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Begegnungen

Neulich bei der Mitarbeiterversammlung: Statt Vorträgen gibt es Impro-Theater. Leider sind wir nicht Zuschauer, sondern Akteure. Man teilt uns in Gruppen ein und wir müssen einen Sketch erarbeiten, um eins der vielen Angebote unserer Einrichtung darzustellen. So sollen die Mitarbeiter verschiedener Standorte einander begegnen und auch andere Projekte kennenlernen. Bei der Vorführung muss man dann jeweils erraten, worum es geht.

Unsere Gruppe hat weder eine Idee, noch wollen wir Theater spielen. Das verbindet schon mal. Wir berichten von unseren einzelnen Arbeitsaufgaben und eine Frau erzählt von einem 18-jährigen Jungen. Er kann nicht mehr gehen, seine Hände nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen. Kommunikation ist nur noch über die Augen und Buchstabenfelder möglich. Die Frau betreut ihn in der Schule: Sie hilft ihm beim Lernen, gibt ihm Essen, begleitet ihn auf die Toilette.

Ob sie das nicht depressiv mache, frage ich. „Nein“, erwidert sie, „im Gegenteil. Er ist mein Sonnenschein.“ Ich schaue verblüfft und sie lacht. „Er ist unser aller Sonnenschein,“ fährt sie fort, „die ganze Klasse mag ihn. Jeder will seinen Rollstuhl  schieben und bei ihm sein.“ Dabei ist es keine gewöhnliche Klasse: alle SchülerInnen haben Defizite oder Verhaltensauffälligkeiten. Doch „dieser Junge steckt uns alle an mit seinem strahlenden, positiven Wesen.“

Trotz der lustlosen Haltung beim Einüben unseres Theaterstücks ist das Konzept der Geschäftsleitung aufgegangen. Diese Frau werde ich vielleicht nie wiedersehen, aber ich habe sie kennengelernt und durch sie einen Jungen, den ich mag.

Aktivierungsprogramm

„Sie müssen ihn jagen“, sagte der Mann vom ADAC. Zu dritt standen wir in der Tiefgarage, wo mein Auto sich große Mühe gegeben hatte anzuspringen, aber der letzte Funke schaffte es nicht. Die Motorhaube war hochgeklappt, wir beugten uns über die Innereien meines Toyotas. Der Motor schnurrte jetzt zufrieden und der Mechaniker montierte Kabel und Messgeräte wieder ab. „Es haben sich wohl Ablagerungen gebildet“, meinte er, „der Motor muss heiß werden, er muss glühen, regelmäßig. Fahren Sie hochtourig.“ „Aber das tut ihm doch weh!“ rief ich, „der Wagen ist 21 Jahre alt!“ Der Wagen werde begeistert sein, versicherte der Mechaniker, und zum Kundendienst müsse er auch.

Versucht das mal. Lasst im Zustand morgendlicher Lethargie oder auch – kommt ja vor – allgemeinen Lebensüberdrusses den Motor eines Fahrzeugs jaulen, peitscht ihn hoch auf 3000 Umdrehungen oder mehr. Das geht gar nicht. Entweder ich bleibe im Trödelgang, überlegte ich, dann drohen teure Reparaturen, oder ich setze mich auf. Schleiche auf dem Weg zur Arbeit nicht mehr durch die Stadt, sondern donnere die Umgehungsstraße dahin, und so mache ich es seither. Aus dem Weg ihr Säcke, hier kommen Umdrehungen, viele Umdrehungen! Ich packe das Lenkrad wie Rennfahrer Kächele, Beläge fetzen zum Auspuff raus oder werden vom Adrenalin abrasiert. Wenn ich schließlich auf den Parkplatz rolle, ist mir als springen gleich Helfer aus den Büschen und wechseln die Räder, während ich cool zum Haupteingang schlendere.

Man fängt den Tag ganz anders an.

Ins Ungewisse

Mit all dem Metall im Körper hätte der Flughafendetektor Funken sprühen müssen. Aber mein Sohn ging durchs Tor und es kam kein Piep. In Ruhe steckte er seine Geldbörse wieder ein, die in einer Wanne zusammen mit anderem Zeug durchleuchtet worden war. Er nahm seine Sachen wieder an sich, schnallte den Gürtel um und schaute zu uns. Ich streckte den Daumen nach oben und er winkte scheu, lud seinen Rucksack über die Schulter und verschwand. Na Bravo, dachte ich. Wenn ein Terrorist erfährt, dass die Detektoren an diesem Flughafen heute falsch oder gar nicht eingestellt sind, kann er mit einem Gewehr an Bord gelangen.

Die Maschine wurde dann doch nicht entführt, Gott sei Dank. Knapp eineinhalb Stunden später landete sie in London und der Junge schaffte es mit Taxi und Zug nach Brighton, wo er die nächsten drei Monate leben wird. Dieses Abenteuer war lange sein Traum. Er war ausgelöscht worden vor einem Jahr, als dieser Audi in den Alpha fuhr, in dem mein Sohn als Beifahrer saß. Danach konnte er sich monatelang nicht einmal erinnern, einen Traum je gehabt zu haben. Wichtig war da nur, dass er lebte. Dass die Hirnblutungen abheilten und zahllose Nägel und Platten ihn so zusammenhielten, dass er eines Tages aus dem Rollstuhl wieder aufstehen konnte. Aber irgendwann, als Operationen und Rehabilitation hinter ihm lagen, kam er zurück: Der Wunsch, Neues kennen zu lernen, ein anderes Land, England. Da fing er an zu planen.

Wir telefonierten heute kurz mit der Familie, in der er untergebracht sein wird während des Sprachkurses. Es beruhigt mich zu wissen, dass diese Leute wirklich existieren und er in Sicherheit ist. Ich weiß, es klingt blöd, der Junge ist 21 und er findet sich zurecht. Auch seine Geschwister haben Auslandsaufenthalte hinter sich und in Gefahr ist man zu Hause sowieso nicht weniger. Trotzdem. Ihn gehen zu lassen ins Ungewisse, war schwer. Ich habe das Vertrauen nicht mehr, dass immer alles gut geht. Manchmal geht es auch schief, wie wir jetzt wissen,  und ich  kann ich nur beten, ganz fest, dass keinem der Kinder je wieder etwas zustoßen wird.

Nie den Kopf hängen lassen!

Im August 2009 wurde diese Amaryllis zum letzten Mal gegossen. Doch Madame will nicht ruhen. Sie gibt sich störrisch und reckt immer noch zwei Blätter in die Höhe. Auch der Umzug ins kalte Treppenhaus vor ein paar Wochen brachte keine Veränderung, wie schafft sie das? Wie kann sie nach neun Monaten ohne Wasser immer noch stramm stehen?

Der Duft von draußen

In ihrem Bett lag sie wie aufgepumpt. Ein prall gefüllter Sack in der Form eines Menschen, von dem Arme und Beine abstanden. Medikamente hatten ihre Glieder anschwellen lassen, sie ließen sich kaum mehr bewegen, rot glänzte die Haut darüber. Aufgebrochen nässte sie in den Beugen und unter der Brust, es tat weh.

Sie wünschte sich zu schweben. Wie ein Ballon würde sie dieses Zimmer verlassen und hinaus gleiten ins Freie, um am blauen Frühlingshimmel den Vögeln nachzuschauen. Der Wind würde ihr Haar streicheln, die Haut trocknen, Schmerzen und Furcht würden fortgeweht. Über die Menschen, die unten im Park zusammenliefen und verdutzt nach oben blickten, würde sie lachen, sich auf den Rücken drehen und in der Sonne wärmen. Später würde sie einsame Bahnen um die hohen Bäume ziehen, ihr Leib würde mit jeder Runde weicher und leichter.

Eine Schwester war ins Zimmer gekommen und bereitete die nächste Infusion vor. „Wie geht es dir heute?“ fragte sie die Metallhalterung, in die sie gerade einen Beutel einhängte. Sie prüfte den Schlauch und schien zufrieden. „Ich hab noch ein bisschen zu tun, wir machen das nachher, ja?“ rief sie und fing an, etwas auf ein Blatt zu schreiben. Das Bett des Mädchens war vor das Fenster gebracht und das Kopfende höher gestellt worden. Erheben konnte sie sich nicht, doch sah sie die Kronen der Kastanienbäume, riesig ragten sie in den Himmel hinein. Laub schimmerte hellgrün, sein Duft nach Wachsen drang ins Zimmer und wollte das Kranksein dort verscheuchen. So war es recht. Bäume, Blüten, Vogelnester – es war ein Aufgehen und Schwellen nach allen Seiten. Sie atmete das Leben ein, das sich draußen entlud und in ihrer Brust wurde es warm. Etwas schaffte sich Platz, strömte in alle Richtungen und fing an, das Böse in ihrem Körper abzutragen. Sie schloss die Augen, atmete ein und hielt diesen Augenblick fest.

Still lag sie da und lächelte, als die Schwester aufsah. Diese schob nun die Akten zusammen, trat zum Fenster und brachte das Bett behutsam auf seinen Platz zurück. Dort öffnete sie das Hemd über dem unförmigen Körper und schloss den feinen Katheter, der über der Brust aus der Haut ragte, an den Infusionsschlauch an. Eine Zeitlang wartete sie und betrachtete das Gesicht der kleinen Patientin. Noch am Morgen waren Erschöpfung und Mutlosigkeit darin zu sehen gewesen, nun schien es einen Entschluss gefasst zu haben. Nach den letzten Tagen des Zerfallens war das ein großartiger Anblick. Sie zog die Decke etwas hoch, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte: „Schlaf ein bisschen“, bevor sie aus dem Zimmer ging. Das Fenster blieb offen.

Nicht für sich allein

So. Nun weiß ich, was ein Bodhisattva ist. Eben las ich darüber, ich bin nur nicht sicher beim Aussprechen des Wortes. Weniger der Klang gibt Rätsel auf als die Buchstabenfolgen. Das Auge kann nicht recht folgen, beginnt wieder von vorn, im Gehirn verheddert es sich, aber darum geht’s ja nicht. Sondern darum, was es ist: Zunächst einmal fremd.

Ein Bodhissatva ist ein Mensch mit dem Ziel, von allen Bedürfnissen abzulassen, um sich vom Leiden des Lebens zu befreien und ins Nirwana zu finden. Soweit so normal für jeden Buddhisten. Mit dem finalen Verlöschen pressiert es einem Bodhissatva aber nicht. Seine Bestimmung liegt im Diesseits.

Irgendwo, unterwegs auf dem achtfachen Pfad, schreitet er voran. Doch was er bereits erworben hat an Weisheit, Sanftmut und Geist, das reicht er weiter. Er hilft den Umherirrenden dieser Welt, ihre Lasten abzuwerfen und Erlösung zu finden.

Solche Erleuchtungswesen vermuten wir – der Name verrät es bereits – in Indien. Auch in China gibt es sie bestimmt, doch in unserer globalen Welt kann der Pfad zur Erleuchtung lang sein. Und so tauchte einer von ihnen in Frankreich auf. In der Metro.

Was dort geschah, zeigt der Film.

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Gefunden in: Aufeinanderzu

Überlebt: Sechs Monate ohne Wasser!

Wozu ein Organismus in der Lage ist, verblüfft mitunter selbst Wissenschaftler, und mich sowieso. Wie ist es möglich, nach einem halben Jahr ohne jede Flüssigkeit  immer noch trotzig aufrecht dazustehen?

Es geht – wieder einmal – um meine Amaryllis. Eine Freundin schenkte sie mir vor einem Jahr, nun möchte ich sie endlich in einen neuen Topf betten, um die Pracht neuer Blüten voranzutreiben. Allerdings: Vor dem Auspflanzen kommt das Einziehen der Blätter, der Schlaf vor der Wiedergeburt. Die Zwiebel soll Kraft sammeln, und damit sie das weiß, hört man auf zu gießen.

Seit August letzten Jahres hat meine Amaryllis also kein Wasser bekommen. Und nun seht euch mal das an:

Ich bin ratlos. Wie soll ich sie zum Blühen bringen, wenn diese eigenwillige Lady es vorzieht, sich nicht zu entblättern? Grundsätzlich ist daran nichts Falsches, als Amaryllis würde ich diese Entscheidung  jedoch überdenken. Zu erlauchtem Festtagsschmuck kommt sie so jedenfalls nicht!

Im Internet fand ich, dass die Pflanze im Herbst kühler und dunkler stehen soll. Vielleicht war das der Fehler. Verliebt ließ ich sie nämlich bei mir, am Fenster vor meinem Schreibtisch. Ob sie auf Wasser verzichten kann, solange ihr warm genug ist? Sinn macht das nicht. Jedenfalls habe ich sie nun ins Treppenhaus verlegt, das arme Ding. So allein da draußen, in der Kälte…

Hat jemand Amaryllis-Erfahrung?

Ich muss darauf zurück kommen, auch wenn es vielleicht nicht jeden interessiert. Meine Amaryllis! Ich habe gelesen, sie soll ab August nicht mehr gegossen werden, damit sie zur Ruhe kommt. Hab ich gemacht. Wochen später sanken die Blätter auf halbe Höhe (innerhalb einer halben Stunde!) und seither beginnt eine Hälfte zu vergilben. Die andere steht grün und verhältnismäßig aufrecht im Topf, seit über drei Monaten hat sie kein Wasser bekommen. Wie schafft sie das?

Jedenfalls soll sie im Dezember neu ausgepflanzt werden, so stehts in der Anleitung. Schneide ich die Blätter nun ab und topfe die Zwiebel um? Der Lebensgeist, der noch immer aus ihr dringt, lässt mich zögern. Die Pflanze gibt nicht auf, sie mag nicht ruhen. Wie kann ich da mit der Schere kommen und diesem Wollen ein Ende bereiten! Freilich trotzt nur die eine Hälfte, die andere hat genug. Dann schneide ich eben die andere Hälfte ab und lass die eine stehn, und meine Amaryllis wird später ausgepflanzt.

Oder? Kennt sich jemand aus?

Die Amaryllis

Meine Amaryllis bot ein interessantes Schauspiel heute. Das ganze Jahr über freute ich mich an der Pflanze, die auch nach der Blüte mit ihren langen, dunkelgrün glänzenden Blättern das Fenster schmückte. Da die Zwiebel aber im Winter neu ausgepflanzt wird, soll sie im Herbst zur Ruhe kommen, also hörte ich im August auf zu gießen. Die Pflanze hingegen ließ sich nicht beeindrucken und blieb bis heute unverändert. Stolz präsentiert sie sich Tag für Tag in ihrer ganzen Pracht. Auch Wochen nach dem letzten Tropfen Wasser steht sie aufrecht im Topf und denkt nicht daran, sich die Lebenslust verderben zu lassen. Amaryllis müsste man sein, dachte ich.

Als ich heute Nachmittag das Zimmer verließ, war sie wie immer ein dekorativer Blickfang in ihrer Ecke. Eine Stunde später aber kam ich zurück, und da – hingen die Blätter nur mehr auf halber Höhe! Einen spektakulären Abschied legt sie da hin, meine Schöne, bevor sie uns in ein paar Wochen hoffentlich wieder mit ihren lachsrosa Blüten verzaubern wird.

Warum fällt mir jetzt ein, dass ich seit dem Frühjahr keinen Urlaub hatte? In meinem nächsten Leben werd ich Amaryllis.

Zurück zu mir!

Wer seine Werte lebt und im guten Kontakt ist mit seinen Bedürfnissen, wirkt authentisch, stark und leistungsfähig. Hab ich eben im Internet gelesen. Nun, meine Werte lebe ich mehr denn je, meine Bedürfnisse dagegen habe ich weggesperrt seit dem Auto-Unfall meines Sohnes. Fast vier Monate sind vergangen, er wird bald aus der Klinik entlassen werden und die Therapien, die er noch braucht, zu Hause fortführen. Es wird noch viel Zeit vergehen, bis er zurück findet in die Normalität. Ganz wie vorher wird er wahrscheinlich nicht wieder sein, ich mit Sicherheit auch nicht. Das schreckliche Ereignis gehört nun zu unserem Leben. Aber es geht auch weiter, zum Glück geht es weiter mit ihm, er kann wieder gehen und klar denken. Dafür bin ich jeden Tag dankbar, nicht alle Eltern haben so viel Glück.

Ich beende nun die Berichte über das, was seit dem Unfall geschah, mal sehn, ob mir noch etwas anderes einfällt, was ich euch erzählen will. Ein gelegentliches Wort zum Sonntag wird es sicher weiterhin geben, vielleicht über meine Erkenntnisse beim Versuch, das Schwere abzustreifen und wieder nach meinen eigenen Bedürfnissen zu forschen. Irgendwo müssen sie ja sein!

Danke an alle, die – auf welche Weise auch immer – bei uns waren in den vergangenen Monaten.

Morgen am Meer

Leer geweht die Welt
von Wellen überspült
was gestern war

an jedem Tag
neue Fußspuren
am weiten Ufer
zerfließender Zeit

Annemarie Schnitt