In diesem Sinn wünsche ich allen Leserinnen und Lesern einen ruhigen Sonntag und die Möglichkeit, Kraft zu tanken.
Wenn jemand etwas Ruhe übrig hat: Bitte mir schicken. Mir fehlt sie gerade ein bisschen.
Einem Menschen über lange Zeit beim Loslassen des Lebens zusehen zu müssen, ist keine einfache Sache. Erst recht nicht, wenn es die Mutter ist mit all den Geschichten, die verbinden oder auch nicht. Wie viel Energie dabei auf der Strecke blieb, merke ich erst jetzt, wo ich sie wieder für mich selbst behalten darf.
Sichtbares Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass ich trotz Jobverlust, Wohnungswechsel und Zukunftsangst rauchfrei geblieben bin. Drei Monate sind es heute. Davor hatte es schon genügt, dass meine Mutter wieder einmal ins Krankenhaus musste und ich mit dem ganzen Brimborium dastand und gleich wusste, was auf mich zukam. In solchen Fällen (zum Beispiel) habe ich halt immer ein Schächtelchen Trost aus dem Automaten gezogen, auch wenn ich das Rauchen eigentlich aufgegeben hatte.
Aber jetzt – fließt es wieder. Ich fühle mich leicht und zuversichtlich, Nikotin brauche ich nicht. Heute habe ich Herbstastern zu ihrem Grab gebracht. Uns geht es gut.
Ich betrachte meine Hände auf der Bettdecke, die Finger scheinen in kürzlich erfolgter Operation nachträglich aufgesteckt worden zu sein. Dick und steif sitzen die Glieder aufeinander, und wenn ich sie zur Faust einziehen will, wimmert jedes einzelne Gelenk. Drehe ich die Handteller nach oben, maulen meine Unterarme über braune und bläuliche Flecken, aufgeschürfte Haut und kleine Schnitte. Ich dehne meinen Oberkörper und da geraten die Muskeln in Schultern und Rücken in Aufruhr: es stecken Messer drin, heulen sie, beweg dich nicht! Doch ich will aus dem Bett kommen und erhebe mich halb – nun sind es unterer Rücken, Gesäß und Oberschenkel, die um Einhalt flehen und mich stöhnend zurücksinken lassen. Um es auf einen Nenner zu bringen: Wie sind gestern umgezogen. Meine Mutter lebt nun in der hübschen Wohnung einer Seniorenanlage.
Zum ersten Mal lasse ich den Gedanken zu, dass ich nicht mehr so kraftvoll bin. Bei meinem eigenen Umzug vor drei Jahren jagte ich noch Treppen auf und ab wie ein wildgewordenes Pferd, und es waren damals mehr Möbel zu versetzen. Gestern fühlte ich mich im Lauf des Tages, als zerfalle ich, und heute bin ich nurmehr ein Restbestand. Um ehrlich zu sein: Auch bei meinen Jogging-Runden wähle ich seit längerem Abkürzungen, weil es anstrengend geworden ist. Ob dies von der Operation an den Füßen im letzten Jahr rührt oder ob der Schock wegen meines verunglückten Sohns etwas damit zu tun hat – ich weiß es nicht. Vielleicht klopft einfach mein Alter an. Man wächst, entwickelt sich und ergraut ja nicht gleichbleibend jeden Tag ein bisschen. Oft passiert lange Zeit nichts, doch dann kommt ein Ruck und man wird ein Stück weitergeworfen, in welche Richtung auch immer. Nichts bleibt, wie es ist.
Im August 2009 wurde diese Amaryllis zum letzten Mal gegossen. Doch Madame will nicht ruhen. Sie gibt sich störrisch und reckt immer noch zwei Blätter in die Höhe. Auch der Umzug ins kalte Treppenhaus vor ein paar Wochen brachte keine Veränderung, wie schafft sie das? Wie kann sie nach neun Monaten ohne Wasser immer noch stramm stehen?
In ihrem Bett lag sie wie aufgepumpt. Ein prall gefüllter Sack in der Form eines Menschen, von dem Arme und Beine abstanden. Medikamente hatten ihre Glieder anschwellen lassen, sie ließen sich kaum mehr bewegen, rot glänzte die Haut darüber. Aufgebrochen nässte sie in den Beugen und unter der Brust, es tat weh.
Sie wünschte sich zu schweben. Wie ein Ballon würde sie dieses Zimmer verlassen und hinaus gleiten ins Freie, um am blauen Frühlingshimmel den Vögeln nachzuschauen. Der Wind würde ihr Haar streicheln, die Haut trocknen, Schmerzen und Furcht würden fortgeweht. Über die Menschen, die unten im Park zusammenliefen und verdutzt nach oben blickten, würde sie lachen, sich auf den Rücken drehen und in der Sonne wärmen. Später würde sie einsame Bahnen um die hohen Bäume ziehen, ihr Leib würde mit jeder Runde weicher und leichter.
Eine Schwester war ins Zimmer gekommen und bereitete die nächste Infusion vor. „Wie geht es dir heute?“ fragte sie die Metallhalterung, in die sie gerade einen Beutel einhängte. Sie prüfte den Schlauch und schien zufrieden. „Ich hab noch ein bisschen zu tun, wir machen das nachher, ja?“ rief sie und fing an, etwas auf ein Blatt zu schreiben. Das Bett des Mädchens war vor das Fenster gebracht und das Kopfende höher gestellt worden. Erheben konnte sie sich nicht, doch sah sie die Kronen der Kastanienbäume, riesig ragten sie in den Himmel hinein. Laub schimmerte hellgrün, sein Duft nach Wachsen drang ins Zimmer und wollte das Kranksein dort verscheuchen. So war es recht. Bäume, Blüten, Vogelnester – es war ein Aufgehen und Schwellen nach allen Seiten. Sie atmete das Leben ein, das sich draußen entlud und in ihrer Brust wurde es warm. Etwas schaffte sich Platz, strömte in alle Richtungen und fing an, das Böse in ihrem Körper abzutragen. Sie schloss die Augen, atmete ein und hielt diesen Augenblick fest.
Still lag sie da und lächelte, als die Schwester aufsah. Diese schob nun die Akten zusammen, trat zum Fenster und brachte das Bett behutsam auf seinen Platz zurück. Dort öffnete sie das Hemd über dem unförmigen Körper und schloss den feinen Katheter, der über der Brust aus der Haut ragte, an den Infusionsschlauch an. Eine Zeitlang wartete sie und betrachtete das Gesicht der kleinen Patientin. Noch am Morgen waren Erschöpfung und Mutlosigkeit darin zu sehen gewesen, nun schien es einen Entschluss gefasst zu haben. Nach den letzten Tagen des Zerfallens war das ein großartiger Anblick. Sie zog die Decke etwas hoch, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte: „Schlaf ein bisschen“, bevor sie aus dem Zimmer ging. Das Fenster blieb offen.
Wozu ein Organismus in der Lage ist, verblüfft mitunter selbst Wissenschaftler, und mich sowieso. Wie ist es möglich, nach einem halben Jahr ohne jede Flüssigkeit immer noch trotzig aufrecht dazustehen?
Es geht – wieder einmal – um meine Amaryllis. Eine Freundin schenkte sie mir vor einem Jahr, nun möchte ich sie endlich in einen neuen Topf betten, um die Pracht neuer Blüten voranzutreiben. Allerdings: Vor dem Auspflanzen kommt das Einziehen der Blätter, der Schlaf vor der Wiedergeburt. Die Zwiebel soll Kraft sammeln, und damit sie das weiß, hört man auf zu gießen.
Seit August letzten Jahres hat meine Amaryllis also kein Wasser bekommen. Und nun seht euch mal das an:
Ich bin ratlos. Wie soll ich sie zum Blühen bringen, wenn diese eigenwillige Lady es vorzieht, sich nicht zu entblättern? Grundsätzlich ist daran nichts Falsches, als Amaryllis würde ich diese Entscheidung jedoch überdenken. Zu erlauchtem Festtagsschmuck kommt sie so jedenfalls nicht!
Im Internet fand ich, dass die Pflanze im Herbst kühler und dunkler stehen soll. Vielleicht war das der Fehler. Verliebt ließ ich sie nämlich bei mir, am Fenster vor meinem Schreibtisch. Ob sie auf Wasser verzichten kann, solange ihr warm genug ist? Sinn macht das nicht. Jedenfalls habe ich sie nun ins Treppenhaus verlegt, das arme Ding. So allein da draußen, in der Kälte…
Ich muss darauf zurück kommen, auch wenn es vielleicht nicht jeden interessiert. Meine Amaryllis! Ich habe gelesen, sie soll ab August nicht mehr gegossen werden, damit sie zur Ruhe kommt. Hab ich gemacht. Wochen später sanken die Blätter auf halbe Höhe (innerhalb einer halben Stunde!) und seither beginnt eine Hälfte zu vergilben. Die andere steht grün und verhältnismäßig aufrecht im Topf, seit über drei Monaten hat sie kein Wasser bekommen. Wie schafft sie das?
Jedenfalls soll sie im Dezember neu ausgepflanzt werden, so stehts in der Anleitung. Schneide ich die Blätter nun ab und topfe die Zwiebel um? Der Lebensgeist, der noch immer aus ihr dringt, lässt mich zögern. Die Pflanze gibt nicht auf, sie mag nicht ruhen. Wie kann ich da mit der Schere kommen und diesem Wollen ein Ende bereiten! Freilich trotzt nur die eine Hälfte, die andere hat genug. Dann schneide ich eben die andere Hälfte ab und lass die eine stehn, und meine Amaryllis wird später ausgepflanzt.
Oder? Kennt sich jemand aus?
Meine Amaryllis bot ein interessantes Schauspiel heute. Das ganze Jahr über freute ich mich an der Pflanze, die auch nach der Blüte mit ihren langen, dunkelgrün glänzenden Blättern das Fenster schmückte. Da die Zwiebel aber im Winter neu ausgepflanzt wird, soll sie im Herbst zur Ruhe kommen, also hörte ich im August auf zu gießen. Die Pflanze hingegen ließ sich nicht beeindrucken und blieb bis heute unverändert. Stolz präsentiert sie sich Tag für Tag in ihrer ganzen Pracht. Auch Wochen nach dem letzten Tropfen Wasser steht sie aufrecht im Topf und denkt nicht daran, sich die Lebenslust verderben zu lassen. Amaryllis müsste man sein, dachte ich.
Als ich heute Nachmittag das Zimmer verließ, war sie wie immer ein dekorativer Blickfang in ihrer Ecke. Eine Stunde später aber kam ich zurück, und da – hingen die Blätter nur mehr auf halber Höhe! Einen spektakulären Abschied legt sie da hin, meine Schöne, bevor sie uns in ein paar Wochen hoffentlich wieder mit ihren lachsrosa Blüten verzaubern wird.
Warum fällt mir jetzt ein, dass ich seit dem Frühjahr keinen Urlaub hatte? In meinem nächsten Leben werd ich Amaryllis.