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London

Eigentlich ist unser Ausflug nach London schon wieder vorbei, aber ich nehm euch einfach nachträglich mit. Schaut mal:
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Dann war da noch der Besuch beim hochbetagten Onkel und der Tante des geliebten Briten. Ich bin ich wieder einmal von den Aufenthaltsräumen eines Pflegeheims überrascht. Teppiche, Plüsch und dunkles Holzmobiliar, überall rafft und rüscht es sich, im Speisesaal hängen kronleuchterähnliche Lampen und beim Abendessen sieht es aus wie bei einer festlichen Einladung. Dabei handelt es sich um eine ganz durchschnittliche Einrichtung. Bei uns sind solche Räume weiß getüncht, funktional, abwaschbar.

Wir trafen uns außerdem mit dem Neffen und dessen Freundin. Das Mädchen erzählte, dass ihr Vater sich kürzlich weigern wollte, einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Die Kinder seien erwachsen, es sei mühsame Arbeit, nicht nötig für die paar Tage. Aber alle protestierten und der Weihnachtsbaum kam zum Einsatz wie jedes Jahr. Interessant ist das Detail, dass die Familie der Freundin Hindus sind, ich glaube die Eltern stammen aus Indien. Mit den Anlässen zum Feiern nicht man es aber nicht so genau. Ob sie auch Weihnachtslieder singen, habe ich vergessen zu fragen.

 

So ist das Leben

Ich sitze bei meiner Mutter im Aufenthaltsraum, der Duft nach Kartoffelbrei und Bratensoße wabert in unsere Nasen, bald gibt es Essen. Sechs Bewohner und Bewohnerinnen haben an dem Tisch Platz genommen, an dem wir sitzen, Rollatoren parken an der Wand. An einem weiter entfernt stehenden Tisch beugt sich ein ausgemergelter kleiner Mann über einen Trinkbecher, in dem ein Strohhalm steckt. Der Mann ist allein am Tisch, niemand wurde zu ihm gesetzt und jeder weiß, warum.

Vor einigen Wochen, als ich meine Mutter ebenfalls in der Mittagszeit besucht hatte, war dieser Mann an ihren Tisch geschoben worden. Kaum hatte sich der Pfleger entfernt, begann der Mann geräuschvoll und ohne vorgehaltene Hand zu husten. Er hustete immer stärker, quer über den Tisch. Er hustete, als ob sein Leben davon abhinge, die höchstmögliche Lautstärke zu produzieren und es schien, als ob in seiner Brust nichts zu finden sei, das diesen Husten rechtfertigen könnte und er ihn deshalb gewaltsam herauspresste, sodass seine Augen hervortraten und das Gesicht rot anlief, wir hatten alle Angst, dass gleich ein Lungenflügel mit herausschießen und neben den Blumendekorationen oder gar auf einem der Teller landen würde.

Angesichts dieses Spektakels kam das Plaudern am Tisch zum Erliegen. Nur eine kurzatmige Frau murmelte vernehmlich zu ihrer Sitznachbarin: „Wer ist das? Der sitzt doch sonst nicht bei uns?“ Da hörte der Mann plötzlich auf zu husten und schnappte nach Luft, als hätte der Sinn des Ganzen einzig und allein darin bestanden, die Wahrnehmung der anderen auf sich zu lenken, auf welche Art auch immer. Alle richteten verstohlene Blicke auf ihn, doch dann entlud sich eine neue Welle dieses fürchterlichen Hustens. Die Frau sah ihn jetzt ärgerlich an und sagte: „Hören Sie doch auf, es wird einem ja schlecht.“

Seither gehört der Husten des neuen Bewohners zum Hintergrundgeräusch hier. Inzwischen wird das Essen verteilt, der Servierwagen bewegt sich zwischen den Tischen, ich verabschiede mich. Als ich an der Verbindungstür angekommen bin, wende ich mich noch einmal um zu meiner Mutter. Sie sitzt aufrecht da und schaut mir mit einem konzentrierten Blick hinterher, als wolle sie sagen: „So ist das Leben. Man kann sich nicht alles aussuchen.“

Ich muss lächeln und winke ihr noch einmal zum Abschied. Im Augenwinkel sehe ich den Mann, der wieder zu husten beginnt. Ein Mädchen hat sich inzwischen zu ihm gesetzt und hilft ihm beim Essen.

Bekannt- und Fremdwerden

Um in das Zimmer meine Mutter zu kommen, muss ich den Aufenthaltsraum durchqueren. Heute riecht es nicht nach Mittagessen wie sonst, sondern nach Kaffee. Ein rüstiger Mann hockt auf einem der Sofas. Sein Blick folgt mir, als ich ihn grüße und er ruft: „Helfen Sie mir beim Aufstehen, ich muss gehen. Man lässt mich nur nicht.“ Das sagt er jedes Mal. „Ich schicke Ihnen einen Pfleger“, antworte ich wie immer. Am Fenster blättert eine Frau mit einer spastischen Lähmung mit spitzen Fingern in einer Zeitschrift. Ich sehe sie gelegentlich vor der Tür beim Rauchen.

Ganz hinten sitzt an einem der Tische eine andere Frau, klein und schmächtig. Sie schaut in den Raum, ohne ihn wahrzunehmen, als denke sie über etwas nach. Ich betrachte sie aus dem Augenwinkel und frage mich, was der heutige Tag ihr bedeutet. Ob sie traurig ist oder nur wartet. Ob Eindrücke in ihr Bewusstsein dringen oder abfließen wie Seewellen, die gegen eine Klippe schlagen.

Ich bin schon fast an ihr vorbei und wende mich noch einmal um, da sehe ich erst: Es ist meine Mutter. Sonst liegt sie bei meinen Besuchen im Bett zur Mittagsruhe, aber heute bin ich später dran. Man hat sie in den Rollstuhl gesetzt, unter die Leute gebracht, und ich hätte sie fast nicht erkannt. Bestürzt setze ich mich zu ihr, lege kurz den Arm um ihre mager gewordenen Schultern. Sie lächelt, und das kommt mir wieder bekannt vor.

 

Angenehme Zusammenarbeit

Ich trete ins Zimmer meiner Mutter, weil es in der Verwaltung ein paar Dinge zu besprechen gibt, wo sie dabei sein sollte. Deshalb sind eine Pflegerin und ein Pfleger mit mir gekommen. Zu zweit heben sie meine Mutter aus dem Bett und setzen sie behutsam in den Rollstuhl, dann verschwindet das Mädchen wieder. Der Pfleger holt eine Haarbürste aus dem Bad und ordnet ihre Frisur, stellt sich vor sie hin und prüft ihren Anblick wie Guido Maria Kretschmer das Outfit einer Shopping Queen.

Als er zufrieden ist, legt er die Bürste weg, beugt sich zu meiner Mutter hinunter und hält seinen zur Seite gedrehten Kopf nah an ihr Gesicht, als solle sie ihm etwas ins Ohr flüstern.

„Na?“ fragt er und verharrt in der Stellung.

Ein paar Augenblicke passiert nichts, dann ruckt sie plötzlich mit dem Gesicht ein wenig nach vorne und drückt dem Pfleger einen Kuss auf die Backe. Einen Sekundenbruchteil lang gehe ich im Geist Kategorien durch wie Veralberung, Respektlosigkeit, Show usw., finde aber nichts Passendes und ordne das kleine Ereignis dort ein, wo es wahrscheinlich richtig ist: Jemand will einer Frau, der nicht mehr viel geblieben ist, das Einerlei ihres Alltags versüßen. Die machen das offenbar öfters.

Der junge Mann grinst jetzt und richtet sich wieder auf, meine Mutter schmunzelt ein wenig, und ich lache laut auf. Wer weiß, wie gekonnt meine Mutter früher die Männer schalu gemacht hat, der kann schwer glauben, dass sie hier etwas gegen ihren Willen tut.

Also ich hab mir gedacht: Wenn ich einmal alt bin – möchte ich auch in diese Pflegeeinrichtung. Und dann küss ich alle Pfleger. Yeah.

Spurenfinden

Unter den Sachen, die ich von meiner Mutter mitgenommen habe, finde ich auch Briefe. Ihr Vater schrieb sie vor über siebzig Jahren an seine Frau – meine Großmutter – und gelegentlich an sein Töchterchen, meine Mutter. Auch Fotos sind dabei, auf denen ein attraktiver, lebenslustiger Mann posiert, den ich sicher gern gehabt hätte. Schade, dass ich ihn nie kennengelernt habe. Der letzte Brief kam 1946 aus einer Lungenheilstätte, wenige Wochen vor seinem Tod.

Damit diese Briefe auch von meinen Geschwistern und Kindern gelesen werden können und das mürb gewordene Papier nicht darunter leidet, beschließe ich, sie zu digitalisieren. Einen nach dem andern ziehe ich aus dem Umschlag und lege die vergilbten Bögen vorsichtig in den Scanner. Was mein Großvater wohl denken würde, wenn er mich dabei sehen könnte? Er wäre vielleicht überrascht, dass die Briefe so lange überdauert haben. Dass seine Enkelin sie aber in einen sirrenden Kasten legt und die Schriftzeilen danach ohne weiteres Zutun in einem großen Bilderrahmen auf dem Schreibtisch erscheinen – das hätte er wahrscheinlich nicht einordnen können. Er wäre wohl davon ausgegangen, dass die Menschen Zaubern gelernt haben.

Mir ist, als stünde mein Großvater jetzt im Raum und schaute mir über die Schulter zu. Es fühlt sich leicht und selbstverständlich an. Ich stelle mir vor, wie ich ihm den Scanner so gut wie möglich erkläre und dass es nichts mit Hexerei zu tun hat, was ich da mache. Er steht die ganze Zeit hinter mir wie in einer dieser Science-Fiction-Komödien und schüttelt ratlos grinsend den Kopf.

So bin ich ihm – irgendwie – doch noch begegnet.

 

Ferdi5n

Schicksal

Wenn man eine Wohnung auflösen muss, findet man viele Habseligkeiten, die eine Entscheidung notwendig machen. Behalten? Fortwerfen? Ebay 3-2-1 deins? Eine halbe Socke zum Beispiel. Was tut man damit? Das erste Bündchen ist gestrickt, dann wurden die Finger meiner Mutter zu kraftlos. Oder sie verlor am letzten Zeitvertreib, den sie noch pflegen konnte, einfach die Lust.

Ich hätte diese Wolle nicht ausgesucht: mehrfarbig in Rot und Braun, vielleicht hat eine Freundin sie ihr mitgebracht. Ich gebe die halbe Socke trotzdem nicht in den Müll, sondern stecke sie gedankenverloren in einen Korb mit anderem Kram. Zu Hause liegt sie dann eine Weile herum, weil ich noch unschlüssig bin, was ihr Schicksal betrifft. Eines Abends aber setze ich mich hin und stricke sie weiter.

Das Muster sieht nicht mal schlecht aus, nur die Ferse kriege ich wieder nicht richtig hin. Meine Mutter beherrschte es perfekt, sie hätte mir mal zeigen sollen, wie das geht. Strickanleitungen aus Magazinen kapiere ich nämlich nicht. Ich hätte auch fragen können. Aber man meint ja immer, das hat Zeit.

Wenn die Socken fertig sind, bringe ich sie ihr ins Pflegeheim.

 

Socke (l)

 

Ein Leben im Wohnzimmerschrank

Ich muss jetzt in fremden Sachen wühlen. Sortieren, was mir nicht gehört. Überlegen, was meine Mutter noch braucht in der Pflegestation. Die Wohnung muss so schnell wie möglich geleert werden, denn die Miete ist hoch, der monatliche Pflegesatz noch höher.

Ich finde Schreiben und Dokumente, die mich nichts angehen. Mappen mit der Aufschrift „Privat“. Verschlossene Umschläge. Ein rotes, schnörkelig verziertes Schnapsglas mit Goldrand, das ich noch aus meiner Kindheit kenne. Sie hat ihren Gästen Slibowitz darin eingeschenkt oder Ouzo, oder Jim Bimm, wenn sie an den Wochenenden Party machte. An die Namen dieser Getränke erinnere ich mich gut.

Zwischen Papierstapeln liegt ein Seidenbild. Es stammt aus den Anfängen ihrer Zeit als Hobbykünstlerin, bevor sie Aquarell, Öl und Acryl entdeckte. Sie belegte hunderttausend Kurse und es gibt eine schier endlose Zahl an Werken, die daraus hervorgingen. Gemälde in Pink, Gelb und Blau, aber auch zarte Blumenbilder in unterschiedlichsten Farben und Techniken hängen bis heute an der Wand. Der Rest lagert im Keller. Den muss ich auch noch ausräumen.

Eine um die andere Schachtel oder Blechdose ziehe ich aus den Fächern, ordentlich verstaute Utensilien, Unterlagen, Schnickschnack. Jedes Ding hat seinen Platz. Genauso sieht es in meinen Schränken und Schubladen aus.

Was für eine traurige Einstimmung auf das Weihnachtsfest ist das in diesem Jahr.

Die Nachricht

Wenn ich diesen Klinikbesuchen überhaupt etwas abgewinnen kann, dann ist es die Architektur des Gebäudes. Jahrelang wurde es renoviert und erweitert, das Ergebnis ist spektakulär. Über lange Flure gelange ich von einem Wartebereich zum nächsten, viele Meter hohe Hallen mit Wänden aus Beton, Glas und sparsam eingesetzten Naturholzflächen, damit der Blick etwas zum Festhalten hat. Vereinzelt tauchen Stuhlreihen auf, Hartplastik, Chrom, streng geometrische Anordnungen, über denen wagenradgroße Leuchtscheiben schweben wie Ufos.

Ich habe mehrere Flügel hinter mir gelassen und finde die Station. Dort lerne ich ein neues Wort kennen: Pflegeüberleitung. Ich kenne Verhinderungspflege, Kurzzeitpflege, Ersatzpflege, Pflegebegleitberichte, Diagnoseberichte, Pflegestufe, MDK und manches mehr. Pflegeüberleitung kenne ich noch nicht.

Zunächst setzt man mich aber in einen Schrank. So fühlt es sich jedenfalls an auf dieser mit weißem Leder bezogenen Bank, die in einer Aussparung der Wand neben der Anmeldung eingelassen ist. Eins dieser modernen Sitzelemente, die es hier überall gibt und auf dem ich einen Augenblick warten soll. Die Sicht ist auf ein Stück kalkweiße Wand beschränkt, an deren oberem Rand sich eine Reihe von Steckdosen befindet, darunter eine Tür mit der Aufschrift: „Hier finden Sie unsere Blumenvasen“.

Die Stationsleiterin setzt sich zu mir. Sie nimmt sich Zeit. Pflegeüberleitung ist, wenn die Rückkehr aus dem dem Krankenhaus in die eigene Wohnung nicht möglich ist, weil dort keine ausreichende Versorgung mehr gewährleistet ist. Dann muss man einen Pflegeplatz suchen. Es sind nun einmal alarmierende Wassereinlagerungen dazu gekommen, und wenn die Medikamente nicht konsequent eingenommen werden und der körperliche Zustand nicht ständig überwacht wird, erreicht es die Lungen. Dann wird sie ertrinken.

Betäubt schleiche ich in das Zimmer, in dem meine Mutter liegt. Ich betrachte die nagelneuen Möbel, schaue zum Fenster hinaus, hinunter auf die Stadt im versinkenden Nachmittagslicht.