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Achte auf deine Linie

Zoé fragte vor einiger Zeit, wo man sich auf einer gedachten Linie zwischen Geburt und Tod sehe. Ich antwortete, ich sehe mich überhaupt nicht auf einer solchen Linie, sondern darüber; die Vorstellung, direkt auf der Linie zu sitzen, fühlt sich für mich falsch an. Zoé fand das interessant und überlegte, was ein Psychologe dazu wohl meinen würde. Also fragte ich einen.

Die Antwort: In der Psychologie gibt es keine Linie zwischen Geburt und Tod, sondern Wellen. Eine gerade Linie stellt Zeiteinheiten dar, Jahre oder Jahrzehnte. Die Lebenslinie besteht aus besseren und schlechteren Zeiten. Dies hatte ich also gesehen und meine Positionierung deutet darauf hin, dass ich mich derzeit deutlich über dem Durchschnittsniveau befinde.

Das ist so richtig wie sonderbar. Trotz Umzug und Jobverlust fühle ich mich tatsächlich energetisch aufgedrillert und positiv. Die Wohnung ist schön geworden, es gibt Perspektiven für meine Zukunft, und vielleicht hat auch meine Mutter gerade nichts zu tun dort oben und hält mir die Hand.

Wie ist es bei euch? Wenn euer Leben eine Wellenlinie ist – wo befindet ihr euch im Moment?

 

Linie-3

Platz frei

Gestern habe ich

– zum letzten Mal vor der Hochschule geparkt
– zum letzten Mal in einem Büro darin den Computer hochgefahren
– zum letzten Mal dort eine Tasse Kaffee getrunken
– zum letzten Mal mit den Kollegen gequatscht und herumgealbert
– zum letzten Mal den Computer ausgeschalten
– zum ersten Mal geheult, als ich die Ausgangstür aufdrückte und das Gebäude verließ.

Danach ging ich zum Friedhof. Die Pflanzen auf dem Grab meiner Mutter blühen immer noch üppig und ich zog – nach fast drei Monaten – die Trauerbänder aus den Schalen. Die Sonne ließ die Umrisse der Bäume, die weiter vorne am Weg entlang eine Arkade formen, zu einem Lichtkranz aufleuchten. Darunter blieb es trüb, und aus dieser Düsternis heraus tauchte ein Mann auf. Er trug einen schwarzen Mantel und hielt mit starrer Geste ein Holzkreuz in die Höhe. Mehrere dunkel gekleidete Menschen folgten ihm, der kleine Zug kam mir langsam entgegen. Mich schauderte, ein scharfer Wind blies mir die Haare aus dem Gesicht, die Sonne wärmt nicht mehr. Ich zupfte noch ein paar trockene Blättchen ab und machte mich auf den den Heimweg.

Meertau hat kürzlich in einem Kommentar etwas Mutmachendes geschrieben: „Ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Wer ich mal werde, weiß ich noch nicht. Aber der Platz für mich ist schon frei.“

 

Wolken (2)

Abb. © SylviaWaldfrau Weiterlesen

Veränderungen

Heute Nacht habe ich auf dem Sofa geschlafen. Gestern Nacht auch. Dieser Umstand liegt in direktem Zusammenhang mit der Tatsache, dass ich kein Bett mehr habe. In meinem Bett liegt jetzt ein sechzehnjähriger Junge, „90 kg schwer!“ laut Aussage der Mutter, die fröhlich plaudernd mit dem Kindsvater zusammen mein Bett abtransportierte. Ich liebe Ebay Kleinanzeigen! Vorausgesetzt, man will nicht reich werden damit, wird man alles los und ich bin froh für jedes Stück, das ich nicht mitnehmen muss. Mein Bett ist also verkauft. Unter anderem.

Ich könnte freilich in der neuen Wohnung schlafen, dort ist alles bereit – auch ein Bett. Und ein Mann, der es vorwärmt, der geliebte Brite, mit dem ich künftig mein Leben und die Wohnungskosten teile. Aber noch bin ich hier, in meiner eigenen, halb leeren Wohnung, zwischen Schachteln und Zeug. Ich will das Chaos um mich haben, ich will das Ende der heimischen Wohnkultur einläuten, ich will den Niedergang. Damit ich es glaube.

Ein bisschen ist es wie nach dem Tod meiner Mutter, als sie in der Aussegnungshalle lag. Ich ging jeden Tag zu ihr, damit sie nicht so allein ist – und damit ich es glaube. Ich brauchte diese Zeit, um mich damit auseinanderzusetzen, man stirbt nicht von einem auf den andern Tag. Und man zieht nicht in ein paar Stunden um. Deshalb muss ich in meiner Wohnung bleiben und noch ein paarmal auf dem Sofa schlafen.

Sofa (2)

Stadtbilder

Da wo ich wohne, gleicht kein Haus dem andern. Die Straßenzüge sind gewachsen und nicht angelegt wie ein Zierteich. Sie sind wie ein uralter See, der sein Bett durch vielmaliges Überfließen und Eintrocknen so oft veränderte, bis es richtig war. Hier gibt es Fachwerk und Villen aus vergangenen Jahrhunderten, deren Eigentümer in die Stadtgeschichte eingingen. Nicht weit davon stehen Reihenhäuser und eine Mietskaserne aus der Nachkriegszeit, billig hochgezogen für die Flüchtlinge aus Schlesien oder dem Sudetenland. Ich gehe fast jeden Tag durch die Straßen und blicke an diesen Häusern hoch, auf ihre Persönlichkeiten, ihre Geschichten. Ich schaue in die Winkel und Nischen, über Mäuerchen und Einfassungen mit zaunhohen violetten Herbstastern. Unvermittelt tauchen Schuppen und überwachsene Einfahrten auf, Holzstapel und eine rote Kinderschaukel. Ich atme den Geruch der feuchten, kalten Erde aus den Gärten. Manche Menschen finden Kraft im Wald, in den Bergen oder am Meer. Ich auch. Und hier, in diesen holprigen, gewunden Straßen.

Manches möchte man in eine Tasche stecken und mitnehmen können.

 

Wandschale

 

Wohngeister

„Betreten verboten“ steht auf dem Schild an einem Bauzaun, an dem ich achtlos vorübergegangen wäre, hätte ich nicht vor ein paar Jahren dahinter gewohnt. Zwischen den Metallstäben sehe ich die Forsythienbüsche neben der Haustür, den alten Briefkasten aus Blech, das undichte Fenster im Treppenaufgang. Aber das Fenster ist nicht mehr da. Das ganze Haus ist nicht mehr da. Vor mir liegt eine lehmige Baugrube, die im Nieselregen nass und fettig glänzt. Trotzdem sehe ich die alten Wände und Mauern und sogar mich selbst, wie ich durch die Räume gehe, und die Schatten der jungen Leute, die nach mir einzogen, sehe ich auch. Was bleibt von Menschen in einem Haus? Man nimmt seine Sachen und geht, aber vielleicht gibt es Wohngeister, die über die Jahre entstanden sind und bei einem Umzug einfach auch mal bleiben wollen. Ich habe dort gern gewohnt. Und nun irren die Geister umher wie Ameisen, denen jemand den Bau eingetreten hat.

 

San_Gimignano

(Gesehen in San Gimgnano, Toskana)

Passend zum Thema auch eine verträumte Kreation von Ulli.

Rätselcamp

Wenn ich mit dem Rad in die Morgensonne fahre, führt mich mein Weg an einer großen Wiese vorbei. Die wird seit kurzem von Fahrzeugen und Wohnanhängern eingefasst. Zwanzig oder dreißig sind es wohl und sie kommen aus Karlsruhe und Landau, nicht aus der Gegend also. Die Mitte des Platzes liegt frei mit Ausnahme eines einzigen, großen Zelts. „Jesus liebt dich“ steht über dem Eingang. Eine Sekte?

Neben den Vorzelten liegen Kissen und Decken zum Lüften aus, auf ein paar Leinen tanzt Wäsche im Wind, Leute sieht man kaum. Nur zwei kleine Mädchen in Nachthemden kriechen aus einem der Reisemobile, es ist noch früh.

Später am Tag, auf der Heimfahrt nach der Arbeit, beobachte ich einen schwarzen Porsche auf dieser Wiese. Langsam rollt er an den andern Fahrzeugen vorbei, Münchner Kennzeichen. Der Guru?