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Morgenkontemplation

Auf dem Weg zur Arbeit betrachte ich jeden Morgen ein Fräulein in einem Glaskasten. Dieser klebt an der Frontseite einer kleinen Maschinenfabrik und mein Radweg führt eine Weile lang direkt darauf zu.

In dem Kasten sitzt das Fräulein: schmal, ein wenig verhuscht, mit kinnlangem, bräunlich gelocktem Haar und sommers wie winters in einem dünnen Blüschen. Stets blickt sie angestrengt auf einen kleinen Computerbildschirm und kommt ihm mit dem Gesicht einen Tick zu nahe. Selbst aus der Ferne meine ich zu erkennen, dass sie nicht mehr ganz jung ist und eine Brille braucht. Niemals habe ich sie mit einer anderen Person gesehen.

Auch befindet sich der Zugangsbereich mit Lagerhallen, Gabelstaplern, Parkplätzen und dem Eingangsbereich auf der hinteren Seite des Gebäudes, sodass nicht ganz klar ist, wozu es das alles überblickende verglaste Büro auf der Vorderseite braucht. Vielleicht waren die Nutzflächen früher einmal anders angeordnet, oder es ist eine veränderte Einteilung für die Zukunft geplant.

Oder: das Fabriklein hat längst zugemacht, aufgekauft von einem dicken Konzern, und das Fräulein hat man einfach vergessen. Vielleicht ist ihr Gehaltszettel zwischen denen von 5000 weiteren Konzern-Mitarbeitern an anderen Standorten versunken und der Wareneingang ist gar kein Wareneingang, sondern der Zugang zu Abstellflächen für veraltete Ersatzteile, die der neue Eigentümer noch nicht wegwerfen möchte. Dem Fräulein auf der Vorderseite erscheinen aber Bewegungen im Bestand, und unberührt vom Treiben da draußen werden diese von ihr gewissenhaft verbucht und auswertet, wie sie es immer getan hat, und ihre Listen verschwinden vielleicht in den Tiefen eines Verzeichnisses, von dem niemand weiß außer sie selbst.

Dies ist der momentane Status meiner Überlegungen. Jeden Morgen sinne ich ein paar Minuten lang darüber nach, wie alles sein könnte, so wie andere im Yogasitz oder beim Gebet verharren, um inspiriert in den Tag zu kommen.

Und was begegnet euch auf dem Weg zur Arbeit?

Der Morgen macht den Tag

Um Omelett, Müsli, Orangen-Melonen-Ananas-Trauben-Berge und einen halben Liter Kaffee in einem einzigen Magen – man isst sich blöd an diesen Buffets – ein bisschen zu verteilen, mache ich nach dem Frühstück immer einen Spaziergang am Strand. Während der geliebte Brite wie die meisten andern hier auf dem Fahrrad durch das mallorcinische Hinterland tourt, wandere ich durch feuchten, jungfräulichen Sand, von dem alle Spuren weggespült sind, und auch meine Fußtapper werden nach mir sogleich wieder eingeebnet. In der Ferne steigt feiner Dunst aus dem türkisfarbenen Wasser und verwischt die Bergketten der Bucht von Alcudia.

Das Meer schnauft lärmend vor sich hin, schiebt flache Wellen zum Strand, auf denen die Sonne tanzt. Ich schaue zu, wie sich das Wasser an meinen nackten Füßen bricht und überlege, ob das eine Blasenentzündung nach sich zieht. Ach was, ich bewege mich ja, und so pflatsche ich weiter, über zwei Stunden jeden Tag, und halte das Gesicht in den Wind, bis meine Lippen salzig schmecken.

Das ist das wahre Leben.