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Zimmerreise 01/2021 – Collagen

Bei einer Zimmerreise geht es darum, die gewohnte Umgebung neu zu entdecken. Dazu werden Gegenstände in einem Zimmer nacheinander betrachtet und ihre Geschichte erzählt. Diese literarische Gattung gibt es seit dem 18. Jahrhundert. Zu meinen Zimmerreisen inspiriert mich ein Projekt von Pflanzwas und Puzzleblume, mehr dazu hier. Jeder kann teilnehmen und selbst auf die Reise gehen.

Im Januar soll das zu bereisende Objekt den Anfangsbuchstaben A, B oder C tragen.

Collage Feuerspeier

Es gibt nun doch eine Zimmerreise zu einer Station, die Erinnerungen an mein vergangenes Leben auslöst. Ich wollte das vermeiden, aber ich kann auch nicht so tun, als hätte es diese Zeit nicht gegeben. Außerdem habe ich nun einen Begriff mit C.

Es handelt sich um eine Collage, die ich niemals aufhängen würde. Sie liegt in einem Ordner im Wohnzimmer, zusammen mit anderen Werken, die davor und danach entstanden sind.

Auf der Rückseite steht: „Mein Leben geht in Flammen auf, meine Kraft verlodert, verglüht, es wird kalt.“

So war das letztes Jahr im Sommer.

Collagen halfen mir eine Zeitlang, das auszudrücken, was ich nicht in Worte fassen konnte. Wenn ein Bild fertig war, sah ich: „So ist es“, und konnte es ablegen.
Es tauchten neue Dämonen auf, auch diesen gab ich Gestalt in der gleichen Weise. Sie gaben Ruhe und die nächsten erschienen, immer wieder andere. Eine Zeitlang ging das so.

Am wichtigsten bei der Collagetechnik sind mir nicht die Motive, sondern der Hintergrund. Er bestimmt den Eindruck, die Stimmung. Es muss eine ruhige Fläche sein, damit sie nicht von den aufgeklebten Elementen ablenkt. Die Farbe muss der seelischen Verfassung entsprechen, in der ich mich gerade befinde, nur dann wirkt das Ergebnis „therapeutisch“.

Der Hintergrund war deshalb das Einzige, was ich später nicht mehr dem Zufall überließ, d.h. ich nahm nicht mehr das, was gerade da war. Man findet in Publikationen sowieso kaum etwas Ganzseitiges mit sparsamem Design und wenn, dann nicht in der Farbe, die gerade gebraucht wird.

Also stellte ich die Hintergründe selbst her. Ich kopierte dazu einen Ausschnitt aus einer Bilddatei mit Mauer, Himmel, Sand oder was immer, vergrößerte ihn auf A4 und druckte es aus. Dann schnitt ich aus Zeitschriften, Reklameblättchen, Flyern usw. Motive aus, die mich ansprachen.

Egal was man auf einen verhaltenen Hintergrund auflegt: es erzeugt immer einen Effekt, ein kleines Oh-Erlebnis, und auch das half mir: Etwas zu kreieren, was mich berührte.

Der Feuerspeier war meine letzte Collage mit Farben, ihre Einzelteile stammen aus einem Modeprospekt. Die nachfolgenden Werke wurden überwiegend grau und schwarz.

Eines Tages werden wieder Bilder entstehen, auf denen die Sonne scheint. Deshalb darf der Ordner mit diesen Bildern nicht in den Keller wandern, er muss im Wohnzimmer bleiben. Denn die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende.

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(379 Wörter)

Sonntagnachmittag: Konzeption und Umsetzung

Magische-Saeule

1. Variante: Mit oder ohne Begleitung einen schönen Ort aufsuchen, Eis essen, auf einer Bank sitzen, in die Sonne schauen, spazieren gehen, Capuccino trinken, heim fahren, „schönen Tag gehabt“ sagen, wenn jemand anruft.
2. Variante: Von einem Stadtrat abgeholt werden, gemeinsam zu Mittag essen, Spazierfahrt in der Kutsche, nach Hause gebracht werden, Abschiedskuss, „schönen Tag gehabt“ sagen, wenn jemand fragen würde.

Es fragt aber niemand. Und ohne Bestechung gäbe es auch keine sonntägliche Begleitung.

Was auf dem Bild den Anschein erweckt, als übe eine Turnerin das freihändige Sitzen auf dem Vorsprung einer Stahlkonstruktion, ist das Adelsfräulein Wendelgard. Sie lebte auf dem Weingut Haltnau zwischen Meersburg und Hagnau am Bodensee vor etwa 700 Jahren. Für ihre Sonntagnachmittage wählte sie die 2. Variante, obwohl das Fräulein der Sage nach durch einen Buckel und schweinsrüsselartigen Mund verunstaltet war. Sie wurde von den Menschen gemieden und bot in ihrer Einsamkeit deshalb den Meersburger Stadtoberen einen Handel an: Wenn sie jeden Sonntag von einem der Ratsherren ausgeführt würde, vererbe sie der Stadt ihr lukratives Weingut. Dies wurde ob des allzu grausligen Äußeren der Jungfer jedoch abgelehnt, und so wandte sie sich an Konstanz. Dort war man weniger zimperlich: Stadtoberhaupt und Rat fanden sich fortan im Wechsel zum sonntäglichen Dienst auf der Haltnau ein. Jahrzehntelang ließ sich Fräulein Wendelgard so die Zeit vertreiben und starb im Alter von 90 Jahren. Ihren Besitz vererbte sie wie versprochen den Konstanzern, die heute noch aus den Haltnauer Trauben den beliebten Konstanzer Spitalwein keltern.

WendelgardMagische-Saeule 2Die Skulptur ist eins der unberechenbaren satirischen Kunstwerke des Bildhauers Peter Lenk. Sie gehört zur „Magischen Säule“ an der Hafeneinfahrt von Meersburg, die noch andere Geschichten von Meersburg beleuchtet. Im Hintergrund des oberen Bildes sieht man die Burg.