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Der Hardy-Baum

Auf unseren Friedhöfen werden Gräber meist nach zwanzig Jahren entfernt, wenn nicht gerade VIP-Stars darin liegen. In anderen Ländern ist das nicht so.

In London z.B. gibt es den Friedhof St. Pancras, von dem vor etwa zweihundert Jahren ein Teil für den Bau der Midland Railways Line benötigt wurde. Obwohl die Gräber im fraglichen Bereich schon hundert oder zweihundert Jahre alt und zum Teil wohl auch vergessen waren, wäre es respektlos gewesen, die Überreste einfach zu entsorgen. Also wurden sie  ausgegraben und an anderer Stelle unter einer Esche wieder bestattet. Die Grabsteine wurden um den Baum herum angeordnet, wo sie im Lauf der Jahre zum Teil überwachsen wurden.

Projektleiter dieser Umsiedlung war der Dichter Thomas Hardy (1840-1928), der in jungen Jahren als Architekt arbeitete, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Inspiriert von seiner gruseligen Aufgabe verfasste er das folgende Gedicht:

The Levelled Churchyard
O passenger, pray list and catch
Our sighs and piteous groans,
Half stifled in this jumbled patch
Of wrenched memorial stones!
We late-lamented, resting here,
Are mixed to human jam,
And each to each exclaims in fear,
‚I know not which I am!’

Der planierte Friedhof
Oh Wanderer, sieh nur und hör
unser Seufzen und klagendes Stöhnen
das halb erstickt aus Gewirren
entrissener Grabsteine dringt!
Gott hab uns selig, wir liegen zu
menschlicher Pampe vermengt,
und einer ruft ängstlich dem anderen zu
Ich weiß nicht mehr, wer ich bin!“

© Anhora

Die Übersetzung entspricht nicht genau dem englischen Text, klingt aber besser als eine wörtliche Übertragung. Mehr dazu auf www.kuriositas.com.

Es lebt

Auf dem Grab meiner Mutter ist eine Steinplatte vorgesehen. Ich habe auch schon organisiert, wer sie anfertigen wird, es ist alles besprochen. Mit einer solchen Platte ist das Grab immer aufgeräumt, man braucht nur im Herbst gelegentlich die Blätter abkehren, fertig.

Aber nun sind die Blumen noch da. Meine Mutter ging vor fünf Monaten, und die Pflanzschalen blühen immer noch, als gäbe es kein Morgen. Das Grab wächst und lebt. Ich lasse jetzt noch keine Steinplatte darauf legen.

Grab

Namensänderungen

In den Blumenschalen auf dem Grab meiner Mutter stecken immer noch die Trauerschleifen. Wie lange lässt man die eigentlich? Eine davon amüsiert mich jedes Mal, wenn ich sie anschaue. Von den Namen meiner Kinder gibt es nämlich zwei mit unterschiedlichen Schreibweisen, und beide sind falsch geschrieben. Dabei hatte ich sie in der Gärtnerei richtig bestellt, auf dem Beizettel in der Schale sind sie korrekt: Niko, Marco. Auf der Schleife aber: Nico, Marko. Der Zufall (?) will es, dass meine Mutter diese Namen auf Geburtstagskarten auch meist falsch schrieb, und zwar so, wie sie jetzt auf der Trauerschleife stehen.

Allerheiligen

Auf ihrem Grab wächst Immergrün. Ich zupfe Eichenblätter heraus und trage sie zum Kompost, reiße ein paar Unkräutlein aus der Erde. Währenddessen wollen keine Grüße mein Diesseits verlassen, keine Erinnerungen meine Großmutter erreichen, kein kurzes Erzählen, was neu ist bei uns. Nur ihr zerfurchtes Gesicht erwische ich, und den Blick darin. Das Leben presste sie zu Stein, wie der auf dem Grab. Wie misstrauisch sie war. Sie lächelte selten und als dürfe sie es nicht, schon zu Lebzeiten befand sie sich weit weg.  Da ist nichts, was sie mir sagen will, wenn ich an sie denke. In all den Jahren fiel mir das nicht auf, aber heute. Besser ich störe nicht. Ich stelle den Topf mit den Herbstblumen ab und verschwinde.