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Einstellungssache – II

Schade um das Essen. Die Fleischscheibe, die ich mir in der Küche eines Sternekochs vor ein paar Tagen auf den Teller legte, zerging auf der Zunge, ein fantastisch zarter Gaumenkuss mit Meerrettichsoße, etwas so Feines habe ich lange nicht bekommen. Das Personal zahlt hier einen geringen Monatsbetrag und kann sich dann nehmen, was das Haus zu bieten hat. Jeden Tag essen in einem Spitzenrestaurant, das wär schon was gewesen! Dennoch entschied ich mich dagegen.

Dabei machte der Probetag richtig Spaß. Im dazugehörenden Hotel spazierten Geschäftsleute hin und her, Amerikaner vor allem, spannend. Sympathische Mitarbeiter wuselten herum wie in einem Ameisennest, es wurde gerufen, gelacht, gelärmt, auf vornehme Zimmerlautstärke heruntergedreht, wenn ein Gast in der Nähe war. Die Anmeldung duckt sich ein wenig zerschrammt in eine Nische, wir befinden uns in einem fast tausend Jahre alten Gebäude. Es ist natürlich aufgefrischt worden, aber so hochglanzpoliert und leblos wie viele moderne Häuser kann es nie sein, man findet Spuren eines langen Daseins. Ich mag das. Ein kleines Familienunternehmen hat es hier jedenfalls geschafft, zu einer großen Adresse zu werden, und es sucht jemanden für den Empfang.

An die Schichtarbeit hätte ich mich gewöhnen müssen, und nein, Geld gibts auch nicht viel. Gastronomie eben. Aber wenn man sich am Arbeitsplatz fühlt wie ein Fisch im Wasser, dann verschwimmt mancher Einwand. Trotzdem werde ich hier nicht arbeiten, denn heute traf ich einen Freund, der die Inhaber kennt. Er bestätigte, was ich von anderen Quellen schon weiß: Man wird hier nicht gut behandelt. Überhaupt nicht gut.

Es ist schwer, so etwas ernst zu nehmen, wenn man sich in eine Stelle verliebt hat und Ausflüchte sucht: irgendwas ist überall. Ich weiß doch, was ich kann, und ich werde mich behaupten, bin schließlich ein Profi, der Job ist es wert. In diese Falle tappte ich vor drei Jahren schon einmal. Ich hatte bei einer neuen Stelle dieselben Warnungen erhalten, sagte trotzdem zu und heute weiß ich nicht mehr, was ich kann und ob ich überhaupt etwas kann, und ein Profi bin ich auch nicht mehr. Das ist kein Job wert.

Verflixt. Es ist trotzdem schwer, sich von einer Möglichkeit zu verabschieden, bevor man sie richtig kennt. Aber … nein. Ich werde dort nicht arbeiten.

Einstellungssache

Eine Asiatin betritt den Raum. Die Übersetzerin einer exotischen Sprache, ist mein erster Gedanke, schwer zu finden und teuer. Es ist aber die Reinemachefrau, die jetzt einen Eimer abstellt, und ich befinde mich in keiner Sprachagentur, sondern in einem Industriebetrieb im Vorzimmer des Geschäftsleiters. Seine Assistentin hat mir an ihrem Schreibtisch Platz gemacht. Die junge Frau, die bald Mutter wird, schiebt einen Apfelschnitz in den Mund, zerrt den Papierkorb aus der Ecke und fährt fort, mir eine Verzeichnisstruktur zu erläutern. Vielleicht werde ich ihre Nachfolgerin. Ich bin hier bei einem Probe-Arbeitstag, weil es so schwer ist, vom Übersetzen zu leben.

Die Asiatin kommt näher, ein kurzer Blick huscht zu mir, weil sie mich noch nie gesehen hat. Ich lächle ihr zu und hebe einen Papierstapel hoch, während sie mit einem Tuch auf der Tischplatte herumwedelt. Sie lächelt unsicher zurück, leert dann hastig den Papierkorb und macht sich auf leisen Sohlen davon. Vielleicht hat auch sie sich Manches anders vorgestellt. Das Leben ist kein Ponyhof.

Von Kanzlern und Assistenten

„Rausschmeißen!“ würde die Kanzlerin sagen, wenn einer ihrer Dienstleister versagt. Kurzer Prozess. Ein Assistent hätte sich auf der Stelle um Ersatz zu kümmern und dem verschreckten Lieferanten zu vermelden: „Wir brauchen Sie nicht mehr.“ Und es gilt. Für immer. Natürlich bellt nicht nur Angela Merkel solche Kommandos, sondern  jede Führungskraft, aber bei der Kanzlerin kann man es sich so gut vorstellen.

Ich bin nicht so allmächtig. Deshalb muss ich vor einem scheiternden Dienstleister selbst die Tür zuschlagen und hinterherrufen, er brauche nicht mehr wiederzukommen. Auf Anweisung höherer Stellen kann ich mich dabei nicht berufen, und meine Zweifel muss ich auch selbst wegdrücken: Zum Beispiel, dass die Leistung bisher ordentlich war, das derzeitige Fiasko könnte eine Ausnahme sein. Einen Nachfolger müsste ich natürlich auch selbst finden. Und aufbauen.

All das zusammen ist der Grund, warum ich meinen arabischen Übersetzer nicht in die Pampa schicke, obwohl er mich seit Tagen hängen lässt. Ich bekomme Versprechungen, aber keine Texte und wenn doch, (verspätet), dann fehlerhaft und unvollständig. Tag für Tag vertröste ich einen wichtigen Kunden und blamiere mich immer wieder aufs Neue.

So verhielt es sich bisher ja nicht. Aber wenn mir heute einer von oben sagte, ich solle die Zusammenarbeit mit diesem Dienstleister beenden, dann wär ich eine glühend motivierte Assistentin.

Die Zurückgelassenen

Bei meiner Mutter stapeln sich Kartons mit Büchern. Sie wird sie nicht mitnehmen in die neue Wohnung. Ich besitze selbst viele Bücher, wie Geliebte, Freunde oder Bekannte erzählen sie davon, was irgendwann einmal Bedeutung hatte für mich und niemals will ich mich von ihnen trennen. Ich glaube, so dachte meine Mutter einst auch. Es zieht mir die Seele zusammen beim Gedanken an all diese Schachteln und dass die Bücher darin nicht mehr zu meiner Mutter gehören dürfen. Romane, Gedichte, Rezepte, Kunst, von Simmel bis Kaffka ist alles da. Für alle habe ich leider nicht den Platz, aber immer wieder fische ich das eine oder andere heraus, um es zu retten.

Eins davon habe ich gerade gelesen, „Zwei alte Frauen“ von Velma Wallis. Es handelt von einem Nomadenstamm in Alaska, lange bevor die Zivilisation kam mit Autos und TV-Geräten. Zu jener Zeit fanden die Menschen in besonders langen Wintern nichts mehr zu essen, sie starben an Entkräftung und Hoffnungslosigkeit. So mussten die Häuptlinge von Zeit zu Zeit eine fürchterliche Entscheidung treffen: Sie trennten sich von den Alten. Zum einen, weil sie nutzlose Esser waren, zum andern vielleicht dargebracht als Opfer an Geister, die in die hungernden Menschen gedrungen waren und sie wild und unberechenbar werden ließen.

Der Stamm zog weiter und war einen Moment lang erleichtert darüber, besser dran zu sein als zwei alten Frauen, die zurückgelassen wurden. Doch statt sich mit indianischem Stolz ihrem Schicksal zu ergeben, weinten die Frauen, verzagten, sie barsten vor Wut auf jene, die ihnen das antaten. Wir erfahren vom eisigen Weg, der vor ihnen liegt, von Angst und der Entschlossenheit, ihn zu gehen. Das Buch ist eine Geschichte von Grenzen und wie man sie hinter sich lässt.

Meine Mutter zeigt auf ein weiteres Fach, in dem Bücher stehn, und noch eins und noch eins.  Früher erwarb sie ein Buch nach dem andern und gelegentlich meinte sie: „Was ich jetzt nicht lese, lese ich später. Wenn ich in Rente bin, ist genug Zeit.“ Und sie hat viel gelesen seither, aber auch vor ihrer Pensionierung, immer schon. Jetzt liest sie nicht mehr. Ihre Gedanken zusammen zu halten bei längeren Texten ist anstrengend geworden für sie. Buch um Buch ziehe ich aus dem Schrank und reiche es meiner Mutter. Ungerührt versenkt sie jedes einzelne in einem Karton. Ich weiß noch nicht was tun mit ihnen, schaurig, sie einfach wegzugeben.

Ad-Hoc-Entscheidungen

Den Freitagabend verbrachten wir wie meistens im Irish Pub, bei Fish & Chips und Bekannten, beim einfachen und beschaulichen Leben, wenigstens einen Abend lang. Der Rosenverkäufer – wir kennen ihn seit Jahren – schaute vorbei, er stammt aus Pakistan und wir kaufen ihm immer zwei, drei Rosen ab. Mit breitem Lächeln und einer kleinen Verbeugung gibt er mir stets noch eine oder zwei dazu.

Am Freitag setzte er sich eine Weile zu uns. Neben dem Small Talk, über den es üblicherweise nicht hinausgeht, hatten wir diesmal ein Thema. Er kocht nämlich. Wir hörten seinem Kauderwelsch zu über indisches und pakistanisches Essen, über Masala, Reis mit Zwiebeln, Joghurt, Linsen und so weiter zu. Sein Deutsch besteht nur aus Bruchstücken, aber wir bekamen mit, dass auf seinem Herd leckere Dinge brutzeln.

Die Gerichte kann man bestellen, sagte er. Hm, dachten wir. Eine Telefonnummer für den Bedarfsfall gab er uns nicht (er besitzt also kein Telefon), auch konnte er seinen Namen für uns nicht notieren (er kann also nicht schreiben). Spontan bestellten wir deshalb für heute Abend ein Chicken Curry für zwei Personen, wir sind gespannt. Dass er uns keinen Preis nennen wollte,  macht es noch spannender.

Die Rettung

Es ist Hochwasser, und ein Mann kann sich gerade noch vor den Fluten retten, indem er auf das Dach seines Hauses klettert. Von dort sieht er, wie der Wasserspiegel weiter steigt. Er beginnt zu beten: „Herr, bitte hilf mir, rette mich vor dem Hochwasser!“

Ein kleines Ruderboot paddelt vorbei und jemand ruft ihm zu: „Steig ein, ich hab noch Platz!“ Der Mann antwortet, „Gott wird mir helfen, gib diesen Platz einem andern.“ Ein weiteres Boot erscheint und will ihn mitnehmen, aber auch diesmal beruft sich der Mann auf die Hilfe Gottes und bleibt auf dem Dach seines Hauses. Das dritte Boot, das vorbei rudert, weist er ebenfalls ab im festen Vertrauen, dass Gott ihm helfe. Schließlich erreicht das Wasser den Mann und er ertrinkt.

Klagend steht er nun vor Gott: „Herr, wo warst du? Warum hast du mich nicht gerettet?“ – „Nun“, antwortet Gott, „ich habe dir drei Boote geschickt. Warum bist du nicht eingestiegen?“

Entscheidungen

Wenn eine Gelegenheit sich bietet, etwas Ungeliebtes zu verlassen – macht man sich sogleich aus dem Staub? Nehmen wir an, die Arbeitsstelle bereitet uns Kummer und wir bekommen die Möglichkeit zu wechseln. Eine Tür ist aufgegangen und lockt uns einzutreten, doch wird sie hinter uns zufallen und was dann kommt, wissen wir nicht.

Derzeit ist – um bei unserem Beispiel zu bleiben – das Pensum nicht zu schaffen, Misstrauen herrscht im Büro oder wir werden angegriffen. Verabscheuen wir bei der Arbeit aber wirklich alles? Oder doch nur manches? Wir zerreißen uns zwischen dem Bedürfnis zu fliehen aus einem Missstand und zu bleiben bei dem, was vertraut ist. Gerade jetzt, wo wir mit solchen Gedanken spielen, ist es in der Firma gar nicht so schlimm! Unsere Wahrnehmung ändert sich: An diesem Arbeitsplatz müssen wir nicht ausharren, sondern wir können. Wenn wir wollen.

Nach langen Jahren ohne Veränderungen, aber auch in Zeiten mit vielen Umwälzungen tun wir uns außerdem schwerer, etwas Neues zu beginnen, auch wenn das Bestehende uns peinigt und eine andere Chance uns zu sich winkt. Lohnt sich der Aufwand? Wäre es dort überhaupt besser? Schuldgefühle nisten sich auch noch ein, weil wir Menschen enttäuschen, wenn wir sie verlassen. Betreten blicken wir an ihnen vorbei, damit sie in unseren Augen nicht lesen, was weiter hinten in Gedanken versinkt: ob wir uns darauf einlassen sollen, ob es woanders besser sein mag, und dass nichts vergänglicher ist als die Gelegenheit.

Lebensfragen

Neulich beim Friseur: Während eine süße Blonde meine Resthaare kürzer schnitt, blätterte ich eine Zeitschrift durch. Es lag eine „Brigitte“ herum, der ich generell nichts abgewinnen kann, aber es gab keine Alternative. Ich ging also die Überschriften durch und fand doch etwas, das mich interessierte. Ich glaube, es ging um Burn-Out, und als Anregung wurde folgende Frage gestellt:

„Wenn Sie eine Entscheidung treffen könnten und Sie hätten die Sicherheit, dass Sie damit niemanden kränken, enttäuschen oder schädigen – was würden Sie tun?“

Ich kam auf Anhieb zu keinem Ergebnis, und das überraschte mich. Denn auch wenn man niemanden kränkt oder schädigt, könnte das Leben nach einer Entscheidung ganz anders aussehen. Was wir gerne loswerden wollen, ist durchaus interessant herauszufinden. Was wir davon haben werden, ist es aber auch. Woher weiß ich denn, was die veränderte Situation bei mir auslösen würde und ob ich das langfristig überhaupt wollte? Im Artikel gab es dazu keine Hilfestellung. „Brigitte“ eben. Nix Halbes, nix Ganzes.

Ich warf die Zeitschrift auf die Ablage vor dem Spiegel und unterhielt mich mit der Friseurin übers Wetter. Da ist von vornherein klar, dass wir es weder vorhersehen noch ändern können. Wir müssen nur entscheiden, was wir anziehn.

Lebensfragen

Sonderbar: Mit Krankenhaus verbinde ich zunächst Ausruhen. Verantwortung abgeben. Fallen lassen. Ich denke gerade darüber nach wie es wäre, krank zu sein. So krank, dass das Ende in Sichtweite rückt. Wie würde ich die verbleibenden Jahre oder Monate verbringen? Kein gesunder Mensch kann das wissen, aber es ist eine gute Möglichkeit, Verborgenes bewusst zu machen. Ich wüsste genau, was ich als Erstes tun würde: Meinen Beruf aufgeben!

Wir verändern uns bei der Arbeit. Wir tun bestimmte Dinge und passen uns an, wir werden immer mehr so, wie Vorgesetzte und Kollegen uns haben wollen. Würden andere Umgebungen, Vorgesetzte oder Kollegen etwas anderes fordern, wären wir selbst auch ein bisschen anders. Man sucht es sich nicht wirklich aus, und man wird beraubt, denn nur mit Menschen und Tätigkeiten, die zu uns passen, kann man sich selbst sein. Aber wer hat schon so viel Glück?

Ich würd nur noch arbeiten, wo ich mit dem Herzen dabei bin. Ich würde mich einbringen und Verantwortung übernehmen für etwas, hinter dem ich stehe. Auch wenn ich nicht davon leben könnte, dank Krankenkasse käme ich ja über die Runden. Und ihr? Wenn ihr erfahren müsstet, dass euer Leben nicht mehr allzu lange dauert: Würdet ihr etwas ändern?