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Wer sind wir

Das Wesen eines Menschen besteht nicht nur aus Genen, Elternhaus, prägenden Begegnungen und Erfahrungen. Es besteht auch aus der Art, wie er sich verständlich machen kann. Wenn es bei Hirntraumas zum Beispiel an der falschen Stelle blutet, wird der Patient praktisch mundtot gemacht. Er kann dann nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr sprechen. Was macht das mit jemandem, der bis dahin laut und redegewandt seine Meinung vertrat und mit Nachdruck seinen Willen einforderte?

Man liest gelegentlich von vollständig gelähmten Menschen, die allein mit der Bewegung ihrer Augen kommunizieren und sogar Bücher schreiben. Nach Schlaganfällen funktioniert das aber nicht. Es kommen nämlich nicht mehr die Worte, die man meint, sondern andere. Auch beim Aufschreiben. Regelmäßig stand ich im Supermarkt mit der Einkaufsliste meiner Mutter und rätselte, was sie meinen könnte. Als ich neulich die Dateien auf ihrem Computer gesichert habe, fand ich ein Worddokument mit einem Geburtstagsgruß, den sie einem Bekannten schreiben wollte. Herzliche Herzwünsche zum Geburtsburg.

Seit Jahren fällt ihr das Sprechen schwer, Wörter kommen oft falsch oder gar nicht. Gleichzeitig schien meine Mutter weicher, gelassener, nachgiebiger geworden zu sein. So war sie vor dem Schlaganfall nicht, und vielleicht war sie es auch nachher nicht. Vielleicht war es ihr nur zu mühsam geworden, Einwände zu artikulieren. Nun müssen die andern selbst entdecken, was gerade gemeint, gewünscht, gefragt sein könnte. Vielleicht ist das, was man dabei interpretiert irgendwann das, was diesen Menschen ausmacht. Da fragt man sich, wer wir eigentlich sind.

Eigenarten des Seins

Kann der Mensch an verschiedenen Orten seines Wirkens ein anderer sein? Herr Bauer wird den Gedanken nicht los. Bei der Arbeit duckt er sich vor den Hieben des Chefs. Zu Hause empfängt ihn Liebe, sie macht ihn stark.  Da er sich die Umgebungen seines Lebens kaum aussuchen kann – wer ist er denn nun? Der geprügelte Stillschweiger? Oder der Sichere, der seinen Lieben am Abend in die Augen schaut und Freude darin findet? Vielleicht ist er gar noch ein anderer. Der Anheizer zum Beispiel, der mit Macht überzeugen kann von sich und seinen Ideen, der energiegeladen von einer Aufgabe zur nächsten eilt, wenn er nur die passende Kulisse findet, die das möglich macht. Herr Bauer überlegt: Wer bin ich eigentlich?

Ich?

So wie ich vorher war, vor dem Unfall meines Kindes, so bin ich nicht mehr. Eine ausgeprägte Niedergeschlagenheit lähmt mich seit ein paar Monaten, nachts finde ich keinen Schlaf, Herz und Gedanken rasen, ich habe Angst: Vor Krankheit, vor der Zukunft, vor jedem einzelnen Tag und was er bringen könnte. Da es nicht besser wurde, ging ich zum Arzt und erhielt ein Medikament. Es funktioniert. Morgens habe ich jetzt wieder Mut, aufzustehen. Das Kantige des Alltags landet in einer fluffigen Hülle aus Citalopram, nur ein Teil davon dringt zu mir durch. Ich habe etwas Ruhe gefunden und bin fast versucht, die Tabletten wieder wegzulassen. Jetzt bin ich ja wieder „Ich“. So, wie ich mich kenne. Oder war der Scherbenhaufen der letzten Monate „Ich“?

Kann es sein, dass man Pharmaka braucht, um zu sein, wie man ist? Oder macht das Leben uns mitunter zu jemand anderem, mit einem neuen „Ich“, das es anzunehmen gilt? Habe ich den richtigen Weg gewählt, zur vertrauten Stärke zurückzukehren mit Hilfe von Chemie, oder wollte mir meine Erschöpfung etwas sagen? Habe ich es verpasst, eine Entscheidung zu treffen, die anstand? Zum Beispiel: das eine oder andere loszuwerden?

Dazu war ich gar nicht in der Lage. Verängstigt unterließ ich alles, was für den Augenblick noch mehr Aufruhr bedeutet hätte. Nun hat das reparierte starke „Ich“ über das niedergeworfene zu befinden wie ein Firmeninhaber über den Nachfolger, der nicht an ihn heranreicht. So stark wirkt das Medikament eben nicht, dass ich den Mut hätte, abzustellen, was nicht gut tut. Sogleich kriecht da die Angst wieder hoch vor den Folgen und vor der Unsicherheit. Ich komme zu keinem Schluss.