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Frühsommertag

Als ich das Zimmer meiner Mutter betrete, schlägt mir dicker Mief entgegen. Sie friert jetzt häufig und die PflegerInnen wollen sicher verhindern, dass es ihr zu kühl wird. Ich weiß das. Ich weiß aber auch, dass sie bis zum letzten Tag, an dem sie selbst Entscheidungen traf, auf durchgelüftete Räume Wert legte. Ihr Leben lang riss sie mehrmals täglich Fenster und Türen auf und ließ es in der Wohnung durchziehen. Niemals hat es anders gerochen als nach frischer Luft.

Ich öffne das Fenster einen Spalt und trete an ihr Bett. Es ist früher Nachmittag und man hat ihr geholfen, sich zum Ausruhen ein wenig hinzulegen.
„Wie geht es dir heute?“ frage ich.
„Gut.“ Das Aussprechen des Worts gelingt nur mühsam, doch ihr Gesicht verzieht sich dabei zu einem Lächeln. Einen Moment lang ist es, als wäre die Zeit ein paar Jahre zurückgesprungen und ich wäre gerade mit ihren Einkäufen gekommen, hätte eine Begonie von Netto auf den Wohnzimmertisch gestellt, durch die offene Balkontür wäre duftende Frühsommerluft hereingeweht und ich hätte gefragt:
„Na, alles klar? Wie geht es dir?“
„Gut,“ hatte sie fast immer geantwortet und unter Anstrengung ein „alles klar“ hinterhergesetzt. Auf ihr Gesicht legte sich dann ein unbeschreibliches Strahlen, das mir vor ihrem Schlaganfall nie aufgefallen war und das sie auch im hohen Alter noch zu einer hinreißend schönen Frau werden ließ.

Ich blicke auf meine Mutter nieder, die überall Schmerzen hat, der die Fähigkeit zu sprechen fast ganz abhanden gekommen ist und die in einem stickigen Zimmer liegt. Aber wenn man sie fragt, wie es ihr geht, dann antwortet sie „Gut“ auf eine Art, die man als ernst gemeint interpretieren kann. Neben einer gelüfteten Wohnung hatte sie immer schon Klarheit darüber, wogegen es sich aufzulehnen lohnt und was einfach hinzunehmen ist. „Da muss man nicht jammern,“ höre ich sie stimmlos sagen, „das ändert auch nichts.“

So ist das Leben

Ich sitze bei meiner Mutter im Aufenthaltsraum, der Duft nach Kartoffelbrei und Bratensoße wabert in unsere Nasen, bald gibt es Essen. Sechs Bewohner und Bewohnerinnen haben an dem Tisch Platz genommen, an dem wir sitzen, Rollatoren parken an der Wand. An einem weiter entfernt stehenden Tisch beugt sich ein ausgemergelter kleiner Mann über einen Trinkbecher, in dem ein Strohhalm steckt. Der Mann ist allein am Tisch, niemand wurde zu ihm gesetzt und jeder weiß, warum.

Vor einigen Wochen, als ich meine Mutter ebenfalls in der Mittagszeit besucht hatte, war dieser Mann an ihren Tisch geschoben worden. Kaum hatte sich der Pfleger entfernt, begann der Mann geräuschvoll und ohne vorgehaltene Hand zu husten. Er hustete immer stärker, quer über den Tisch. Er hustete, als ob sein Leben davon abhinge, die höchstmögliche Lautstärke zu produzieren und es schien, als ob in seiner Brust nichts zu finden sei, das diesen Husten rechtfertigen könnte und er ihn deshalb gewaltsam herauspresste, sodass seine Augen hervortraten und das Gesicht rot anlief, wir hatten alle Angst, dass gleich ein Lungenflügel mit herausschießen und neben den Blumendekorationen oder gar auf einem der Teller landen würde.

Angesichts dieses Spektakels kam das Plaudern am Tisch zum Erliegen. Nur eine kurzatmige Frau murmelte vernehmlich zu ihrer Sitznachbarin: „Wer ist das? Der sitzt doch sonst nicht bei uns?“ Da hörte der Mann plötzlich auf zu husten und schnappte nach Luft, als hätte der Sinn des Ganzen einzig und allein darin bestanden, die Wahrnehmung der anderen auf sich zu lenken, auf welche Art auch immer. Alle richteten verstohlene Blicke auf ihn, doch dann entlud sich eine neue Welle dieses fürchterlichen Hustens. Die Frau sah ihn jetzt ärgerlich an und sagte: „Hören Sie doch auf, es wird einem ja schlecht.“

Seither gehört der Husten des neuen Bewohners zum Hintergrundgeräusch hier. Inzwischen wird das Essen verteilt, der Servierwagen bewegt sich zwischen den Tischen, ich verabschiede mich. Als ich an der Verbindungstür angekommen bin, wende ich mich noch einmal um zu meiner Mutter. Sie sitzt aufrecht da und schaut mir mit einem konzentrierten Blick hinterher, als wolle sie sagen: „So ist das Leben. Man kann sich nicht alles aussuchen.“

Ich muss lächeln und winke ihr noch einmal zum Abschied. Im Augenwinkel sehe ich den Mann, der wieder zu husten beginnt. Ein Mädchen hat sich inzwischen zu ihm gesetzt und hilft ihm beim Essen.