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Ansichtssache

Ein FAZ-Artikel berichtet vom fünf Jahre alte Jax, der einen neuen Haarschnitt braucht. Er wünscht sich dieselbe Frisur wie sein Freund Reddy: raspelkurz. Der Wunsch wird ihm erfüllt, und dann kann er es kaum erwarten, in die Schule zu gehen. Er freute sich nämlich so auf das Gesicht des Lehrers, denn er ist sich ganz sicher: Er wird die beiden Jungs nun nicht mehr auseinanderhalten können!
Für Jax war der einzige Unterschied zwischen ihm und seinem Freund die Frisur, und die Mutter hat diese Geschichte mit der Welt geteilt als Beweis, dass Hass und Vorurteile anerzogen sind.

Das erinnert mich an eine weitere kleine Geschichte, die ich mal irgendwo las:

Ein kleines Kind ist allein zu Hause, als ein Mann an der Tür klingelt. Er will mit den Eltern sprechen, aber weil niemand da ist, geht er wieder.
Als die Mutter zurückkommt, berichtet das Kind: „Ein Mann hat an der Tür geklingelt.“
„Wer kann das gewesen sein?“ fragt die Mutter. „War es ein schwarzer oder ein weißer Mann?“
„Das weiß ich nicht,“ sagt das Kind, „ich habe nicht gefragt.“

Glückspilz

Auf dem Sofa in unserem Empfangsbereich sitzen zwei Kursteilnehmer: ein  großer, kräftig gebauter Mann aus Afrika, und eine magere Frau um die Vierzig mit asiatischen Gesichtszügen. Sie unterhalten sich leise. Da es ansonsten still ist, höre ich vom Schreibtisch aus unfreiwillig zu. Der Mann sagt:

„Wie geht es hoidde?“
„Guut,“, zirpt sie mit hoher, gepresster Stimme und verbeugt sich leicht. Dann – mit dem Blick geradeaus, ohne sich umzuwenden:
„Wie | geht | es | Ihnen?“ Sie reiht die Worte aneinander wie Bausteine.
„Ooooh, gudd,“ sagt der Mann mit strahlender Stimme. „Viel Lerne.“
Klein und schmal sitzt die Frau da, sie erwidert nichts.
„Deine family in Doischland?“ fragt der Mann weiter.
„Ja,“ sagt sie nach kurzem Zögern, „mein | Mann.“
„Kinder? Hassdu Kinder?“ Ihre Schultern ziehen sich zusammen.
„Swei“, wispert sie.
„Ooooh,“ sagt er, „welke … aahmmm, year?“ Sie schaut ihn an und sagt nichts. Er streckt die Finger hoch, zählt ab. Da versteht sie.
„Swölf, und noin“, haucht sie.
„Kinder in Doischland?“ fragt der Mann. Sie nimmt sich Zeit, sucht nach Bausteinen. Dann:
„Meine | Kinder | sind | tot.“
„ooooh …“

Ich weiß nicht, woran die Kinder dieser Frau gestorben sind und warum sie ihre Heimat verlassen hat. Ich weiß nur, dass meine Kinder leben, und zwar in einem sicheren Land. Ich Glückspilz.

wolfegg-adventsmarkt

Vom richtigen Zeitpunkt

Das kriegt erst einmal hin! Einen Sohn, der zur Tür hereinwieselt und – weil er in Eile ist – fragt, ob du einen Parkplatz finden möchtest für seinen Wagen. Ich lebe in der Innenstadt, das ist mein Glück. So komme ich zu dem Autoschlüssel, der einen Audi TT öffnet.

Tiefergelegt röhre ich durch die Straßen, dass die Häuserwände erschrocken aufheulen. Aus den Lautsprechern wummert Techno. An dieser Stelle darf angemerkt werden, dass ich mit zwanzigrum, also im selben Alter wie mein Kind, einen Porsche fuhr. Ja, einen eigenen. Bei meinem damaligen Freund und späteren Vater des heutigen TT-Fahrers war das 624-Mark-Sparen fällig geworden. Das kennen nur Ältere noch. Die Prämie reichte  jedenfalls für einen weißen, zehn Jahre alten Porsche 911 Targa.

Damals dachte ich: In meinem Alter passe ich nicht recht in ein solches Auto. Heute denke ich: Dasselbe. Im sogenannten richtigen Alter fuhr ich dagegen einen VW-Bus, wegen der Kinder, Freunde, Schwiegermutter und Fahrräder. Als andere ihr Geld einsackten und selbst verjubelten, bereicherten wir die Welt um vier neue Menschen. Einer davon besitzt jetzt einen Audi TT, für den ich einen Parkplatz gefunden habe, vor der Schule um die Ecke. Nicht am Randstein. Da ist was mit den Felgen, man muss aufpassen an Straßenrändern.

Ich zwänge mich aus dem Fahrzeug, hieve mich aus dem Autoschlund wieder zur Lebensgröße, verschließe die Tür und blicke lässig herum, ob jemand mich sieht. Dann trotte ich heim und komme zum Schluss: der Zeitpunkt für Kinder und solche Autos ist immer der Richtige.

Release Management

Es gibt viel zu tun, wenn man Kinder hat. Man gibt ihnen das Fläschchen und später Alete, man wischt den kleinen Hintern ab. Hält das schluchzende Bündel im Arm, als es in den Kindergarten geht, pinnt Zeichnungen an die Wand, löst Rechenaufgaben mit ihnen. Man hört zu, wenn sie reden und erst Recht, wenn sie schweigen.

Die Tage und Nächte mit Kindern gehen zu Ende, wenn sie groß geworden sind, und dann kommen die Wochenenden. Fortgeschrittenen Müttern kann es dann passieren, dass sie statt einer Runde auf dem Sofa oder Surfen im Internet eine Thesis lektorieren. Ich zum Beispiel weiß jetzt alles über Release Management. Auf 116 Seiten reihte sich Kapitel an Kapitel, bis in die Nacht hinein korrigierte ich gestern Rechtschreibung und Stil, gliederte Unverständliches in klare Sätze und entwickelte Verständnis für nervöse IT-Abteilungen.

Wie war das eigentlich, bevor ich Mutter wurde? Es gab da auch schon ein Leben, aber dann begann ein anderes. Immer wieder wird mir bewusst, dass Kinder kein Job sind. Sie bleiben einfach, lebenslänglich. In immer neuen Versionen.

Ja, man könnte am Wochenende etwas anderes tun. Aber man denkt nicht weiter darüber nach.

Mutterglück

Holt die Zimbeln und Schellen, streut Blumen und tanzt im Kreis, die Tochter hat einen Praktikumsplatz! In einer der größten Agenturen für Werbung und Marketing mit über tausend Angestellten darf mein Kind ein paar Wochen lang arbeiten. Naja unser Kind, der Vater gehört freilich dazu. Jedenfalls selbstgemacht, und da geht sie hin, die junge Frau, und spielt ein Bewerbungsgespräch durch, dass schon am nächsten Tag der Anruf kommt mit der Zusage. Obwohl die Agentur an einer so kurzen Praktikumszeit (sie studiert ja noch) gar kein Interesse hat, normalerweise. Doch das kommt erst beim Termin auf den Tisch, an dem sitzt das Mädchen. Sie spricht, sie fragt, sie verstellt sich nicht, sie – gewinnt. Man macht eine Ausnahme. WAS BIN ICH STOLZ! 🙂

Die Konstanten des Lebens

„Jetzt müssten hier eigentlich Blumen rauskommen“, sagt der Hobby-Zauberer und schaut ratlos in den Zylinder, der leer geblieben ist. Besser hätte man Unterhaltung für ein Publikum nicht planen können, alle lachen. Wir feiern den fünfzigsten Geburtstag einer langjährigen Freundin, und manche Leute sind hier, die man nur noch bei solchen Anlässen trifft. Wir plaudern, wie es gegangen ist in all der Zeit, was die Kinder machen, welche Arbeit man hat und so weiter. Dabei stelle ich fest: diejenigen, die ich vor vielen Jahren gern hatte und lange nicht sah, habe ich immer noch gern, und immer noch aus denselben Gründen.

Unbekannte Gäste sind auch gekommen, junge. Man glaubt manchmal, ihre Eltern zu sehen, mit denen wir vor vielen Jahren am Tisch saßen und vielleicht deren Geburtstag feierte. Wenn wir Älteren einst gegangen sind, werden sie noch da sein und sich bei solchen Anlässen treffen.

Der Versuch des Zauberers scheitert auch beim zweiten Mal, danach klappt es. Allerlei kleine Geschenke holt er aus dem Hut, der zuvor nachweislich leer war. Als Letztes kommt eine bunte Girlande zum Vorschein mit den Buchstaben HERZLICH WILLKOMMEN. „Sie lag bei den Geburtstagssachen,“ beteuert er, „ich hätte richtig hinschauen sollen!“ Tomaten auf den Augen von Männern scheint wiederum ein Thema zu sein, das die Generationen überdauert!

In den Ring steigen …

… drei junge Männer.

Einer davon ist mein jüngster Sohn, er hat seine Schulzeit abgeschlossen. Heute beginnt er als Fahrer in einem Zentrum für körperbehinderte Menschen den Zivildienst. Ich bin so gespannt, wen und was er kennen lernen wird, welche Impulse ihn bereichern werden und ich freue mich schon jetzt auf die Gespräche mit ihm.

Zurück in die Normalität kehrt mein mittlerer Sohn. 15 Monate nach dem schweren Verkehrsunfall ist er wieder gesund genug fürs Arbeitsleben. Da er seinen früheren Beruf nicht mehr ausüben kann – er setzt körperliche Belastbarkeit voraus – startet heute eine zweite Ausbildung im kaufmännischen Bereich. Jeden Tag danke ich Gott, dass es so sein darf.

Schließlich steht auch der Sohn meines Lebenspartners vor einem neuen Anfang. Nach Universität und halbjährigem Armee-Einsatz in Afghanistan steht er vor dem ersten Arbeitstag in seinem Leben, zumindest im zivilen. In einem großen Warenhaus in Newcastle beginnt seine Tätigkeit als Management Trainee.

Soviele Ziele, soviele Hoffnungen, soviele Erwartungen wohl auch. Spannung steckt in allen dreien, eine Menge Energie und ganz viel Jungsein. Was sie sich vorgenommen haben, möge ihnen gelingen.

Immer mit der Unruhe

Unkonzentriert saß ich gestern bei der Arbeit und brachte alles durcheinander. Um meine zitternden Nerven zu beruhigen, nahm ich etwas ein, rein pflanzlich, es half ein bisschen. Ich sah auf die Uhr, gegen Mittag wollten sie ankommen, er würde mich anrufen, versprach er am Abend zuvor. Gehört hatte ich nichts. Auf dem Mobiltelefon antwortete er nicht, auf dem Festnetz zu Hause auch nicht. Halb zwei.

Vor eineinhalb Jahren hätte ich nicht wissen müssen, um welche Uhrzeit er eintreffen würde. Heute kenne ich den Flugplan sowie die geplante Zeit für die Heimfahrt, und den ganzen Vormittag hatte ich mich gewehrt gegen das, was in meinem Kopf herumturnte. Bilder mit ihm auf dem Beifahrersitz, sein Freund am Steuer, wie damals. Diesmal ein neues Auto, sicherer als der Alfa, den es nicht mehr gibt. Bilder eines anderen Fahrers, der einen Fehler macht, wie damals. Aus allen Richtungen schossen Fahrzeuge in den Schirokko mit zwei Jungs auf dem Weg nach Hause. Heute könnte der Freund nicht einmal das Lenkrad herumreißen, sein rechter Arm blieb gelähmt seit dem Unfall. Wie man in diesem Zustand sicher fahren kann ohne Automatik oder Sonstiges – es ist mir ein Rätsel.

Halb drei. Ich versuchte es wieder auf sämtlichen Telefonen. Sein Mobiltelefon war jetzt ausgeschaltet. Meine Finger trommelten auf dem Schreibtisch herum, dann rief ich meine Tochter an. Auch sie hatte kein Lebenszeichen erhalten. Die Mutter des Freundes anrufen? Wahrscheinlich war sie bei der Arbeit. Ich versuchte es trotzdem, wählte die Nummer, es klingelte lange. Dann nahm sie ab. „Die Jungs? Ja, natürlich, die sitzen bei uns, sind gut angekommen.“

Dieser Affe.

Jedenfalls ist er da, nach drei Monaten in England. Der Sprachkurs half, er kann sich wieder besser konzentrieren. Nur die Stelle im Hirn, die einst für ein paar Gedanken an die Mutter zuständig war – die scheint noch nicht wieder im Einsatz zu sein.

Wie schön, dass du geboren bist…

Mein Kind hat heute Geburtstag. Es ist der zweite in seinem neu geschenkten Leben. Nimmt man das erste hinzu, so wurde mein Sohn heute Morgen um 4:35h zweiundzwanzig Jahre alt.  Mir ist klar geworden, warum man Geburtstage eigentlich feiert. Als die Menschen noch unter Hunger, Krankheiten und rauen Sitten zu leiden hatten, muss es Grund zur Freude gewesen sein, wieder ein Jahr älter und noch am Leben zu sein. Man wünschte dem Glückspilz alles Gute, damit auch der nächste Jahrestag erreicht werden möge. Kerzen wurden angezündet, um böse Geister zu vertreiben und kleine Geschenke belohnten für die Mühsal des vergangenen Jahres. So entstand die Geburtstagsfeier.

Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Es könnte aber so gewesen sein, mußmaße ich als Mutter, die nicht durch Hunger und Not, sondern zeitgemäß durch einen Verkehrsunfall beinahe ihr Kind verloren hätte. Wir haben Grund zu feiern. Von Herzen alles Gute für alle, die heute Geburtstag haben. Und für die andern auch.

Das zweite Leben

Durch alle Himmel, Universen und Atmosphären und schließlich durch eine Windschutzscheibe stürzte heute vor einem Jahr ein mächtiger Engel. Mit Panzerflügeln stieß er die Gewalt des Aufpralls zurück, während ein schwarzer Audi in das Fahrzeug schoss, in dem mein Kind saß. Im selben Bruchteil dieser Sekunde preschte ein zweiter Kämpfer des Himmels vor. Er stemmte sich auf dem Fahrersitz über den Jungen, der dort wie eingefroren das Lenkrad festkrallte. Durch die kolossale Stärke dieser Beschützer blieben mein Sohn und sein Freund am Leben.

In einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Geräten und Monitoren fanden wir ihn. Tief in sich hinab gesunken lag er da und nichts zeigte Leben, nur seine Brust hob und senkte sich im Takt der Beatmungsmaschine. Ich strich über sein Gesicht und die Krämpfe in meinem Herzen wurden noch schmerzhafter. Seine Haut war so kühl.

Nie werde ich mir verzeihen, am Nachmittag dieses Pfingstsonntags den Anruf meines jüngsten Sohnes nicht angenommen zu haben. Ich erkannte seinen Namen im Display, doch wir waren bei Freunden und ich wollte mich nicht absondern mit dem Telefon am Ohr. „Es wird nichts Wichtiges sein“, dachte ich. Kurz darauf rief meine Tochter an. Genervt antwortete ich nun und erfuhr, dass die Polizei da sei, mit einem der andern Söhne ist etwas passiert, Genaueres sagen sie nicht, nur den Eltern. Die nicht da waren. Zehn Minuten lang ließ ich mein jüngstes Kind in höchster Not allein, so wie ich meinen anderen Sohn allein gelassen hatte, der verunglückte, und wenn es auch nichts geändert hätte: ich war nun einmal nicht da, als meine Kinder mich am meisten brauchten. Nie wieder werde ich sie vertrauensvoll verabschieden können, wenn sie auf Reisen gehen, und nie wieder habe ich seither ein Telefon klingeln lassen, wenn sich von der Familie jemand meldet. Noch heute erschrecke ich manchmal, wenn eins der Kinder anruft und dann nehme ich hektisch ab, um zu wissen, ob alles in Ordnung ist.

Mein Leben ist wackelig geworden seither. Mir ist, als befinde ich mich auf einem dieser Riesenteller, wie sie auf manchen Spielplätzen stehn. Wenn man sich draufsetzt, gibt die Scheibe nach und es ist eine Kunst, sie zu erklettern und die Balance zu halten.

Wer online ist, ist nicht in Gefahr!

Facebook ist gut für Mütter. Jedenfalls wenn ihre Kinder alt genug sind, sich im Internet zu bewegen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass Tochter oder Sohn ein Facebook-Profil angelegt hat, ist hoch. Der Vorteil für die Mutter: Auch sie kann dort ein Profil anlegen oder sie kennt einen, der ein Profil besitzt, und dann – sieht sie, wenn ihr Kind online ist. Nicht dass es um’s Chatten geht. Man erfährt doch nie, was man wissen will, schon gar nicht vom eigenen Kind. Aber dessen Namen taucht rechts unten in der Bildschirmecke auf wie die richtige Antwort auf eine Frage, und dahinter steht in Klammern: „Bin am Leben“. „Bin nicht im Krankenhaus“. „Bin nicht verloren gegangen.“ „Bin bereit zum Chatten.“ „Mir geht’s gut.“ Diese Zusätze sind geheime Botschaften, nur für Mütter lesbar. Sie sind aber wichtig, wenn ein Kind sich aufgemacht hat, die Welt zu erkunden und darüber wenig Einblick gewährt. Da! Jetzt ist sie, jetzt ist er online. Mehr braucht es manchmal nicht.

Schutzhülle entfernen

Ich versuchs mal. Die Tage sind heller geworden und länger, die Sonne wird mir helfen, nicht wieder ins Dunkle zu versinken. Seit November nehme ich ein Anti-Depressivum, und nun will ich sehen, ob es ohne diese Schicht um mich herum wieder geht. Hochdosierte Johanniskraut-Dragees gibts stattdessen.

Meinem Kind geht es ja wieder gut, auch wenn er in seine bisherige Arbeit nicht zurückkehren kann. Die Knochen sind zwar  zusammengewachsen, stabil sind sie aber noch nicht und körperliche Arbeit wäre ein Risiko. Doch er fand die Lösung: Im Herbst beginnt eine neue Ausbildung in einem Büroberuf. Ich freu mich so. Endlich wissen wir, wie es weitergeht.

An meine eigene neue Arbeitsstelle hab ich mich einigermaßen gewöhnt. Schwierig ist es schon, aber im Moment glaube ich, auch ohne Citalopram weitermachen zu können.

Bahn-Station Liverpool Street

Die Geschichte meines Landes verlässt mich nie. Wir stehen vor den Bronzeskulpturen einiger Kinder, hier kamen sie an. Deutsche Kinder in London, in der Bahnstation Liverpool Street. Mit ihren Köfferchen in der Hand und einem neuen Leben vor sich, ohne Eltern und heimatlos begannen Tausende jüdischer Kinder hier ein neues Leben.

„Obwohl diese Fahrt in den Tagen des Jahres 1939 Rettung bedeutet, sind die rund hundert Kinder zutiefst verstört. Die jüngsten dieser Flüchtlinge sind gerade ein paar Monate alt, die ältesten 16 Jahre. Eines haben alle gemeinsam: Sie sind in Deutschland nicht erwünscht. Sie fliehen nach der Pogromnacht in das einzige Land, das sie aufnimmt, während andere Staaten der Welt die Grenzen für Kinder ohne Eltern schließen. Insgesamt waren es rund 10 000 Jungen und Mädchen, die auf diesem Weg den Vernichtungslagern in Auschwitz, Sachsenhausen oder anderswo entkommen konnten.“

Quelle – „Die Welt“

Ich sage jetzt nichts. Mein Akzent würde mich verraten bei Passanten und Betrachtern. Ich will nicht zu einem Volk gehören, das so etwas tat, ich schäme mich für mein Land.

Zum Abschluss

Rückschau: Was prägte dieses Jahr? Eine Bankenkrise, der erste schwarze US-Präsident, die Abwrackprämie, Michael Jackson ist tot.

Was prägte mich? Im Februar eine schmerzhafte OP an den Füßen (Hallux) und dass ich im Anschluss meine Arbeit verlor. Nicht wegen dem Hallux, sondern weil ich nicht gekuscht habe oder was weiß ich. Verstehen kann ichs bis heute nicht.

Eine neue Stelle hatte ich ein paar Wochen später gerade angetreten, da wurde einer meiner Söhne in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt. Ich war von da an wie ein Zug, der führerlos aber doch auf den richtigen Gleisen weiter raste. Mein Leben bestand aus dem Jungen in der Klinik, aus Einarbeitung und aus der Familie.

Die neue Arbeitsstelle war auch nicht einfach. Etwas lag in der Luft, und es lähmte mich. Der Umgangston war nicht immer freundlich. Aber ich hielt durch. Ohne Urlaub und ohne bis heute einen einzigen Tag gefehlt zu haben. Seit Herbst nehme ich ein gutes Medikament und lasse mir psychologisch helfen. Jetzt geht es allmählich aufwärts. Eine lange Aussprache in der Firma hat außerdem viel Druck weggenommen, und Ende November kam mein Sohn aus der Reha zurück. Seine Zukunft liegt vor ihm mit vielen Fragenzeichen, aber er ist stark. Er wird es schaffen.

Was nehme ich mit ins neue Jahr? Am liebsten nichts. Ich möchte alles zurücklassen und neu beginnen. Meine Kinder haben jedoch einiges im Gepäck aus 2009. Einen USA-Aufenthalt und beste Aussichten im Berufsleben, einen erfolgreichen Bachelor-Abschluss und danach einen Platz an der Uni, eine gut bestandene schriftliche Ausbildungs-Prüfung und sein Leben an sich, Talent und Leidenschaft fürs Klavierspielen, einen wachen Geist. Das behalten wir bei uns, und da fällt mir ein – etwas will ich doch mitnehmen ins Jahr 2010: die Liebe einiger Menschen, ohne die ich das alles nicht ausgehalten hätte.

Euch allen wünsch ich einen guten Rutsch, danke fürs Mitlesen hier und viel Glück im neuen Jahr. Möge es keine Überraschungen bringen, sondern nur das, was ihr plant und euch wünscht.

Geschenkt!

Wie war das noch, als meine Tochter mir mit etwa drei Jahren einen selbstgebastelten Stern zu Weihnachten schenkte? Tagelang freute sie sich darauf, wie glücklich ich sein würde über dieses Geschenk. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass es schönere Sterne gab und dass ich schon zwölf Sterne von ihr besaß. Über solche Dinge dachte sie erst nach, als sie älter wurde. Diesen einen Stern besaß ich damals jedenfalls noch nicht, und sie hatte ihn für mich angefertigt. Ohne Zweifel würde meine Freude groß sein, und so war es auch. „Erst wenn ihr werdet wie die Kinder, gehört euch das Himmelreich“, sagt Jesus.

Heute frage ich mich wie jedes Jahr: Ist Weihnachten als Anlass zum Warenaustausch verkommen? Für die materiellen Bedürfnisse der Menschen hat das Fest ausgedient, denn was wir brauchen, haben wir. Es ist nur noch die Lust am Neuen, die bei all der Freude darauf übrigbleibt. Und doch ist ein Geschenk nicht nur das, was man anfassen kann. Es besteht auch aus der Zeit und vor allem aus den Gedanken desjenigen, von dem es kommt, um gerade dieses Geschenk auszuwählen, es zu besorgen, zu verpacken und zu überreichen.

Jesus hat uns gezeigt, wie es geht, und das ist es, was es auch oder gerade in der modernen Zeit zu feiern gibt: die Freude am Geben, an uns selbst, an der Liebe.

Weihnachten fast wie immer

Gestern Nachmittag: „Thank you Lord“ tönt es aus dem Radio, im Weihnachtsprogramm werden Gospels gespielt. Ich suche eine Klassik-CD für die Bescherung, Päckchen schimmern unter dem Christbaum. Das größte Geschenk in diesem Jahr und eines der größten in meinem Leben lässt sich freilich nicht darunter legen.

Ich will nicht weinen, nicht traurig sein, merke aber, wie Tränen hochsteigen. „Thank you Lord, hallelujah,“ wird von einer schwarzen Sängerin vorgetragen, „you’ve been so good to me“. Ja. Gott ist gut zu mir. Auch dieses Jahr lässt er mich mit allen meinen Kindern den Heiligen Abend feiern. Beschützt von tausend Engeln wurde eins davon schwer verletzt aus einem Fahrzeug geschnitten und gerettet. Ein halbes Jahr später kehrt er aus der Klinik zurück, es liegt noch ein Stück Weg vor ihm und vor der ganzen Familie. Aber er lebt. Er kann wieder gehen, sein Gehirn erholt sich, wir haben ihn noch.

Dann tauchen Bilder auf und fressen sich fest. Mein Junge, verwundet, mit Kabeln und Schläuchen an piepsende Geräte angeschlossen, routinierte Pfleger und Ärzte, der Geruch nach Desinfektionsmitteln. Die Besuche in der Intensivstation einer 100 km entfernten Klinik, täglich, wochenlang. Wie ich funktionierte trotz allem, erst Monate später ließ die Kraft nach. Ich denke an die anderen Kinder und wie verstört sie waren, wie meine Tochter litt. Nichts konnte man tun, das war das Schwerste. Planen, steuern, Lösungen finden – alles blieb den Ärzten überlassen. Wir beteten und warteten: dass er zu sich kommt, dass er wieder alleine atmet, dass er uns erkennt, dass er aus seiner Welt der grauen Haie und armen Kanalratten zurückfindet zu uns. Dass er im Rollstuhl sitzen darf, dass er gehen lernt, dass er gesund wird. Wie gesund? Im Moment hoffen wir, dass sein Gedächtnis wieder besser funktioniert und dass der einst quirlige und mitteilsame junge Mann sich weniger in sich selbst zurückzieht. Später vielleicht, dass seine Knochen und Gelenke belastbarer werden. Dass er wieder arbeiten kann. Welche Arbeit? Kein Mensch weiß es.

Geräusche dringen vom Flur ins Wohnzimmer, junge Stimmen und das Rascheln von Taschen und Paketen. Die Kinder sind da. Wie immer atme ich auf, da sie heil angekommen sind. Die Panik abzustellen, wenn sie mit dem Auto unterwegs sind, fällt mir immer noch schwer. Schicksalsschläge treffen eben nicht nur die andern – es kann wieder geschehen, jeden Tag: einem anderen Kind, oder demselben noch einmal. Aber sie sind da, alle.

Nacheinander umarme ich sie und danke Gott, dass auch das verletzte Kind einen Platz im Leben behalten hat. Vielleicht einen anderen, als wir ursprünglich dachten, und wir kennen diesen Platz noch nicht. Erwartungen und Wünsche werde ich jedenfalls ablegen wie ein aus der Mode gekommenes Kleid. Ob mein aus dem vertrauten Leben geworfener Sohn auf denselben Gedanken kommt, kann ich nicht sagen.

Als Jacken und Kälte abgeschüttelt sind, zieht unsere kleine Prozession ins Weihnachtszimmer. Wir betrachten den Baum und die Meinungen darüber gehen auseinander wie immer. Alles nimmt seinen gewohnten Lauf: Kirche, Essen, Bescherung, Spielen, Beisammensein wie jedes Jahr. Gott sei Dank.

1,9!

Das ist die Abschlussnote meiner Tochter, einer frischgebackenen Bachelorin. Gestern war die Zeremonie der Urkunden-Übergabe, und anschließend gab es eine prächtige Feier mit hunderten jungen Menschen und ihren Eltern, die zum Teil aus ganz Deutschland angereist waren. Wie hübsch sie aussahen. Die Mädchen nicht mehr so aufgeregt schnatternd wie bei der Abiturs-Feier, die Jungs nicht mehr so schüchtern wie damals. Erwachsene sind sie geworden, in ihren feinen Kleidern steckten sie nicht mehr wie Fremde. Vielmehr schienen sie diesen Teil von sich bereits zu kennen oder sich zumindest nicht mehr zu wundern, dass auch die extravagante Person im Spiegel zu Hause sie selbst waren. Mit Stil und Eleganz schlenderten sie also am Buffet entlang, mit gestärktem Hemd und aufgemachtem Haar sammelten sie auf ihren Tellern Häppchen. Allen strahlte die Freude an diesem schönen Anlass aus den Gesichtern.

Die noch studierenden Jahrgänge führten ein Musical auf und wir zogen den Hut, so professionell waren die Darbietungen. Eine Menge Studenten machten mit bei dem Spaß, der viele extra Stunden Probenarbeit bedeutet hatte und jeder, der an einer Dualen Hochschule studiert oder studiert hat, weiß, was das für eine zusätzliche Anstrengung ist. Aber sie waren da, und die Absolventen hatten einen Abend, der des Anlasses würdig war. Perfekt lief übrigens auch die Organisation über die Bühne, es gab nichts, was nicht geklappt hätte. Helle Köpfen müssen am Werk gewesen sein, und für eine Hochschule gehört sich das natürlich!

Meine Tochter, die mit dem Durchschnitt 1,9 (erwähnte ich das schon?) war glücklich, und mit ihr wir alle. Eine enorme Leistung, wenn man bedenkt, dass ihr Bruder unmittelbar vor den Prüfungen einen schweren Autounfall hatte! Ich beobachtete, wie sie an ihrem festlichen schwarzen Kleid herum nestelte – zur Routine gehört solche Garderobe natürlich nicht – und wie sie sich mit ihren Freundinnen gab, die drei Jahre lang wichtig gewesen waren und sicher bleiben werden. Welche Lebenskraft strömt doch aus jungen Leuten beim Reden, beim Lachen und Tanzen! An einem Abend wie diesem spürt man es intensiv, und für die Älteren ist es eins der schönsten Erlebnisse, sich davon einhüllen zu lassen. Ach, wenn es das alles nicht gäbe für mich – ich würde es vermissen!

Sein Leben selbst leben

Etwas Merkwürdiges ist geschehen, seit ich die Beiträge über den Auto-Unfall hier gelöscht habe: Ich denke nicht mehr so viel darüber nach! Als ob das furchtbare Ereignis etwas weggerückt wäre. Ich weiß gar nicht, ob ich das möchte, eins meiner Kinder wär schließlich beinah ums Leben gekommen. Das Entsetzen darüber will ich nicht einfach fortwischen, nur weil ein paar Monate vergangen sind.

Trotzdem beschäftigt es mich nicht mehr so, was gerade mit ihm ist und was ich davon als nächstes hier erzählen werde. Ich sträube mich gegen dieses Loslassen, aber es geht von allein. Und wenn man darüber nachdenkt: Ich muss nicht immer leiden, wenn meine Kinder leiden, ich muss mich auch nicht immer freuen, wenn sie es tun. Als Mutter gerät man leicht in diesen Sog, manchmal aus Angst vor der Leere im eigenen Leben, doch zu denen gehöre ich nicht.

Ich liebe meine Kinder und ich bin da, wenn sie mich brauchen. Aber sie leben ihr Leben selbst und sie können es auch. Deshalb möchte ich versuchen, den Unfall meines Sohnes den Unfall meines Sohnes sein zu lassen. Er ist stark geworden und er weiß, dass er kämpfen und gewinnen kann. Ich geb ihm einen Engel mit und versuche, in mein eigenes Leben zurückzukehren, das auch um andere Menschen und Dinge kreist und in dem es Leichtigkeit wieder geben darf.