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Morgenkontemplation

Auf dem Weg zur Arbeit betrachte ich jeden Morgen ein Fräulein in einem Glaskasten. Dieser klebt an der Frontseite einer kleinen Maschinenfabrik und mein Radweg führt eine Weile lang direkt darauf zu.

In dem Kasten sitzt das Fräulein: schmal, ein wenig verhuscht, mit kinnlangem, bräunlich gelocktem Haar und sommers wie winters in einem dünnen Blüschen. Stets blickt sie angestrengt auf einen kleinen Computerbildschirm und kommt ihm mit dem Gesicht einen Tick zu nahe. Selbst aus der Ferne meine ich zu erkennen, dass sie nicht mehr ganz jung ist und eine Brille braucht. Niemals habe ich sie mit einer anderen Person gesehen.

Auch befindet sich der Zugangsbereich mit Lagerhallen, Gabelstaplern, Parkplätzen und dem Eingangsbereich auf der hinteren Seite des Gebäudes, sodass nicht ganz klar ist, wozu es das alles überblickende verglaste Büro auf der Vorderseite braucht. Vielleicht waren die Nutzflächen früher einmal anders angeordnet, oder es ist eine veränderte Einteilung für die Zukunft geplant.

Oder: das Fabriklein hat längst zugemacht, aufgekauft von einem dicken Konzern, und das Fräulein hat man einfach vergessen. Vielleicht ist ihr Gehaltszettel zwischen denen von 5000 weiteren Konzern-Mitarbeitern an anderen Standorten versunken und der Wareneingang ist gar kein Wareneingang, sondern der Zugang zu Abstellflächen für veraltete Ersatzteile, die der neue Eigentümer noch nicht wegwerfen möchte. Dem Fräulein auf der Vorderseite erscheinen aber Bewegungen im Bestand, und unberührt vom Treiben da draußen werden diese von ihr gewissenhaft verbucht und auswertet, wie sie es immer getan hat, und ihre Listen verschwinden vielleicht in den Tiefen eines Verzeichnisses, von dem niemand weiß außer sie selbst.

Dies ist der momentane Status meiner Überlegungen. Jeden Morgen sinne ich ein paar Minuten lang darüber nach, wie alles sein könnte, so wie andere im Yogasitz oder beim Gebet verharren, um inspiriert in den Tag zu kommen.

Und was begegnet euch auf dem Weg zur Arbeit?

From the Sidewalk to the Catwalk

Auch wenn man sich aus Luxuskleidern nichts macht, kann man auf der Gaultier-Schau in München in Exstase geraten. Was wir dort gesehen haben, war kein Modefummel, sondern große Kunst: ein sprühendes Feuerwerk an Interpretationen der unterschiedlichsten Einflüsse über das Medium Textil auf Menschenkörper. Das war Ästhetik gepaart mit detailversessener Handwerkskunst, die Avantgarde der Modeindustrie, getragen von Prominenz aus aller Welt.

Gaultier sagt über sich selbst: „Ich arbeite mit Künstlern, aber ich selbst bin keiner.“ Doch dann wären es viele Maler, Bildhauer und Komponisten auch nicht, wenn sie in Künstlerkolonien oder einfach durch ihr Studium Impulse von anderen aufnehmen und auf dem eigenen Boden wachsen lassen. Also nein, das nehme ich Gaultier nicht ab – was er schafft, ist Kunst, und wenn mir eine Zauberfee drei Wünsche erfüllen wollte, dann wäre einer davon ein Ticket für eine Designer-Modeschau. Ich hatte in meinem Leben zwar noch nie das Bedürfnis, im letzten Schrei aus Paris herumzulaufen, aber darum geht es hier auch nicht – sondern um Schöpfergeist und Schönheit.

Die Ausstellung läuft in München noch bis zum 14. Februar 2016.

Draufklick = groß

Hier noch ein Interview mit Jean Paul Gaultier.

Yes!Yes!Yes! WARHOLMANIA

Kunst kommt von Können. Kunst ist aber auch das, was andere Künstler inspiriert oder den Zeitgeist herausschält, das Darstellen dessen, was Menschen bewegt oder später einmal bewegen wird. Andy Warhol war einer der Besten darin, mit der Verfremdung des Menschenbilds durch den Starkult zu spielen, lange bevor MTV erfunden war. Gestern besuchten wir die Ausstellung Yes!Yes!Yes! WARHOLMANIA im Brandhorst-Museum in München.

Ich war hingerissen von den spektakulären Kunstwerken in so großer Zahl, die Experimentierlust Warhols ist geradezu greifbar und auch ansteckend. Als wir rausgingen, hätte ich am liebsten selbst losgelegt, Ideen hatte ich schon und irgendeine Technik beherrsche auch ich, war mein Gedanke. Aber natürlich würde nichts dabei herauskommen. Soviel Talent, Selbstvermarktungsfähigkeit und Glück habe ich nicht. „Na und?“ rief da meine Mutter, die auf dem Dach des Gebäudes saß und auf die stoffliche Welt mit ihren irdischen Bedenken herunterlachte.

Auch ihre Kunst fand niemals den Weg in die breite Öffentlichkeit. Wir wissen nicht, wie viele großartige Werke kein Mensch kennt, und wie viele bekannte Künstler vor allem auch begnadete Selbstinszenierer waren oder sind.

Welches Ergebnis muss kreatives Schaffen also haben, um den Schöpfer zum Künstler zu erheben? Ist das Kritzelbild beim Telefonieren schon Kunst? Und das im Aquarellkurs gemalte Bild nicht? Meine Mutter hat gezeichnet, geformt, gedruckt, gemalt – und gestaunt, was dabei herauskam. Es machte sie glücklich. Ob es Kunst war oder nicht, war ihr egal.

 

Spiegel© Ursula Holly