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Der tägliche Ausflug

„Komm doch, die Maus geht jetzt schlafen.“ Eine alte Dame beugt sich über die Hecke, die einen winzigen Vorgarten eingrenzt.  Darin, hinter dürren Sträuchern,  hebt ein Kater den Blick.  Mit feiner Stimme ruft sie noch einmal: „Komm, Peterle!“ Das sorgfältig frisierte Haar klebt an ihrem Kopf wie ein Helm. Steif verharrt sie an ihrem Platz und lässt den Blick nicht von dem Tier. Sie sieht mich nicht. Seit Jahren leben wir Haus an Haus, und doch grüßt sie nur wenn sie muss. Lieber schaut sie weg, als würde sie nicht gesehen, wenn sie nicht sieht. Wenn es jedoch gelingt, ihren Blick zu streifen, dann huscht ein Lächeln in ihr Gesicht, ein schüchternes, wie das eines Mädchens vor siebzig Jahren vielleicht. Sie fängt es gleich wieder ein, als könnte sie sich verraten, und blickt ernst geradeaus.

Der Kater hebt seinen dicken Bauch, streicht langsam die Mauer des Hauses entlang. Sie folgt ihm an der Hecke bis zur Gartentür. „Gell, Peterle, die Maus schläft jetzt auch.“ Dann verschwinden sie in die Wohnung.

Rätselcamp II

Immer wieder überlege ich, wer die Menschen sein könnten, die in mobilen Wohn-Fahrzeugen hier Halt gemacht haben. Ich drossle die Geschwindigkeit und versuche, hinter meiner Sonnenbrille unbemerkt Hinweise zu ergattern, was auf der Wiese da vor sich geht. Im Schatten eines Autos ganz nah am Weg, auf dem ich mich nähere, bemerke ich eine Frau. Unbeweglich sitzt sie da in einem Campingstuhl, dunkles Haar in der Mitte gescheitelt und im Nacken verknotet, deutliche Linien führen von den Nasenflügeln zu ihren Mundwinkeln. Das harte, braunes Gesicht ist mir zugewandt. Ich schaue schnell weg, im Reflex, aber sie schaut mich an. Oder durch mich hindurch. Ernst blickt sie auf einen Punkt, der weit hinter mir liegt oder tief in ihr selbst. Wie ein Gemälde von Frieda Kahlo taucht sie auf und verschwindet wieder, als ich vorbei geradelt bin.

Der Duft von draußen

In ihrem Bett lag sie wie aufgepumpt. Ein prall gefüllter Sack in der Form eines Menschen, von dem Arme und Beine abstanden. Medikamente hatten ihre Glieder anschwellen lassen, sie ließen sich kaum mehr bewegen, rot glänzte die Haut darüber. Aufgebrochen nässte sie in den Beugen und unter der Brust, es tat weh.

Sie wünschte sich zu schweben. Wie ein Ballon würde sie dieses Zimmer verlassen und hinaus gleiten ins Freie, um am blauen Frühlingshimmel den Vögeln nachzuschauen. Der Wind würde ihr Haar streicheln, die Haut trocknen, Schmerzen und Furcht würden fortgeweht. Über die Menschen, die unten im Park zusammenliefen und verdutzt nach oben blickten, würde sie lachen, sich auf den Rücken drehen und in der Sonne wärmen. Später würde sie einsame Bahnen um die hohen Bäume ziehen, ihr Leib würde mit jeder Runde weicher und leichter.

Eine Schwester war ins Zimmer gekommen und bereitete die nächste Infusion vor. „Wie geht es dir heute?“ fragte sie die Metallhalterung, in die sie gerade einen Beutel einhängte. Sie prüfte den Schlauch und schien zufrieden. „Ich hab noch ein bisschen zu tun, wir machen das nachher, ja?“ rief sie und fing an, etwas auf ein Blatt zu schreiben. Das Bett des Mädchens war vor das Fenster gebracht und das Kopfende höher gestellt worden. Erheben konnte sie sich nicht, doch sah sie die Kronen der Kastanienbäume, riesig ragten sie in den Himmel hinein. Laub schimmerte hellgrün, sein Duft nach Wachsen drang ins Zimmer und wollte das Kranksein dort verscheuchen. So war es recht. Bäume, Blüten, Vogelnester – es war ein Aufgehen und Schwellen nach allen Seiten. Sie atmete das Leben ein, das sich draußen entlud und in ihrer Brust wurde es warm. Etwas schaffte sich Platz, strömte in alle Richtungen und fing an, das Böse in ihrem Körper abzutragen. Sie schloss die Augen, atmete ein und hielt diesen Augenblick fest.

Still lag sie da und lächelte, als die Schwester aufsah. Diese schob nun die Akten zusammen, trat zum Fenster und brachte das Bett behutsam auf seinen Platz zurück. Dort öffnete sie das Hemd über dem unförmigen Körper und schloss den feinen Katheter, der über der Brust aus der Haut ragte, an den Infusionsschlauch an. Eine Zeitlang wartete sie und betrachtete das Gesicht der kleinen Patientin. Noch am Morgen waren Erschöpfung und Mutlosigkeit darin zu sehen gewesen, nun schien es einen Entschluss gefasst zu haben. Nach den letzten Tagen des Zerfallens war das ein großartiger Anblick. Sie zog die Decke etwas hoch, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte: „Schlaf ein bisschen“, bevor sie aus dem Zimmer ging. Das Fenster blieb offen.

Das Erwachen

Es zuckt in den Augen der Bestie. Herr Bauer fährt fort zu erläutern, wie er den Auftrag bearbeitete. Er denkt sich ja etwas bei dem, was er tut. Die Reklamation ist bedauerlich,  doch sehe er auch, dass zu viel versprochen wurde.

Schon bricht das Unwetter herein.

„Ja freilich,“ tobt der Direktor, „ich bin Schuld! Ich hab zu viel versprochen und wir konnten es nicht halten!“
Ob es sein könne, dass der Kunde ihn missverstanden hatte?
„Ach der Kunde ist Schuld! Der sowieso immer, weil er zu blöd ist zu kapieren, ja?“
Höflich antwortet Herr Bauer:
„Offenbar stellte er sich eine andere Qualität vor als das, was wir lieferten. Ich spreche mit ihm und -“ Das Gesicht des Scheusals färbt sich rot.
„Nichts werden Sie tun! Sie haben genug angerichtet und jetzt kümmere ich mich darum. Alles muss man selbst machen hier, alles!“
Herr Bauer gibt nicht nach. Er ist kein kleiner Junge, der nichts als stumme Lippenbewegungen zustandebringt, als der Vater sich auftürmt und auf ihn niederdonnert. Jetzt spricht Herr Bauer.
„Der Schaden ist doch gering bei diesem kleinen Auftrag, und wir können mit dem Kunden eine Lösung finden.“ Der andere hört nicht und beißt sich am nächsten fest. So wird eins nach dem andern abgearbeitet.

Herr Bauer überlegt, ob er dabei ist zum Masochisten zu werden. Seit Tagen sucht er den Direktor auf, um über offene Themen zu reden. Viel häufiger als üblich, und jedes Mal gibt es Hiebe. Doch Herr Bauer geht wieder hin, er will wissen, dass er es aushält. Und in ihm erwacht eine Kraft, die sich schwer vom Lager erhebt und blinzelnd die Augen reibt.

Vorstellungen

Eine Wolke breitet sich aus im Büro. Dick, schwarz, abgesondert von dem Ungeheuer, das hier herrscht. Wieder einmal schiebt es einen Bewerber vor sich her und jeder sagt auf, was er hier tut. Niemand weiß, welche Stelle ausgeschrieben ist. Mit glühenden Augen starrt der Wolf auf sein Lämmchen, das übereifrig Interesse heuchelt für ein paar Leute hinter Schreibtischen.

Herr Bauer brütet darüber, wie auch in seinem Alter noch Geld zu verdienen wäre. Der nervöse Herr an der Tür ist nicht der Erste, der durch die Büros wandert. Immer wieder findet Herr Bauer etwas, das ihn im Fall des Falles vor dem Untergehen bewahren könnte. Fast alles verwirft er beim Morgentest. Herr Bauer liegt nämlich meist wach, bevor die Alarmuhr fiept, und dann malt er sich den Tag aus ohne feste Arbeit. Würde er ihn mit Nachhilfestunden für Schüler verbringen? Oder dem Verkauf von Trödel und Selbstgefertigtem? Was ihm auch einfällt, es graust ihn. Auf jeden Fall bräuchte er einen Firmennamen, um unsichtbar zu bleiben für Bekannte und frühere Kollegen, wenn er sich als Hausmeister anbietet. Mit Glück könnte er vielleicht Artikel schreiben für einen Verlag, und doch wäre auch das – wie alles andere – nichts, wovon er leben könnte.

Die Kollegen, sie sind durchweg jünger als er, verabschieden sich nun von dem Gast, gleich ist die Reihe an Herrn Bauer. Wer wird ersetzt? Arbeitet man gegen ihn? Der Bewerber geht, der Spuk aber bleibt. Wie eine Wolke, die sich ausbreitet. Dick, schwarz, giftig.

Der Traum vom Liegen

Jeden Morgen wünscht er sich, die Meinungen zu Theaterstücken und Kinofilmen zu Ende zu hören. Danach das Morgenjournal, und dann ein Klassik-Konzert.  Frédéric Chopin vielleicht, das einsame Genie, das seinen 200. Geburtstag feiert. Herr Bauer stellt sich vor, bettlägerig zu sein und den ganzen Tag Radio zu hören.  Lesen würde er auch, so elend wäre er nicht, dass das nicht ginge. Aber sein Leiden wäre groß genug, dass jeder einsehen müsste, keinen Waschlappen vor sich zu haben, sondern einen wahrhaft Kranken. Lange Zeit würde er sich nicht erheben können, oder doch nur gebrechlich zum Badezimmer schlurfen oder um eine Kleinigkeit  zu sich zu nehmen, die man für ihn bereitet hätte. Danach müsste er sich sogleich wieder hinlegen. Er würde sich Gedanken machen darüber, was Bettgebundenheit mit einem Menschen macht, und kluge Artikel darüber verfassen. Danach würde er wieder Radio hören.

Die Sendung über die heutigen Feuilletons ist zu Ende, mit den Worten des Nachrichtensprechers biegt Herr Bauer in den Parkplatz ein. Er stellt den Motor ab, steigt aus dem Wagen, schließt Tür und Gedanken hinter sich ab. Ein neuer Tag will bezwungen werden.

Gerüstet

Bevor Herr Bauer zur Arbeit geht, packt er sich in Gelee. Dickes, festes Gelee, so zäh, dass er sich kaum noch bewegen kann.

Waffen zielen auf ihn, er weiß es.  „Finden Sie, dass Sie Ihr Gehalt wert sind?“ Er zieht den Gallertanzug höher bis an die Stirn. „Sie arbeiten nicht rentabel.“ Ach. „Den Laden wirtschaften Sie herunter!“ Die Hiebe prallen ab. Unter der schützenden Schicht weiß Herr Bauer: er arbeitet so gut wie jeder hier. Die Kollegen hören sich dasselbe an, laufend, wie er. Der Teufel hat eine Firma gegründet.

Wie im Bauerntheater erscheint es ihm an den guten Tagen. Derb geht es zu, Behauptungen und Anschuldigungen wie die maßlosen Übertreibungen von Komödianten. Hinter geschlossener Bürotür lacht er dann mit den anderen. Sie äffen das Gehabe nach, karikieren die grotesken Verhältnisse, sie schütteln ihre Erregung ab.

An den anderen Tagen sitzt Herr Bauer in seinem Panzer. Unter einer Schicht wie Gelee hält er aus. Bleibt für sich, lässt niemanden durch, auch die Angriffe nicht. Das ist die Hauptsache.

Herr Bauer läuft nicht davon. Die letzten Jahre scheuchten ihn von hier nach da und von oben nach unten, er will keine Umwälzungen mehr. Er will Ruhe. Die findet er hier nicht, aber Arbeit und ein Verdienst. Das ist für den Moment genug.

Die zwei Seelen des Herrn Bauer

Wie der Michelinmann auf dem Dach einer Tankstelle bläht sich der Direktor vor einem Schaubild. Er trägt Details vor über die neuen Bohrmaschinen, wortreich und mit ausladenden Gesten betet er die Besonderheiten einer neuen Produktreihe herunter. Auf Zahlen und Zeichnungen deutend beendet er seine Ausführungen und mustert die Teilnehmer der Schulung. Krumm hockt Herr Bauer da und macht sich klein.

„Sitz grade“, schreit in der Tiefe seines Bewusstseins der Vater. Herr Bauer spürt die Faust, die ihm in den Rücken boxt,  seine Kinderhände klammern sich an der Tischplatte fest. Mit zusammengepressten Lippen starrt er auf den Teller vor ihm und hofft,  er werde davonkommen mit dem einen Schlag.

„Herr Bauer, haben Sie auch mal etwas zu sagen?“ Er schreckt aus seinen Erinnerungen, entdeckt an der Tafel die neue Überschrift: Verkaufsargumente. Gehorsam quält eine Anmerkung sich räuspernd vor die Runde. Man ist nicht zufrieden mit ihm. Nicht energisch genug sei er, nicht präsent genug. Vielleicht einfach nicht laut genug.

Noch eine Stunde bis Feierabend. Der Gedanke belebt ihn, denn auf dem Nachhauseweg wächst Herr Bauer. Groß geworden, mit hungrigem Herzen öffnet er Abend für Abend die Wohnungstür, Iris ist meistens schon da. Sie duftet wie ein Blumenstrauß und er liebt es, an ihr zu schnuppern. Wenn er sich zum Begrüßungskuss niederbeugt, streicht sie mit leichter Hand über seinen Rücken. Voll Wärme und Leben bereiten sie dann ihr Abendbrot.

Herr Bauer richtet sich auf. Er ist Teilnehmer einer Schulung und wie alle andern darf er sich äußern. Immerzu darf er sich äußern, erkennt er, und mit fester Stimme stellt er zu den Bohrmaschinen eine Frage. Er will wissen, was nun passiert. Das Ergebnis: Herr Bauer erhält eine Antwort. Eine normale, hilfreiche Antwort.