärst du nicht so, wie du bist, würde diese Schönheit mein Heim nicht beehren.”

gefunden bei: http://petraschuseil.wordpress.com