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Schiefgeloffen

(wie der Schwabe sagt)

Neulich auf dem Weg zurück in die Firma, wir waren zu einem Workshop an einem anderen Standort gewesen. Kurz vor dem Ziel …

… kenne ich eine Abkürzung und lotse die Fahrerin dorthin. Leider stellt sich heraus, dass die Straße gesperrt ist und wir müssen zurück auf den normalen Weg.

… will eine Kollegin ihre Vorbestellung in einer Metzgerei abholen. Leider hat das Geschäft – trotz Terminabsprache – geschlossen und wir haben den Schlenker umsonst gemacht.

… will eine andere Kollegin eben noch Geld abheben. Leider ist der Bankomat defekt und auch dieser Schlenker war für die Katz.

Das alles innerhalb von zehn Minuten, und ich habe es mir nicht ausgedacht!

Bild von Ryan McGuire auf Pixabay

Was denkt ihr – gibt es Pechsträhnen, oder sind das reine Zufälle?

 

Bei einem Pint Bier

Abends fand man uns in diesem Urlaub meist in einem der Pubs. Hier trifft man Menschen, die man sonst niemals trifft. Einmal kommen wir mit einem Mann ins Gespräch, der an der Theke lehnt, während wir auf unser Bier warten. (Es wird hier ja nicht serviert – man holt sich sein Getränk selbst und bezahlt auch gleich). Der Mann ist um die Vierzig, trägt eine dicke Jacke und hat stark verfärbte, lückenhafte Zähne. Wir unterhalten uns ein wenig und erfahren, dass er aus dem Stadtteil Luten stammt. Luten ist eine der heruntergekommensten Gegenden Londons.

Der Mann erzählt, dass er dort keine Arbeit finden konnte, weil es schon lange keine Jobs mehr gibt. Die großen Unternehmen haben dichtgemacht und sind woanders hin. Als er sechzehn war, starb die Mutter, den Vater erwähnt er nicht.  Inzwischen sei er obdachlos, sagt er. Er hat aber keinen schlechten Geruch an sich, das Haar ist geschnitten, das Gesicht frisch rasiert und er wirkt nicht schmutzig. Wenigstens kann er sich irgendwo waschen und wohl auch dort schlafen. In Luten sei er schon Jahre nicht mehr gewesen.

Aber dann spricht er begeistert über die großartige Geschichte Londons. Er kennt historische Ereignisse und Persönlichkeiten, liebt die jahrhundertealten Traditionen und ist stolz auf „seine“ Stadt. Er wolle nirgendwo anders leben, sagt er, und sein ganzes Gesicht leuchtet. Schließlich empfiehlt er uns ein paar Clubs in der Umgebung und wir verabschieden uns mit Handschlag. Dabei bittet er um etwas Kleingeld für den Bus. Ich krame ein Pfund aus der Tasche.

Es ist oft nur eine Fügung des Schicksals, auf welcher Seite des Lebens wir landen.

Es gibt keine Sicherheit

Wir kennen die üblichen Bedrohungen: Infektionen, Rückenleiden, Herzinfarkt – die Medien sind voll davon. Doch wenig Fett und viel Bewegung (auch darüber liest man viel) bewahren uns davor – wir können uns schützen.

Anders sieht es bei Opfern von Straftaten aus. In der Öffentlichkeit wird weit weniger beleuchtet, was gegen Räuber und Gewaltverbrecher zu tun ist und  man sucht vergeblich nach Ratgebern wie „7 Tricks zum Schutz vor Mördern“. Allerdings ist die Gefahr, durch ein Messer oder Bombenattentat ums Leben zu kommen auch weitaus geringer. Viel häufiger sterben wir an Krebs oder bei einem Unfall, aber trotzdem rauchen wir weiter, trinken Alkohol, fahren jeden Tag Auto und gelegentlich Ski. Es gibt ja genug Menschen, denen es auch nicht schadet – wir können uns beruhigen.

Nur beim Verbrechen funktioniert diese Beschwichtigungsstrategie nicht, denn: es tritt am wenigsten häufig ein. Deshalb haben wir am meisten Angst davor, denn wir sind nicht daran gewöhnt.

„Kein Mensch darf sagen: Solches trifft mich nie.“
(Menander, griechischer Dichter, 342 – 291 v. Chr.)

Wir leben in einem der sichersten Länder, und doch ist auch bei uns jeder Tag unberechenbar.  Sicherheit ist eine Illusion, und so war es schon immer. Schicksalsschläge gehören nicht erst seit den Terrorangriffen zum Leben. Gegen die Angst davor hat früher Beten geholfen, aber das ist aus der Mode gekommen. In der modernen Zeit wird mit der Angst Geschäfte gemacht, und sie laufen gut – wir sollten uns nicht davon kirre machen lassen!

 

Zufall?

Bella-Isola

Zoé hat in einem ihrer Beiträge kürzlich etwas zum Thema Zufälle geschrieben. Ich kann auch einen beisteuern, und das war am letzten Donnerstag. Wir trafen die Vorbereitungen für die bevorstehende Reise, bei der wir eine Englisch-Konversationsgruppe der Volkshochschule durch London führen würden. Es war alles beisammen und der geliebte Brite hatte gerade die Flugtickets für die Teilnehmer ausgedruckt, nur meins fehlte noch. Da ging der Drucker kaputt. Wir machten eine Weile herum, aber egal was wir versuchten – mein Ticket ließ sich nicht lesbar ausdrucken.

Etwa eine Viertelstunde später rief jemand vom Pflegeheim an: Man müsse mir leider mitteilen, dass vor wenigen Minuten meine Mutter verstorben sei.

Nun muss der geliebte Brite die Gruppe in England alleine betreuen.
Und ich brauche kein Ticket.

So ist das Leben

Ich sitze bei meiner Mutter im Aufenthaltsraum, der Duft nach Kartoffelbrei und Bratensoße wabert in unsere Nasen, bald gibt es Essen. Sechs Bewohner und Bewohnerinnen haben an dem Tisch Platz genommen, an dem wir sitzen, Rollatoren parken an der Wand. An einem weiter entfernt stehenden Tisch beugt sich ein ausgemergelter kleiner Mann über einen Trinkbecher, in dem ein Strohhalm steckt. Der Mann ist allein am Tisch, niemand wurde zu ihm gesetzt und jeder weiß, warum.

Vor einigen Wochen, als ich meine Mutter ebenfalls in der Mittagszeit besucht hatte, war dieser Mann an ihren Tisch geschoben worden. Kaum hatte sich der Pfleger entfernt, begann der Mann geräuschvoll und ohne vorgehaltene Hand zu husten. Er hustete immer stärker, quer über den Tisch. Er hustete, als ob sein Leben davon abhinge, die höchstmögliche Lautstärke zu produzieren und es schien, als ob in seiner Brust nichts zu finden sei, das diesen Husten rechtfertigen könnte und er ihn deshalb gewaltsam herauspresste, sodass seine Augen hervortraten und das Gesicht rot anlief, wir hatten alle Angst, dass gleich ein Lungenflügel mit herausschießen und neben den Blumendekorationen oder gar auf einem der Teller landen würde.

Angesichts dieses Spektakels kam das Plaudern am Tisch zum Erliegen. Nur eine kurzatmige Frau murmelte vernehmlich zu ihrer Sitznachbarin: „Wer ist das? Der sitzt doch sonst nicht bei uns?“ Da hörte der Mann plötzlich auf zu husten und schnappte nach Luft, als hätte der Sinn des Ganzen einzig und allein darin bestanden, die Wahrnehmung der anderen auf sich zu lenken, auf welche Art auch immer. Alle richteten verstohlene Blicke auf ihn, doch dann entlud sich eine neue Welle dieses fürchterlichen Hustens. Die Frau sah ihn jetzt ärgerlich an und sagte: „Hören Sie doch auf, es wird einem ja schlecht.“

Seither gehört der Husten des neuen Bewohners zum Hintergrundgeräusch hier. Inzwischen wird das Essen verteilt, der Servierwagen bewegt sich zwischen den Tischen, ich verabschiede mich. Als ich an der Verbindungstür angekommen bin, wende ich mich noch einmal um zu meiner Mutter. Sie sitzt aufrecht da und schaut mir mit einem konzentrierten Blick hinterher, als wolle sie sagen: „So ist das Leben. Man kann sich nicht alles aussuchen.“

Ich muss lächeln und winke ihr noch einmal zum Abschied. Im Augenwinkel sehe ich den Mann, der wieder zu husten beginnt. Ein Mädchen hat sich inzwischen zu ihm gesetzt und hilft ihm beim Essen.

Es war so, bestimmt

Zum Thema seelische Verletzungen hat mir jemand etwas geschrieben, das ich gerne wiedergeben möchte:

„Beide werden lernen, dass niemand an dem Unfall ‚Schuld’ hat. Es musste so kommen – und alle haben etwas daraus zu lernen. Alle. Die Frau, die gestorben ist, wurde nicht getötet, sondern sie starb. Weil es Zeit für sie war. Auch wenn es hart klingt und auch wenn es für die Hinterbliebenen schwer ist – die Frau wäre genau in dem Moment so oder so gestorben. Das Universum wählte für sie den Unfall – es hätte auch etwas anderes sein können.“

Was hier Universum genannt wird, ist für mich Gott und für andere das Schicksal. Ich möchte es glauben: Es war so bestimmt. Denn der Unglücksfahrer stieg an diesem Tag nicht ins Auto und dachte bei sich: „Heute bringe ich jemanden um.“ Er war nur ein Teil dessen, was für diesen Tag vorgesehen war, genau wie seine beiden Mitfahrerinnen und unsere Buben.

In der Klinik waren wir heute von mittags bis abends, um da zu sein, wenn unser Kind aufstehen will. Er darf es nicht, versucht es aber immer und ist dann nur schwer zu beruhigen. Wenn er geschlafen hat und wach wird, ist er manchmal so durcheinander, dass er nichts versteht und nicht einsieht, warum er im Bett bleiben muss. Auf der Station ist am Wochenende aber wenig Personal und so passten wir auf ihn auf. Meine Tochter und ihr Freund kamen mit, und wir wechselten uns ab. Doch die meiste Zeit war er klar und fügte sich.

Möglicherweise kann er morgen doch operiert werden, weil vielleicht das Risiko zu groß ist, dass er bei einem seiner Aufstehversuche stürzt oder die Schrauben in seinem Bein sich lockern. Er könnte als Notfall gelten und die OP kann dann vorgenommen werden. Ansonsten muss der Fall vor Gericht und er könnte frühestens am Mittwoch operiert werden.Vor Gericht – ich kann es immer noch nicht fassen, dass fremde Menschen über einen körperlichen Eingriff entscheiden und nicht ich, die Mutter. Aber der Junge ist nicht bei klarem Verstand, kann also nicht selbst einwilligen, und da er volljährig ist, haben wir Eltern nichts mehr zu sagen.

Morgen wissen wir mehr.