Schlagwort-Archive: Das Arbeitsleben des Herrn Bauer

Die Sekunden vor dem Sturm

Herr Bauer wird kleiner. Der Raum, den er einnimmt, verringert sich, es ist, als stecke er in einer Presse: die Schultern fallen zusammen, Arme kleben am Körper, steif sitzt er im Besprechungsraum. Nur die Augen huschen von hier nach da, als suchten sie nach einem Ausgang.

Jetzt wird gewartet. Er verknotet die Beine, starrt auf den staubigen Efeu in der Ecke, vergisst fast zu atmen. Der Direktor überfliegt das Blatt, das er eben erhalten hat.  Ein Kunde zerpflückt eine Lieferung.

Was Herr Bauer auch sagen wird – der andere wird es Ausflüchte nennen. Faule Entschuldigungen. Unschuldsbeweise wird er fortwischen, nicht zuhören, nicht wissen wollen, und bevor er losbricht, blättert Herr Bauer quer. Überschlägt den sicheren Monatslohn, die Angst, keine neue Arbeit zu finden, das Zugrundegehen hier. Für einen Notstopp bleibt nicht mehr viel Zeit.

Täuschungen

Sein kleiner Körper presst sich mit dem Rücken an die Wand, der mächtige Vater erhebt seinen Arm. Seit langer, langer Zeit hat er geschimpft und geflucht, er wollte nicht aufhören damit. Ganz klein macht sich der Bub. Er fürchtet die Schläge, doch es geschieht etwas anderes.

Verschreckt schlägt er die Augen nieder, sein Blick wandert nach unten und was er entdeckt, macht ihn schwindelig. Plötzlich trägt er nämlich kein kariertes Hemd mehr und kurze Hosen, sondern einen dunkelgrauen Anzug mit weinroter Krawatte. Er zupft an ihr, als habe er noch nie eine gesehn, jedenfalls nicht an sich, da entdeckt er Haare auf seinem Handrücken. Er sucht nach einer Erklärung, auch für den Ehering, der auf einmal an seinem Finger steckt. Als ob dicker Nebel sich langsam verzieht, erkennt er nun Schemen und ihm dämmert, was schließlich klar wird: Er ist gar kein Junge mehr. Vor ein paar Wochen wurde er fünfundvierzig Jahre alt, einszweiundachtzig ist er groß und fünfundneunzig Kilo schwer. Jetzt guckt er hoch.  Sein Vater steht immer noch da, klein geworden und stumm.

Der Junge, der kein Junge mehr ist, schaut sich um. Wo blieb das Ungeheuer, das ihn Zeit seines Lebens verfolgte und ängstigte? Er sieht keins. Er sieht einen zerfurchten kleinen Mann, dem er nichts zu sagen hat, und er geht. Unsicher schaut der Vater ihm hinterher.

Durcheinandergeraten

Herr Bauer richtet sich auf, ein Sperling singt vor dem Fenster. Wie schön, dass es Frühling wird, denkt er und wärmt sich in der hereinfallenden Sonne. Jetzt wird es heller, alles erwacht, das Leben ist … Nein. Das will er nicht denken.

Es war viel Arbeit gewesen. Herr Bauer hatte telefoniert, sortiert und Listen geschrieben, so dass jeder wusste, was er zu tun hatte und wann. Der Auftrag war groß, und sie hatten nur wenige Tage gehabt, alles heranzuschaffen und zusammenzubauen.

Eine Fliege krabbelt über den Schreibtisch und betastet nun einen Stift. Herr Bauer schaut ihr nach und sieht sie doch nicht. Gerade kommt er aus dem Büro des Drachens, oft genug hat er es als zertretenes Häufchen verlassen müssen. Erst allmählich versteht er, dass die Anfeindungen des Direktors nichts mit ihm zu tun haben, auf jeden hier wird eingedroschen. Das vorhin allerdings kam unvorbereitet.

„Ist mit Martens alles im Plan, Herr Bauer?“
„Ja, heute wird ausgeliefert.“
Der Drache blätterte durch ein paar Unterlagen und fuhr – ohne ihn anzusehen – fort:
„Wer hat das abgewickelt? Sie?“
„Ich habe dafür gesorgt, dass jeder seine Aufgaben kannte und erledigte.“
„Mhm.“
Der Drache schob seine Papiere zusammen und blickte auf.
„Das war eine große Sache, nicht wahr?“
„Ja, aber wir liefern rechtzeitig und vollständig.“
„Schön, dass es geklappt hat, Herr Bauer. Haben Sie gut hingekriegt.“

Herr Bauer ärgert sich, weil ihm auf einmal leicht ist. Weil das Vogelgezwitscher noch schöner klingt als heute Morgen, weil die Sonne nur ihn anzustrahlen scheint. Das alles will er nicht. Nicht wegen eines hingeworfenen Zuckerchens, so wenig ernst zu nehmen wie die gewohnten Peitschenschläge. Herr Bauer scheucht die Fliege fort. Er will nicht hoffen, dass alles anders wird, doch er kann nicht verhindern, dass es sich leichter amtet.

Feierabend

In den letzten Tagen war er viele Stunden im Büro. Ein gewaltiger Auftrag war gekommen, mit dünnen Lippen krallt sich Herr Bauer ans Telefon und malt währenddessen Striche in ein Notizbuch. Auf und ab, einen am andern, dicke kurze Balken entstehen, er presst die Spitze des Kugelschreibers ins Papier, als wolle er es erstechen. Herr Bauer bespricht, was zu besprechen ist. Er plant, informiert, ordnet an, und immer wieder prüft und er, dass nichts vergessen und nichts übersehen wird. Es geht voran.

Als sich am Abend die Tür hinter ihm schließt, erinnert er sich an seine frühere Arbeitsstelle. So war er immer nach Hause gegangen: Nach neun oder zehn Stunden Anspannung im Innern gestockt. Als habe sein Blut oder seine Kraft aufgehört zu fließen. Dick verklumpte sich sein Lebensgeist, er mochte nicht reden, nichts tun. So geht es ihm wieder in diesen Tagen. Sein Körper streift durch die Wohnung, sein Hirn zittert wie nach einem Faustschlag. Betäubt sucht er Ablenkung für die kurze Zeit bis zum Schlafengehen. Er versucht einen Film zu sehen, um nicht daran denken zu müssen, wie wenig der Abend Entspannung schenkt. Er trinkt Wein, bis er sich nicht mehr darüber ärgert. Erst am Morgen fällt es ihm wieder ein.

Das Erwachen

Es zuckt in den Augen der Bestie. Herr Bauer fährt fort zu erläutern, wie er den Auftrag bearbeitete. Er denkt sich ja etwas bei dem, was er tut. Die Reklamation ist bedauerlich,  doch sehe er auch, dass zu viel versprochen wurde.

Schon bricht das Unwetter herein.

„Ja freilich,“ tobt der Direktor, „ich bin Schuld! Ich hab zu viel versprochen und wir konnten es nicht halten!“
Ob es sein könne, dass der Kunde ihn missverstanden hatte?
„Ach der Kunde ist Schuld! Der sowieso immer, weil er zu blöd ist zu kapieren, ja?“
Höflich antwortet Herr Bauer:
„Offenbar stellte er sich eine andere Qualität vor als das, was wir lieferten. Ich spreche mit ihm und -“ Das Gesicht des Scheusals färbt sich rot.
„Nichts werden Sie tun! Sie haben genug angerichtet und jetzt kümmere ich mich darum. Alles muss man selbst machen hier, alles!“
Herr Bauer gibt nicht nach. Er ist kein kleiner Junge, der nichts als stumme Lippenbewegungen zustandebringt, als der Vater sich auftürmt und auf ihn niederdonnert. Jetzt spricht Herr Bauer.
„Der Schaden ist doch gering bei diesem kleinen Auftrag, und wir können mit dem Kunden eine Lösung finden.“ Der andere hört nicht und beißt sich am nächsten fest. So wird eins nach dem andern abgearbeitet.

Herr Bauer überlegt, ob er dabei ist zum Masochisten zu werden. Seit Tagen sucht er den Direktor auf, um über offene Themen zu reden. Viel häufiger als üblich, und jedes Mal gibt es Hiebe. Doch Herr Bauer geht wieder hin, er will wissen, dass er es aushält. Und in ihm erwacht eine Kraft, die sich schwer vom Lager erhebt und blinzelnd die Augen reibt.

Stimmig

„Diese Zahlen habe ich nicht berücksichtigt“, sagt Herr Bauer dünn und erschrickt. Er kann es nicht ausstehen, wenn er klingt wie eben. Voll und aus der Brust heraus soll seine Stimme tönen, die Stimme eines Menschen, der das Leben beherrscht. Stattdessen: Wie ein Vögelchen mit Angst vor dem Fuchs piepste es aus seiner Kehle. So bin ich doch nicht, rätselt er. Warum klinge ich manchmal so, beim Chef vor allem, wo ich es am wenigsten will?

„Was soll das heißen, Sie haben die Zahlen nicht berücksichtigt? Wie oft soll ich es noch sagen: Alle Zahlen gehören in diese Liste, auch diese. Ist das so schwer zu verstehen?“ Der Drache wetzt seine Krallen.

Herr Bauer strengt sich an, furchtlos zu klingen. „Ich sehe diese Liste zum ersten Mal. Warum haben Sie sie mir nicht früher gegeben?“ Na also. Schon besser. Es ist nicht schwer, ein bisschen lauter zu sprechen. Er drückt sich hier nicht in dunklen Gassen herum. Man darf ihn hören.
„Sie hätten ja mal danach fragen können!“

Ich kieg es hin, nahm Herr Bauer sich vor, und forsch erwiderte er: „Wonach hätte ich fragen können, wenn ich nicht weiß, dass es diese Zahlen gibt.“ Na bitte, so hört es sich anders an. Er darf es nur nicht vergessen. Immer wird er jetzt aufpassen und daran denken, dass er jemand ist. Dass er einen Platz hat. Und dass man ihn hören darf.

„Dann wissen Sie es eben beim nächsten Mal.“

Bestimmt.

Vorstellungen

Eine Wolke breitet sich aus im Büro. Dick, schwarz, abgesondert von dem Ungeheuer, das hier herrscht. Wieder einmal schiebt es einen Bewerber vor sich her und jeder sagt auf, was er hier tut. Niemand weiß, welche Stelle ausgeschrieben ist. Mit glühenden Augen starrt der Wolf auf sein Lämmchen, das übereifrig Interesse heuchelt für ein paar Leute hinter Schreibtischen.

Herr Bauer brütet darüber, wie auch in seinem Alter noch Geld zu verdienen wäre. Der nervöse Herr an der Tür ist nicht der Erste, der durch die Büros wandert. Immer wieder findet Herr Bauer etwas, das ihn im Fall des Falles vor dem Untergehen bewahren könnte. Fast alles verwirft er beim Morgentest. Herr Bauer liegt nämlich meist wach, bevor die Alarmuhr fiept, und dann malt er sich den Tag aus ohne feste Arbeit. Würde er ihn mit Nachhilfestunden für Schüler verbringen? Oder dem Verkauf von Trödel und Selbstgefertigtem? Was ihm auch einfällt, es graust ihn. Auf jeden Fall bräuchte er einen Firmennamen, um unsichtbar zu bleiben für Bekannte und frühere Kollegen, wenn er sich als Hausmeister anbietet. Mit Glück könnte er vielleicht Artikel schreiben für einen Verlag, und doch wäre auch das – wie alles andere – nichts, wovon er leben könnte.

Die Kollegen, sie sind durchweg jünger als er, verabschieden sich nun von dem Gast, gleich ist die Reihe an Herrn Bauer. Wer wird ersetzt? Arbeitet man gegen ihn? Der Bewerber geht, der Spuk aber bleibt. Wie eine Wolke, die sich ausbreitet. Dick, schwarz, giftig.

Der Traum vom Liegen

Jeden Morgen wünscht er sich, die Meinungen zu Theaterstücken und Kinofilmen zu Ende zu hören. Danach das Morgenjournal, und dann ein Klassik-Konzert.  Frédéric Chopin vielleicht, das einsame Genie, das seinen 200. Geburtstag feiert. Herr Bauer stellt sich vor, bettlägerig zu sein und den ganzen Tag Radio zu hören.  Lesen würde er auch, so elend wäre er nicht, dass das nicht ginge. Aber sein Leiden wäre groß genug, dass jeder einsehen müsste, keinen Waschlappen vor sich zu haben, sondern einen wahrhaft Kranken. Lange Zeit würde er sich nicht erheben können, oder doch nur gebrechlich zum Badezimmer schlurfen oder um eine Kleinigkeit  zu sich zu nehmen, die man für ihn bereitet hätte. Danach müsste er sich sogleich wieder hinlegen. Er würde sich Gedanken machen darüber, was Bettgebundenheit mit einem Menschen macht, und kluge Artikel darüber verfassen. Danach würde er wieder Radio hören.

Die Sendung über die heutigen Feuilletons ist zu Ende, mit den Worten des Nachrichtensprechers biegt Herr Bauer in den Parkplatz ein. Er stellt den Motor ab, steigt aus dem Wagen, schließt Tür und Gedanken hinter sich ab. Ein neuer Tag will bezwungen werden.

Eigenarten des Seins

Kann der Mensch an verschiedenen Orten seines Wirkens ein anderer sein? Herr Bauer wird den Gedanken nicht los. Bei der Arbeit duckt er sich vor den Hieben des Chefs. Zu Hause empfängt ihn Liebe, sie macht ihn stark.  Da er sich die Umgebungen seines Lebens kaum aussuchen kann – wer ist er denn nun? Der geprügelte Stillschweiger? Oder der Sichere, der seinen Lieben am Abend in die Augen schaut und Freude darin findet? Vielleicht ist er gar noch ein anderer. Der Anheizer zum Beispiel, der mit Macht überzeugen kann von sich und seinen Ideen, der energiegeladen von einer Aufgabe zur nächsten eilt, wenn er nur die passende Kulisse findet, die das möglich macht. Herr Bauer überlegt: Wer bin ich eigentlich?

Gerüstet

Bevor Herr Bauer zur Arbeit geht, packt er sich in Gelee. Dickes, festes Gelee, so zäh, dass er sich kaum noch bewegen kann.

Waffen zielen auf ihn, er weiß es.  „Finden Sie, dass Sie Ihr Gehalt wert sind?“ Er zieht den Gallertanzug höher bis an die Stirn. „Sie arbeiten nicht rentabel.“ Ach. „Den Laden wirtschaften Sie herunter!“ Die Hiebe prallen ab. Unter der schützenden Schicht weiß Herr Bauer: er arbeitet so gut wie jeder hier. Die Kollegen hören sich dasselbe an, laufend, wie er. Der Teufel hat eine Firma gegründet.

Wie im Bauerntheater erscheint es ihm an den guten Tagen. Derb geht es zu, Behauptungen und Anschuldigungen wie die maßlosen Übertreibungen von Komödianten. Hinter geschlossener Bürotür lacht er dann mit den anderen. Sie äffen das Gehabe nach, karikieren die grotesken Verhältnisse, sie schütteln ihre Erregung ab.

An den anderen Tagen sitzt Herr Bauer in seinem Panzer. Unter einer Schicht wie Gelee hält er aus. Bleibt für sich, lässt niemanden durch, auch die Angriffe nicht. Das ist die Hauptsache.

Herr Bauer läuft nicht davon. Die letzten Jahre scheuchten ihn von hier nach da und von oben nach unten, er will keine Umwälzungen mehr. Er will Ruhe. Die findet er hier nicht, aber Arbeit und ein Verdienst. Das ist für den Moment genug.

Die zwei Seelen des Herrn Bauer

Wie der Michelinmann auf dem Dach einer Tankstelle bläht sich der Direktor vor einem Schaubild. Er trägt Details vor über die neuen Bohrmaschinen, wortreich und mit ausladenden Gesten betet er die Besonderheiten einer neuen Produktreihe herunter. Auf Zahlen und Zeichnungen deutend beendet er seine Ausführungen und mustert die Teilnehmer der Schulung. Krumm hockt Herr Bauer da und macht sich klein.

„Sitz grade“, schreit in der Tiefe seines Bewusstseins der Vater. Herr Bauer spürt die Faust, die ihm in den Rücken boxt,  seine Kinderhände klammern sich an der Tischplatte fest. Mit zusammengepressten Lippen starrt er auf den Teller vor ihm und hofft,  er werde davonkommen mit dem einen Schlag.

„Herr Bauer, haben Sie auch mal etwas zu sagen?“ Er schreckt aus seinen Erinnerungen, entdeckt an der Tafel die neue Überschrift: Verkaufsargumente. Gehorsam quält eine Anmerkung sich räuspernd vor die Runde. Man ist nicht zufrieden mit ihm. Nicht energisch genug sei er, nicht präsent genug. Vielleicht einfach nicht laut genug.

Noch eine Stunde bis Feierabend. Der Gedanke belebt ihn, denn auf dem Nachhauseweg wächst Herr Bauer. Groß geworden, mit hungrigem Herzen öffnet er Abend für Abend die Wohnungstür, Iris ist meistens schon da. Sie duftet wie ein Blumenstrauß und er liebt es, an ihr zu schnuppern. Wenn er sich zum Begrüßungskuss niederbeugt, streicht sie mit leichter Hand über seinen Rücken. Voll Wärme und Leben bereiten sie dann ihr Abendbrot.

Herr Bauer richtet sich auf. Er ist Teilnehmer einer Schulung und wie alle andern darf er sich äußern. Immerzu darf er sich äußern, erkennt er, und mit fester Stimme stellt er zu den Bohrmaschinen eine Frage. Er will wissen, was nun passiert. Das Ergebnis: Herr Bauer erhält eine Antwort. Eine normale, hilfreiche Antwort.