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Sinnvoll

Wenn man das Abo der regionalen Tageszeitung während einer längeren Abwesenheit nicht ruhen lässt, sondern an eine andere Adresse umleitet, dann bekommt man ein kleines Geschenk. Die Zeitung meiner Mutter wird also an mich geliefert, ich muss nicht mehr jeden Tag ihren Briefkasten leeren, der sonst überquillt, und als Dankeschön kam heute ein Reisenthel mini maxi Shopper. Faltbare Einkaufstasche nannte man das früher. Braun mit weißen Tupfen.

„Schau, das hast du vom Zeitungsverlag bekommen.“

Während die Krankenschwester eine Infusion prüft, hält meine Mutter das Päckchen zwischen den Fingern und dreht es ratlos hin und her. Dann lässt sie es auf die Bettdecke sinken und schiebt es mir zu. Natürlich. Sie braucht es ja gar nicht. So hübsch es auch ist – einen mini maxi Shopper für die Handtasche wird sie nie mehr brauchen. Also stecke ich ihn selbst ein und sinne darüber nach, was ihr in diesem Moment wohl gerade durch den Kopf geht.

Der Schlussstrich

Es ist nichts geworden aus dem Kaffee, den wir miteinander geplant hatten. Vielleicht plante ihn auch nur ich, wahrscheinlich sogar. Man tut, als ob nichts wäre und verabredet sich eben zum Kaffee. Im Juni, wenn ich nicht mehr arbeite und Zeit habe, auch tagsüber. „Ganz flexibel bin ich dann“, rief ich noch, als würde das Schlimme nicht eintreten, wenn ich es ignoriere.  Nun gut, um den Kaffee geht es nicht. 

Die Frau von Stefano traf ich nur ein einziges Mal. Obwohl wir uns nicht kannten, hatten wir viel miteinander zu reden, ich freute mich auf ein Wiedersehen mit ihr. Den Gedanken, dass es nicht dazu kommen könnte, hatte ich nicht. Wollte ich nicht haben. Erst jetzt. Sie starb heute Nacht.

Weitere Beiträge

Probleme sind relativ. Auch meine sind relativ – klein.

Ich winke von weitem. Vor unserem Stammcafe plaudert der Liebste mit Stefano. An einem der Tische sitzt eine Frau in der Sonne, in ihren Armen schläft Stefano’s Kind. Das ist sie also. Seine Frau. Vom Hörensagen kennen wir sie schon eine Weile, ich weiß, was mit ihr los ist. Begegnet sind wir uns noch nie.

Ich lache ihr zu, trete näher und stelle mich vor als „die Freundin des Engänders“. Ihr Gesicht hellt sich auf, ich setze mich zu ihr. „Wie geht es dir?“ frage ich. Die blödste aller Fragen. Sie kriecht mir in den Magen und kneift. Stefano’s Frau erzählt, dass sie gerade von einer Untersuchung kommt. Alle Behandlungen wirken nicht, man versucht jetzt etwas Neues. Sie berichtet darüber wie von einem Auto, das in der Werkstatt steht. Es ist ihr nicht egal, worüber sie spricht, doch sie macht kein Aufhebens darum. Ich unterhalte mich mit ihr, als ginge es um jemand anders. Unmöglich, dies hier zu Ende zu denken.

„Vor einem Jahr gaben sie mir noch 6 Monate,“ meint sie nach einer Weile und schiebt die Schildmütze zurück. „Inzwischen geben sie keine Prognosen mehr ab. Jedenfalls bin ich noch da.“

 .

Stefanos Hochzeit

Die Trauung unseres Freundes fand letzten Freitag statt, und die anschließende Feier ohne Braut.

Wir warten abends im Irish Pub auf ihn. In schwarzer Hose und weißem Hemd stößt er zu uns, lächelt erschöpft und setzt sich mit seinem Bruder und dem Trauzeugen zu uns. Drei Italiener. Es kommen weitere Gäste, die Gesellschaft wird immer italienischer, auch Deutsche feiern mit: Freunde von uns und ihm und von überall her.

Stefanos Frau blieb zu Hause. Sie wird früh Schlafen gegangen sein, die Mutter schaut nach dem Kind. Vielleicht klettert es gerade mit roten Bäckchen auf den Schoß der Oma, als wir die Gläser heben. Am Vormittag hatte sich Stefanos Frau vom Krankenhaus abholen lassen, um zu heiraten. Morgen wird sie zurückgebracht. Seit einem Jahr stemmt sie sich gegen den Krebs.

Ich kann es gar nicht umsetzen. Wir wünschen ihm Glück, wir schwatzen und lachen und diskutieren. Stefano blickt entrückt und liebevoll vom einen zum andern wie ein Kätzchen, das sich gern kraulen lässt.

Wenn seine Frau die Schlacht verliert, wird er das Kind mit nach Italien nehmen können. Ohne viel Behördenkram.

Auf einer Rückreise

Als wir heute nach einem Ausflug an der Stelle vorbeifuhren, an der mein Sohn vor einem Jahr und knapp vier Monaten verunglückte, meinte ich, das Geräusch zu hören. Es kreischte, als das andere Fahrzeug in ihn und seinen Freund raste. Dabei war es wohl eher ein Knall, doch ich hörte etwas Hohes, Grässliches, als habe ich selbst mit im Auto gesessen. Die halbe Sekunde vor dem Aufprall hakte sich fest. Was hat er gesehen, gespürt, empfunden? Man liest, dass es viel sein kann, was in diesem Moment durch den Kopf huschen kann. Er könnte realisiert haben, dass ein schwarzes Fahrzeug auf ihn zuschoss, vielleicht hörte er noch das Krachen. Erinnern kann er sich nicht. Die Bilder und Wahrnehmungen sind eingeschlossen in der Tiefe seines Bewusstseins, sie können oder sollen nicht heraus. Ich klappte die Sonnenblende herunter, mir war heiß.

Es ist schwer zu begreifen, dass es für immer Einschränkungen geben könnte im Leben meines Kindes. Er braucht Strategien, um sein Gedächtnis zu überlisten, das ihn oft im Stich lässt. Noch heute nimmt er Schmerzmittel wegen der Knochenbrüche. Anfang Zwanzig ist er, alles liegt vor ihm.

Als wir nach Hause kamen, war ich erschöpft.

Der Duft von draußen

In ihrem Bett lag sie wie aufgepumpt. Ein prall gefüllter Sack in der Form eines Menschen, von dem Arme und Beine abstanden. Medikamente hatten ihre Glieder anschwellen lassen, sie ließen sich kaum mehr bewegen, rot glänzte die Haut darüber. Aufgebrochen nässte sie in den Beugen und unter der Brust, es tat weh.

Sie wünschte sich zu schweben. Wie ein Ballon würde sie dieses Zimmer verlassen und hinaus gleiten ins Freie, um am blauen Frühlingshimmel den Vögeln nachzuschauen. Der Wind würde ihr Haar streicheln, die Haut trocknen, Schmerzen und Furcht würden fortgeweht. Über die Menschen, die unten im Park zusammenliefen und verdutzt nach oben blickten, würde sie lachen, sich auf den Rücken drehen und in der Sonne wärmen. Später würde sie einsame Bahnen um die hohen Bäume ziehen, ihr Leib würde mit jeder Runde weicher und leichter.

Eine Schwester war ins Zimmer gekommen und bereitete die nächste Infusion vor. „Wie geht es dir heute?“ fragte sie die Metallhalterung, in die sie gerade einen Beutel einhängte. Sie prüfte den Schlauch und schien zufrieden. „Ich hab noch ein bisschen zu tun, wir machen das nachher, ja?“ rief sie und fing an, etwas auf ein Blatt zu schreiben. Das Bett des Mädchens war vor das Fenster gebracht und das Kopfende höher gestellt worden. Erheben konnte sie sich nicht, doch sah sie die Kronen der Kastanienbäume, riesig ragten sie in den Himmel hinein. Laub schimmerte hellgrün, sein Duft nach Wachsen drang ins Zimmer und wollte das Kranksein dort verscheuchen. So war es recht. Bäume, Blüten, Vogelnester – es war ein Aufgehen und Schwellen nach allen Seiten. Sie atmete das Leben ein, das sich draußen entlud und in ihrer Brust wurde es warm. Etwas schaffte sich Platz, strömte in alle Richtungen und fing an, das Böse in ihrem Körper abzutragen. Sie schloss die Augen, atmete ein und hielt diesen Augenblick fest.

Still lag sie da und lächelte, als die Schwester aufsah. Diese schob nun die Akten zusammen, trat zum Fenster und brachte das Bett behutsam auf seinen Platz zurück. Dort öffnete sie das Hemd über dem unförmigen Körper und schloss den feinen Katheter, der über der Brust aus der Haut ragte, an den Infusionsschlauch an. Eine Zeitlang wartete sie und betrachtete das Gesicht der kleinen Patientin. Noch am Morgen waren Erschöpfung und Mutlosigkeit darin zu sehen gewesen, nun schien es einen Entschluss gefasst zu haben. Nach den letzten Tagen des Zerfallens war das ein großartiger Anblick. Sie zog die Decke etwas hoch, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte: „Schlaf ein bisschen“, bevor sie aus dem Zimmer ging. Das Fenster blieb offen.

Schutzhülle entfernen

Ich versuchs mal. Die Tage sind heller geworden und länger, die Sonne wird mir helfen, nicht wieder ins Dunkle zu versinken. Seit November nehme ich ein Anti-Depressivum, und nun will ich sehen, ob es ohne diese Schicht um mich herum wieder geht. Hochdosierte Johanniskraut-Dragees gibts stattdessen.

Meinem Kind geht es ja wieder gut, auch wenn er in seine bisherige Arbeit nicht zurückkehren kann. Die Knochen sind zwar  zusammengewachsen, stabil sind sie aber noch nicht und körperliche Arbeit wäre ein Risiko. Doch er fand die Lösung: Im Herbst beginnt eine neue Ausbildung in einem Büroberuf. Ich freu mich so. Endlich wissen wir, wie es weitergeht.

An meine eigene neue Arbeitsstelle hab ich mich einigermaßen gewöhnt. Schwierig ist es schon, aber im Moment glaube ich, auch ohne Citalopram weitermachen zu können.

Lebensfragen

Sonderbar: Mit Krankenhaus verbinde ich zunächst Ausruhen. Verantwortung abgeben. Fallen lassen. Ich denke gerade darüber nach wie es wäre, krank zu sein. So krank, dass das Ende in Sichtweite rückt. Wie würde ich die verbleibenden Jahre oder Monate verbringen? Kein gesunder Mensch kann das wissen, aber es ist eine gute Möglichkeit, Verborgenes bewusst zu machen. Ich wüsste genau, was ich als Erstes tun würde: Meinen Beruf aufgeben!

Wir verändern uns bei der Arbeit. Wir tun bestimmte Dinge und passen uns an, wir werden immer mehr so, wie Vorgesetzte und Kollegen uns haben wollen. Würden andere Umgebungen, Vorgesetzte oder Kollegen etwas anderes fordern, wären wir selbst auch ein bisschen anders. Man sucht es sich nicht wirklich aus, und man wird beraubt, denn nur mit Menschen und Tätigkeiten, die zu uns passen, kann man sich selbst sein. Aber wer hat schon so viel Glück?

Ich würd nur noch arbeiten, wo ich mit dem Herzen dabei bin. Ich würde mich einbringen und Verantwortung übernehmen für etwas, hinter dem ich stehe. Auch wenn ich nicht davon leben könnte, dank Krankenkasse käme ich ja über die Runden. Und ihr? Wenn ihr erfahren müsstet, dass euer Leben nicht mehr allzu lange dauert: Würdet ihr etwas ändern?