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Me is boring

Seit zwei Wochen fällt mir dieser Satz immer wieder ein. Er stammt von einem meiner Kinder und heißt übersetzt (man kommt nicht ohne weiteres darauf): Mir ist langweilig. Vor Jahren schuf das Kind diesen Satz unter Nichtbeachtung aller Regeln der englischen Sprache, und doch fand er Eingang in den Familienjargon und wird noch heute verwendet. Selbst vom geliebten Briten.

Ich habe mich seit meiner Kindheit nicht mehr gelangweilt, doch seit Kurzem verfüge ich über viel Zeit. Tatsächlich überlege ich manchmal, was ich als Nächstes tun könnte. Es gibt nichts Wichtiges zu erledigen, nachmittagelang, ebensogut könnte ich auch nichts tun, was dem Sachverhalt der Langeweile nahe kommt. Aber soweit ist es noch nicht, es ist nur ungewohnt, tagsüber ein Buch zu lesen oder einfach das Fahrrad herauszuholen und zu erkunden, ob sich der Frühling schon irgendwo sehen lässt.

Wie kommt das? Ich habe eine Arbeitsstelle, aber da geh ich ja nur vormittags hin. Die Nachmittage und oft auch die Abende oder Wochenenden verbrachte ich bisher als freiberufliche Übersetzerin. Und nun hatte ich endlich den Mut, meinen größten Kunden aufzugeben. Ich stehe nicht mehr zur Verfügung, sagte ich. Übrig sind ein paar kleinere Auftraggeber und deshalb habe ich Zeit. So viel wie seit Jahren nicht und wenn, dann war es aus keinem guten Grund. Aber jetzt? Ich bin gesund, ich habe Arbeit, und ich habe Zeit.

Die Einkommenssituation verändert sich natürlich, aber ich lebe nicht allein, und Materielles bedeutet mir nicht viel. Wozu also der Aufwand? Ich geh nachmittags lieber in die Stadt. Bummeln. In die Bücherei. Vielleicht rufe ich eine Freundin an und verabrede mich, wenn sich überhaupt noch eine an mich erinnert. Nächste Woche habe ich einen Friseurtermin und es macht mich nicht nervös, denn: Ich werde Zeit haben.

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Abendunterhaltung

Von meinem Platz aus sehe ich auf eine Lounge, die vom Restaurant abgeteilt ist. In ihrer Mitte befindet sich ein Marmorpodest mit einer Glasschale darauf, in der liegen vier Orangen, vier Zitronen, drei quietschgrüne Limetten, eine davon sieht man nur halb. Links an der Wand steht eine weiße Plastikhortensie in silbernem Übertopf, rechts eine Palme. Dazwischen drei hellgraue Sessel. Dahinter ein Fenster mit Blick auf den Innenhof, dort sechs weitere Tische und jeweils zwei bis vier Stühlen. Mit anderen Worten: Ich langweile mich.

Neben mir sitzt der geliebte Brite, gegenüber sein Sohn und sie schreien sich an. Nicht weil sie sich streiten, sondern weil es so laut ist. Es scheint hier niemanden zu stören, wenn man Gesprächen auch am Nebentisch mühelos folgen kann (der Geräuschpegel steigt entsprechend), aber da sowieso ständig und überall mit CCTV-Kameras überwacht wird, kommt es darauf wohl auch nicht mehr an.

Ich bin also die Einzige, die den Unterhaltungen weder am eigenen noch an irgendeinem fremden Tisch folgen kann, akustisch nicht und sprachlich erst recht nicht, der Geordie-Slang in Newcastle ist für Ausländer ungefähr wie Schwäbisch für Reingeschmeckte. Elles subbr, wenn mans versteht.

Ich schaue mich um. Die Lounge ist jetzt leer, das Obst gezählt, die Möbel betrachtet, ich schiebe Olivensteine auf dem Tellerchen vor mir hin und her. Es sind vier. Der britische Sohn hat einen Stein vor sich liegen, und im Schüsselchen in der Mitte sind nur noch zwei große, grüne, saftig-fruchtige Oliven übrig. Hab ich so viele gegessen? Wie unhöflich, denke ich, andern schmecken sie genauso, wo war ich mit den Gedanken? Ich darf auf jeden Fall nicht noch einmal zugreifen, denke ich und schlucke mit schlechtem Gewissen hinunter, lege den fünften Stein auf meinen Teller.

Nun holt sich der Brite eine Olive. Er plaudert weiter, kaut, plappert, holt nach einer Weile mit spitzen Fingern den Stein aus dem Mund und – wirft ihn auf meinen Teller! Ach so. Das war ich gar nicht allein. Dann weiß auch niemand, wie viele Oliven ich gegessen habe, resümiere ich, und greife nach der letzten. Mmmmm.

Lange Stunden

Im Storchennest tut sich nicht viel. Manchmal steht einer der Vögel darin, meistens schaut nur etwas Weißes hinter dem Rand aus Zweigen hervor. Es gehört zu dem Storch, der auf dem Gelege kauert. Der andere watet durch nasses Gras und jagt Mäuse oder Frösche, beim Mittagsspaziergang sehe ich ihn manchmal.

Vom Brütenden erkennt man nur das Gefieder. Kein Kopf reckt sich hoch und erforscht die Straße, kein neugieriges Storchenaugenpaar späht über Häuser hinweg, kein Schnabel klappert. Träge dehnt sich der Vogel über den Eiern und ich frage mich: wie lange schon. Eine Stunde? Zwei? Sechs? Wir mit unseren überdrehten Gehirnen können uns nicht vorstellen, untätig zu verharren. Menschen in Pflegeheimen vielleicht. Demenzkranke. Oder der Herr in Loriot’s Cartoon. „Möchtest du nicht spazieren gehn?“ „Nein. Ich möchte nur hier sitzen.“

Stunden. Tage. Wochen. Etwa einen Monat lang wechseln die Eltern sich ab mit dem Warmhalten der Eier. Was nehmen sie wahr während langer Nachmittagsstunden? Es tun doch mal die Glieder weh. Die Knochen. Der Hintern. Macht ein Storch sich Gedanken, ob er bald ausfliegen darf? Träumt er von Würmern und fetten Wiesen? Wie lang ist eine Storchenstunde?

Ich könnte das nicht. Ich meine, nichts zu tun. Nie hört mein Hirn auf zu suchen, zu fragen, Beschlüsse zu fassen und Dinge voranzutreiben. Ohne Nahrung schlägt es Purzelbäume. Wie machen die Störche das?

Vielleicht schlafen sie einfach.

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Loriot – Hier sitzen

 

Storch, Storch, Schnibel, Schnabel

*

Storch, Storch, Schnibel, Schnabel,
mit der langen Heugabel,
mit den langen Beinen.
Wenn die Sonn tut scheinen,
sitzt er auf dem Kirchendach,
klappert laut, bis alles wach!

*

Diesen Reim kenn ich auswendig. Ich las ihn meinen Kindern vor, als sie noch klein waren.

„Mein“ Storch lebt nicht auf dem Kirchendach, sondern auf einem Strommasten. Die letzten Tage sah ich ihn oft im Nest. Reglos stand er da in der Frühlingssonne, stundenlang. Gelegentlich pickte er an den Zweigen, als sortiere er etwas. Er hatte keine Eile damit. Was für ein Leben, dachte ich, ein Mensch kann sich das nicht vorstellen. In Deutschland schon gar nicht. Zeit ist kostbar, wir wollen sie nutzen, müssen etwas tun. Was alten Menschen wohl durch den Kopf geht, wenn sie nichts mehr tun können? Wie lange dauert es, bis man sich daran gewöhnt? Der Storch hingegen kennt es nicht anders. Er steht einfach da und das genügt.

*

Storch hat sich aufs Nest gestellt,
guckt herab auf Dorf und Feld,
wird bald Ostern sein?
Kommt hervor, ihr Blümelein,
komm hervor, du grünes Gras,
komm herein, du Osterhas!
Komm bald fein und fehl mir nit,
bring auch viele Eier mit!

*