Schlagwort-Archive: Lebenshilfe

Kanal oder Schale

„Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist und nur das Überfließende weitergibt, sodass sie ohne Schaden bleibt.

Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch, freigebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen.

 Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du mit dir selbst schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle. Wenn nicht, dann schone dich.

(Bernhard von Clairvaux, Mystiker und erster Abt des Zisterzienserklosters Clairvaux, 12. Jahrhundert)

Jetzt ist es raus: Es hat sich ausgeflossen – jetzt wird gefüllt! Bernhard, ein Kirchenmann immerhin, sagt wir dürfen das. Wir sollen es sogar. Ein weiser Rat, der richtige für Erschöpfte und Zerbrechende. Doch nun fragen sich alleinerziehende Mütter und Väter, pflegende Angehörige, Menschen mit mehreren Jobs, um zu überleben: Was, wenn die Schale nie voll wird? Darf man seine Verpflichtungen dann hinschmeißen? Und wenn ja: Wohin?

Würde der gute Bernhard im Alter von 195 Jahren mit schwerer Gicht und Inkontinenz die Helferin fortschicken, wenn sie seit hundert Jahren bei ihm ist und nur noch wie eine Kanalröhre Anforderungen aufnimmt und Verrichtungen ausspuckt? Würde sie überflüssig, weil sie keinen Überfluss verschenkt? Würde er sie fortschicken, auch wenn niemand anders da wäre?

Fischbrunnen in München

Fischbrunnen in München