Ich bin immer schon gerne gereist. In den letzten Wochen aber wird der Drang nach anderen Orten, Unentdecktem und nicht Alltäglichem immer größer. Am liebsten möchte ich jeden Tag einen Ausflug machen, und wenn es nur auf den Balkon ist, um die Vorgänge in einem kleinen Spinnennest zu verfolgen. Ich will alles sehen, hören, riechen, schmecken. Ich will aber auch schreiben, und lesen, ich kann nicht genug bekommen von all dem Schönen, das ich mir nur zu nehmen brauche. Mich hat ein Hunger nach Leben ergriffen, der mir in so anhaltender Form unbekannt ist, und was lästig ist, stelle ich nun immer häufiger hintenan. Übersetzungen zum Beispiel.
Sie bedeuten allerdings einen Teil meines Einkommens. Dieser Aspekt ist nicht zu vernachlässigen, da meine Teilzeitanstellung im September endet und ich nicht weiß, ob mich in meinem Alter noch jemand will. Ich sollte meine Kunden also pflegen und nicht vergrämen, aber es ist wie eine Sucht. Da sind die Sonnentage am Seeufer. Wanderungen über Bergwiesen. Bilder und Geschichten am Wegrand, Wörter und Formulierungen, die einander finden wollen zu einem vibrierenden Ganzen. Ich will nicht mehr nach der Arbeit nach Hause hasten und Google nach Flugtechnik oder Farbeimern suchen lassen, um manchmal bis in die Nacht hinein Anleitungen und Broschüren zu übersetzen. Ich habe eine Lust zu leben, als bliebe mir nicht mehr viel Zeit. Und so ähnlich ist es auch.
Etwa einmal in der Woche besuche ich meine Mutter. Eines Tages schiebt man auch mich im Rollstuhl in den Aufenthaltsraum eines Pflegeheims. Dort verbringe ich dann den Nachmittag. Auch ich werde vielleicht nicht mehr in der Lage sein zu sprechen oder mich an irgendetwas zu beteiligen, weil ich zu schwach geworden bin. Vielleicht werde ich wie andere Bewohner nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr denken können. Man wird mir beim Essen helfen, beim Waschen. Man wird mir die Haare kämmen.