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Lebenszeit

Ich bin immer schon gerne gereist. In den letzten Wochen aber wird der Drang nach anderen Orten, Unentdecktem und nicht Alltäglichem immer größer. Am liebsten möchte ich jeden Tag einen Ausflug machen, und wenn es nur auf den Balkon ist, um die Vorgänge in einem kleinen Spinnennest zu verfolgen. Ich will alles sehen, hören, riechen, schmecken. Ich will aber auch schreiben, und lesen, ich kann nicht genug bekommen von all dem Schönen, das ich mir nur zu nehmen brauche. Mich hat ein Hunger nach Leben ergriffen, der mir in so anhaltender Form unbekannt ist, und was lästig ist, stelle ich nun immer häufiger hintenan. Übersetzungen zum Beispiel.

Sie bedeuten allerdings einen Teil meines Einkommens. Dieser Aspekt ist nicht zu vernachlässigen, da meine Teilzeitanstellung im September endet und ich nicht weiß, ob mich in meinem Alter noch jemand will. Ich sollte meine Kunden also pflegen und nicht vergrämen, aber es ist wie eine Sucht. Da sind die Sonnentage am Seeufer. Wanderungen über Bergwiesen. Bilder und Geschichten am Wegrand, Wörter und Formulierungen, die einander finden wollen zu einem vibrierenden Ganzen. Ich will nicht mehr nach der Arbeit nach Hause hasten und Google nach Flugtechnik oder Farbeimern suchen lassen, um manchmal bis in die Nacht hinein Anleitungen und Broschüren zu übersetzen. Ich habe eine Lust zu leben, als bliebe mir nicht mehr viel Zeit. Und so ähnlich ist es auch.

Etwa einmal in der Woche besuche ich meine Mutter. Eines Tages schiebt man auch mich im Rollstuhl in den Aufenthaltsraum eines Pflegeheims. Dort verbringe ich dann den Nachmittag. Auch ich werde vielleicht nicht mehr in der Lage sein zu sprechen oder mich an irgendetwas zu beteiligen, weil ich zu schwach geworden bin. Vielleicht werde ich wie andere Bewohner nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr denken können. Man wird mir beim Essen helfen, beim Waschen. Man wird mir die Haare kämmen.

Und was mache ich bis dahin?
Eben.
Korbblume_

Die Katastrophe

Bundespräsident Gauck bricht eine Auslandsreise ab. Die Kanzlerin, der französische und der spanische Präsident begeben sich an die Unglücksstelle. Eine Ministerin besucht Haltern am See. In Deutschland wehen die Fahnen auf Halbmast, eine Schweigeminute lenkt die Gedanken der ganzen Nation zu den Opfern.

Ich habe gelesen, dass ein solches Spektakel und der Aufruhr in den Medien es den Angehörigen noch schwerer mache. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich stelle mir gerade vor, dass eine von mir geliebte Person in diesem Flugzeug gesessen hätte. Der Rummel würde nichts ungeschehen machen und meine Trauer nicht lindern. Aber es wäre vielleicht tröstlich, dass der Verlust dieses Menschen wichtig genug ist für den internationalen Aufmarsch, die Schlagzeilen auf den Titelseiten und die Sondersendungen im Fernsehen.

Je mehr sich auch andere damit beschäftigen, desto weniger sind wir mit dem Schmerz allein. Desto geringer wird auch die Furcht, dass ein toter Mensch im Nichts versinkt. Eine Illusion freilich. Der wahre Grund für die kollektive Erschütterung ist das drastische Beispiel, mit dem uns die eigene Endlichkeit vor Augen geführt wird und dass wir nicht alles planen können. Trotzdem würde mir das Aufsehen in diesen Tagen wahrscheinlich helfen.

Augen zu und durch

Ich habe diese Woche mit einer Laserschneidmaschine verbracht. Man könnte mich an so ein Gerät stellen und ich wüsste theoretisch, wie man Formen aus Stahlblechen ausschneidet. Ich habe eine Bedienungsanleitung vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Es gibt zum Beispiel unterschiedlich große Laserköpfe, und wenn man die auswechselt, muss die Programmierung neu eingestellt werden. Wollt ihr es wissen, wie das geht? Sind Laserschneidmaschinenbediener unter euch? Was ich sagen will: Neben meiner Arbeit in einem Büro habe ich diese Woche kaum etwas anderes getan als das. Jeden Nachmittag, jeden Abend. Ich bin müde.

Man tut so vieles, weil man glaubt, es tun zu müssen. Wir tun es, ohne zu wollen und dumme Gedanken werden verjagt. Das ist gut so, denn dann hält man es aus. Mit etwas Übung spürt man sich immer weniger. Ich hätte diese Übersetzung nicht anzunehmen brauchen. Ich wusste, das Volumen ist enorm und der Text sperrig. Ich hätte ablehnen und auf andere Aufträge hoffen können, kleinere. Aber jemand sagte, ich solle es tun. Es wurde von mir erwartet, und der Hintergedanke ist immer: wenn ich fertig bin, geht es mir wieder gut. So ist es mit allem: Wenn ich dies und jenes überstanden habe, ist das Leben wieder schön. Oder vorbei.

Ich erlebe gerade die letzte Lebensphase meiner Mutter. Irgendwann legt man auch mich in ein Pflegebett und ich muss versorgt werden. Irgendwann geht es aus mit mir. Worauf blicke ich dann zurück? Auf Laserschneidmaschinen?

Ich beginne zu erfassen, was Endlichkeit bedeutet und dass sie eine Chance sein könnte, das Leben wahrzunehmen. In unsere Gesellschaft dient der Tod aber nur als Medienspektakel für auflagensteigernde Berichte aus fernen Krisengebieten. Gelegentlich lesen wir Traueranzeigen, und wenn wir jemanden kennen, murmeln wir Ohje und blättern weiter. Wir kennen uns nicht aus damit.

Ich frage mich, ob Menschen früher, als der Tod noch zu jedem nach Hause kam, anders lebten. Ob sie leuchtende Augenblicke erkannten und mitnahmen als kleinen Erinnerungsschatz, den sie später hervorholen konnten, anstatt zu erstarren und keinen Blick zu haben für die Geschenke, die das Leben bereithält.

 

Sylvia (14)Abb.: (c) Sylvia W.