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Das Leben der neuen Römer

Stefano bringt uns zu sich nach Hause. Er wohnt in einem 6-Familienhaus am Stadtrand von Rom, alle Parteien sind von Familienmitgliedern bewohnt: Stefano, Maamma, Schwester, Bruder, Onkel, Cousin. Das sei normal in Italien. Er zeigt uns stolz den großen Gemüsegarten, die riesige Garage mit Vespas, Segway, Motorrädern, aufgebocktem Cabrio-Oldtimer, Essensvorräten, einem leeren Aquarium und anderem Zeug. Alles ist picobello aufgeräumt.
An jeder verfügbaren Ecke im und ums Haus herum stehen etwa einen Meter hohe weiße Gipsstatuen. „Mein Onkel“, sagt Stefano und verdreht die Augen. Man wisse nicht was tun, er stelle überall diese Statuen auf. Kommt man vom Einkaufen zurück, ist garantiert irgendwo eine dazu gekommen.

Nun werden wir in die weitläufige Wohnung geführt. Wir lernen Stefanos zweite Frau kennen, eine warmherzige, schöne Italienerin. Den zehnjährigen Sohn kennen wir schon aus Deutschland, als seine Mutter noch lebte. Groß ist er geworden.

Stefanos Bruder kommt dazu, später ein Freund. Wir trinken Espresso, essen Kuchen, dann führt uns Stefano durch die Wohnung wie ein Schlossherr. Wir schauen viele Fotos an den Wänden an, ein ganzes Leben in Bildern. Im Zimmer des Kindes hängt ein Poster seiner verstorbenen deutschen Mutter. Wie schön sie war.

Dann müssen wir die Wohnung des Bruders besichtigen. Dort werden sogleich Waffen herausgeholt – Luigi ist Sportschütze. Pistolen, ein Jagdgewehr und ein Automatikgewehr werden hochgehoben, der Freund posiert für ein Foto, schimpft auf rumänische Immigranten, Gelächter. Ich nehme eine Pistole in die Hand, lasse mich aber nicht fotografieren und will nur sehen, wie es sich anfühlt. Die Waffe ist klein und überraschend schwer.

Zum Schluss geht es in die Wohnung der Mutter, die nicht zu Hause ist. Das macht aber nichts, wird uns gesagt. Wir bewundern die Einrichtung, alles ist gediegen und elegant, traditionell mit Spitzendeckchen und goldgerahmten Bildern, nicht zuviel und nicht zuwenig, aufgeräumt und fast abgeschleckt sauber ist es auch hier.

Zurück in Stefanos Wohnung wird unter lebhaftem Palaver Wein aus dem Keller geholt, wir trinken ihn aus kleinen Wassergläsern. Dann kommt die Pizza, Oliven aus dem eigenen Garten, Dies und Das. Im Fernseher läuft ein Trickfilm, der Junge sitzt davor und kichert. Er macht den Ton leiser, als Stefano ihn dazu auffordert. Es ist alles so unkompliziert hier.

Subhapaetum!*

Bei einem Hochzeitspaar aus Sri Lanka erwartet man bei der Feier vielleicht nicht gleich eine im Sarong erscheinende Braut, die mit wackelndem Kopf und Glöckchenrasseln zu tanzen beginnt. Aber ein bisschen exotisch stellte ich mir das Fest schon vor, und das wurde es auch – allerdings anders als gedacht.

Vor kurzem durfte also die langjährige Verlobte eines Freundes von uns endlich nach Deutschland einreisen, und sofort wurde die Heirat geplant, bevor das Visum abläuft. Beide sind gläubige Christen, sodass heute kein Brahmane heilige Verse auf Sanskrit aufsagt, sondern die Trauung in einer normalen katholischen Kirche stattfindet.

Zunächst fällt mir auf, wie kräftig alle Hochzeitsgäste – selbst die jungen – bei den Liedern mitsingen. Im Gegensatz zu mir kennt sie offenbar jeder. Ein etwa 25jähriger Mann, der fürs Fotografieren zuständig ist und meist im Hauptgang in meiner Nähe steht, kennt sämtliche Texte und Gebete auswendig. Bei der Wandlung knien alle nieder, und kniend nehmen die meisten auch die heilige Kommunion entgegen. Manche lassen sich gar die Hostie auf die Zunge legen. Ich stoße den geliebten Briten an und wispere: „Ich glaub das ist hier eine Sekte.“

Bei der anschließenden Feier habe ich eine Mission: Was geht hier vor? Ich beginne mit einer Frau am Buffet und komme schnell zur Sache. „Welcher Glaubensrichtung gehören die Menschen hier eigentlich an? Ich kannte die Lieder nicht.“ Sie lacht amüsiert. „Die Lieder stehen alle im Gotteslob, und wir sind eine Gruppe von ganz normalen Katholiken aus verschiedenen Gemeinden. Einmal in der Woche treffen wir uns zum Gebetskreis, daher kennen wir den Bräutigam und nun auch seine schöne Frau.“

Gebetskreis? Mit jungen Leuten?

Das Essen beginnt, der Bräutigam erhebt sich, die Gespräche verstummen. Doch statt einer Ansprache kommt nun ein Tischgebet. Wann habe ich das zum letzten Mal gehört? Ich weiß nicht einmal mehr den Text, aber die Idee berührt mich. Als er fertig ist, erfüllt sich der Raum mit Reden und Lachen und Porzellangeklapper.

Es gelingt mir nicht, diese Frömmigkeit einzuordnen, und nach dem ersten Glas Wein spreche ich den sympathischen jungen Fotografen an. Was bringt ihn in einen Gebetskreis? Er lacht und erzählt von seinem religiösen Elternhaus, dass er jahrelang bei den Pfadfindern gewesen sei und heute begeistere ihn der Katechismus: „Darin stehen so viele Antworten auf meine Fragen.“ Seine Augen leuchten. Er habe jeden Tag das Bedürfnis, sich wenigstens eine halbe Stunde lang ganz auf Gott einzulassen. Der Gebetskreis ist nur eine der Möglichkeiten, das zu tun.

Nach dem zweiten Glas Wein frage ich einen Mann um die Dreißig. In seiner Familie sei nicht mehr und nicht weniger gebetet worden als in den meisten Familien, gibt er bereitwillig Auskunft, und dass er lange im Fußballverein war. Mit der Zeit habe er sich aber eine tiefergehende Gemeinschaft gewünscht und er fing an, sich Gedanken zu machen, auch über Religion. „Durch Zufall oder Gottes Fügung lernte ich Christen kennen, die ihrem Glauben Leben gaben. Da zog es mich hin.“ Inzwischen studiert er Theologie und will Priester werden. Das wöchentliche gemeinsame Beten im kleinen Kreis sei persönlicher als der Gottesdienst und für ihn eine schöne Ergänzung.

Dass unser Freund, der Bräutigam, zu einem Gebetskreis gehört, weiß ich erst seit heute. Er fühle sich in der Liebe Gottes geborgen, schwärmt er mit großen Augen und starkem singhalesichen Akzent. Es sei für ihn selbstverständlich, Gott im Gebet zu begegnen und man habe ihn hier mit offenen Armen aufgenommen. Dadurch sei es noch schöner, wie in einer Familie. Als Ausländer habe er sich nie gefühlt, obwohl er am Anfang kaum Deutsch konnte.

Einige der jungen Leute setzen sich später mit Gitarre und Violine hin und machen Musik, die Gäste unterhalten sich, Kinder spielen auf dem Boden. Die Stimmung ist fröhlich und ungezwungen. Das Brautpaar stellt sich auf und lässt sich geduldig nacheinander mit allen Gästen fotografieren. Etwa vierzig Menschen sind zu ihrem Fest gekommen, aber niemand aus der fernen Heimat des Brautpaares. Die Ausreise war entweder unmöglich oder aus politischen Gründen riskant. Den ganzen Tag über läuft immer wieder eine Videokamera und zeichnet auf.

Fromme Menschen gibt es also auch in Deutschland, und in jedem Alter. Darüber muss ich nachdenken.

 

Wedding (2)
Wedding (1)

 

Subhapaetum, singhalesisch = Glückwunsch

Spurenfinden

Unter den Sachen, die ich von meiner Mutter mitgenommen habe, finde ich auch Briefe. Ihr Vater schrieb sie vor über siebzig Jahren an seine Frau – meine Großmutter – und gelegentlich an sein Töchterchen, meine Mutter. Auch Fotos sind dabei, auf denen ein attraktiver, lebenslustiger Mann posiert, den ich sicher gern gehabt hätte. Schade, dass ich ihn nie kennengelernt habe. Der letzte Brief kam 1946 aus einer Lungenheilstätte, wenige Wochen vor seinem Tod.

Damit diese Briefe auch von meinen Geschwistern und Kindern gelesen werden können und das mürb gewordene Papier nicht darunter leidet, beschließe ich, sie zu digitalisieren. Einen nach dem andern ziehe ich aus dem Umschlag und lege die vergilbten Bögen vorsichtig in den Scanner. Was mein Großvater wohl denken würde, wenn er mich dabei sehen könnte? Er wäre vielleicht überrascht, dass die Briefe so lange überdauert haben. Dass seine Enkelin sie aber in einen sirrenden Kasten legt und die Schriftzeilen danach ohne weiteres Zutun in einem großen Bilderrahmen auf dem Schreibtisch erscheinen – das hätte er wahrscheinlich nicht einordnen können. Er wäre wohl davon ausgegangen, dass die Menschen Zaubern gelernt haben.

Mir ist, als stünde mein Großvater jetzt im Raum und schaute mir über die Schulter zu. Es fühlt sich leicht und selbstverständlich an. Ich stelle mir vor, wie ich ihm den Scanner so gut wie möglich erkläre und dass es nichts mit Hexerei zu tun hat, was ich da mache. Er steht die ganze Zeit hinter mir wie in einer dieser Science-Fiction-Komödien und schüttelt ratlos grinsend den Kopf.

So bin ich ihm – irgendwie – doch noch begegnet.

 

Ferdi5n

Familienidylle

In der Nähe der Firma beobachte ich manchmal drei Störche auf einer Wiese. Es sind „unsere“ Störche, ihr Nest befindet sich neben dem Gebäude, in dem ich arbeite. Das Junge ist von den Eltern nicht mehr zu unterscheiden, so groß ist es geworden. Die Familie bleibt noch zusammen und stakst auf immer demselben Flecken herum, weiße Vögel im nassen Gras. Und in der Nacht? Verbringen sie sie zu dritt im Nest? Passen die da alle noch rein?

Gestern hat eine Kollegin ihr erstes Baby bekommen. Eine weitere ist schwanger. Die dritte wurde vor einem Jahr Mutter und ist für die Firma nicht mehr verfügbar. Die Chefin sagt, die Störche werden jetzt erschossen.

😉

Hauptsach, s‘schmeckt

Meine Mutter schenkte mir vor ein paar Tagen Backpapier. Gleich mehrere Rollen fielen ihr beim Ausräumen in die Hände, sie will sie nicht behalten. Die Kuchen, die sie in ihrem Leben zu backen hatte, sind längst gegessen.

Als ich noch klein war, gab es gelegentlich welchen am Sonntag, ich weiß nicht mehr was für Kuchen es waren. Meine Mutter stand dann in der Küche am Spülstein und schöpfte langsam heißes Wasser in den irdenen Trichter, der auf einer Porzellankanne saß. An solchen Tagen kam meine Großmutter. Meine Mutter hatte dann keinen Blick für mich, sie eilte nervös hin und her, bis der Kaffeetisch bereit war. Dann saßen sie beieinander, die beiden Frauen. Sie unterhielten sich und es kam mir vor, als wüssten sie nicht recht, was anfangen miteinander. Ich verhielt mich meist mucksmäuschenstill. Ein bisschen fürchtete ich mich vor der Großmutter, weil sie stets schwarz gekleidet war.

Jahre später entwickelte sich die Backkunst meiner Mutter zu etwas Eindrücklichem. Wir waren daran gewöhnt, dass sie ihre Werke präsentierte mit den Worten: „Sieht ein bissel missraten (vrgrôda) aus, macht aber nix. Hauptsach, s‘schmeckt!“ Frei nach einem ausgefallenen Rezept oder nach einem eigenen oder auch gar keinem außer ihrer Fantasie kamen die Zutaten in dieser Zusammenfindung meist nur ein einziges Mal aufs Blech: Kirschen, Zwetschgen, Beeren, mit Gewürzen experimentierte sie auch. Was dabei heraus kam, war üppig und fruchtig, auf jeden Fall saftig und gelegentlich von unerwarteter Beschaffenheit. Manche ihrer unvergesslichen Kreationen sahen aus, als hätte sie Knallfrösche drauf geworfen, andere mussten wir mit dem Suppenlöffel essen. Niemals wäre etwas Vergleichbares beim Konditor zu haben gewesen, es ist nur die Familie, die solche Kuchen kennt.

„Da, nimm, ich brauchs nicht mehr“, sagte sie. In der Küche der neuen Wohnung will sie nicht einmal einen Backofen. Es gibt eine Cafeteria im selben Gebäude, da wird sie jeden Tag sitzen können, plaudern und Kuchen essen. Andere dürfen jetzt backen. Und sie kann beobachten, wir ihre Freude am Ausprobieren in den Kindern und Enkeln am Leben bleibt.

Es war so, bestimmt

Zum Thema seelische Verletzungen hat mir jemand etwas geschrieben, das ich gerne wiedergeben möchte:

„Beide werden lernen, dass niemand an dem Unfall ‚Schuld’ hat. Es musste so kommen – und alle haben etwas daraus zu lernen. Alle. Die Frau, die gestorben ist, wurde nicht getötet, sondern sie starb. Weil es Zeit für sie war. Auch wenn es hart klingt und auch wenn es für die Hinterbliebenen schwer ist – die Frau wäre genau in dem Moment so oder so gestorben. Das Universum wählte für sie den Unfall – es hätte auch etwas anderes sein können.“

Was hier Universum genannt wird, ist für mich Gott und für andere das Schicksal. Ich möchte es glauben: Es war so bestimmt. Denn der Unglücksfahrer stieg an diesem Tag nicht ins Auto und dachte bei sich: „Heute bringe ich jemanden um.“ Er war nur ein Teil dessen, was für diesen Tag vorgesehen war, genau wie seine beiden Mitfahrerinnen und unsere Buben.

In der Klinik waren wir heute von mittags bis abends, um da zu sein, wenn unser Kind aufstehen will. Er darf es nicht, versucht es aber immer und ist dann nur schwer zu beruhigen. Wenn er geschlafen hat und wach wird, ist er manchmal so durcheinander, dass er nichts versteht und nicht einsieht, warum er im Bett bleiben muss. Auf der Station ist am Wochenende aber wenig Personal und so passten wir auf ihn auf. Meine Tochter und ihr Freund kamen mit, und wir wechselten uns ab. Doch die meiste Zeit war er klar und fügte sich.

Möglicherweise kann er morgen doch operiert werden, weil vielleicht das Risiko zu groß ist, dass er bei einem seiner Aufstehversuche stürzt oder die Schrauben in seinem Bein sich lockern. Er könnte als Notfall gelten und die OP kann dann vorgenommen werden. Ansonsten muss der Fall vor Gericht und er könnte frühestens am Mittwoch operiert werden.Vor Gericht – ich kann es immer noch nicht fassen, dass fremde Menschen über einen körperlichen Eingriff entscheiden und nicht ich, die Mutter. Aber der Junge ist nicht bei klarem Verstand, kann also nicht selbst einwilligen, und da er volljährig ist, haben wir Eltern nichts mehr zu sagen.

Morgen wissen wir mehr.