Das Wesen eines Menschen besteht nicht nur aus Genen, Elternhaus, prägenden Begegnungen und Erfahrungen. Es besteht auch aus der Art, wie er sich verständlich machen kann. Wenn es bei Hirntraumas zum Beispiel an der falschen Stelle blutet, wird der Patient praktisch mundtot gemacht. Er kann dann nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr sprechen. Was macht das mit jemandem, der bis dahin laut und redegewandt seine Meinung vertrat und mit Nachdruck seinen Willen einforderte?
Man liest gelegentlich von vollständig gelähmten Menschen, die allein mit der Bewegung ihrer Augen kommunizieren und sogar Bücher schreiben. Nach Schlaganfällen funktioniert das aber nicht. Es kommen nämlich nicht mehr die Worte, die man meint, sondern andere. Auch beim Aufschreiben. Regelmäßig stand ich im Supermarkt mit der Einkaufsliste meiner Mutter und rätselte, was sie meinen könnte. Als ich neulich die Dateien auf ihrem Computer gesichert habe, fand ich ein Worddokument mit einem Geburtstagsgruß, den sie einem Bekannten schreiben wollte. Herzliche Herzwünsche zum Geburtsburg.
Seit Jahren fällt ihr das Sprechen schwer, Wörter kommen oft falsch oder gar nicht. Gleichzeitig schien meine Mutter weicher, gelassener, nachgiebiger geworden zu sein. So war sie vor dem Schlaganfall nicht, und vielleicht war sie es auch nachher nicht. Vielleicht war es ihr nur zu mühsam geworden, Einwände zu artikulieren. Nun müssen die andern selbst entdecken, was gerade gemeint, gewünscht, gefragt sein könnte. Vielleicht ist das, was man dabei interpretiert irgendwann das, was diesen Menschen ausmacht. Da fragt man sich, wer wir eigentlich sind.