Schlagwort-Archive: Sterben

Die Allee

Wenn ich einmal durch diesen Tunnel gehe, dann soll er so sein wie diese Allee. Die Kronen der Baumreihen schließen sich über mir, Licht fließt durch das Laub, auf den Feldern liegt dicker Wildkräuterflaum. Es riecht wie nach einem Regenschauer.

Wenn ich durch diese Allee gehe, sind auch andere Menschen unterwegs: zu Fuß oder mit dem Rad machen sie sich auf den Heimweg nach einem langen Tag. Ich bin nicht allein, und das ist gut. Weiter vorne, am Ende der Allee, wird es hell. Vielleicht wartet dort jemand, doch das ist nicht wichtig. Ich setze einen Schritt vor den andern, höre die Vögel singen, es ist ein warmer Tag.

So träume ich manchmal, wenn ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause durch diese lange Allee radle. An ihrem Ende befindet sich ein kleiner Friedhof. Neulich standen wieder Menschen an einem offenen Grab, die Sonne schien ihnen auf die Schultern.

 

 

Lebenskonzept

Neulich bei Netto: Die stark blondierte Kassiererin zieht Waren über den Scanner, eine ältere Kundin räumt eins nach dem andern in den Einkaufskorb.
„5 mal Sahne!“ ruft die Kassiererin fröhlich. „Da hamse zugegriffen. Recht so, ist’n günstiges Angebot.“
„Ach wissetse,“ sagt die ältere Frau, „ich kauf immer so viel Sahne. Mein Kätzle schleckt halt nix anderes. Milch lässt se stehen.“
„Na, die wird aber verwöhnt!“ lacht die Kassiererin.
„Naja“, meint die Frau lapidar, „wenns mal aus ist mit mir, kann ich ja nix mitnehmen. Soll des Miezle doch seine Sahne haben, wem schadets schon, gell?“

*

Nach dieser Maxime lebte auch mein Stiefvater. Heute ist er im Alter von 89 Jahren friedlich eingeschlafen. Gott hab ihn selig.

Besuch bei der alten Dame

Neulich in Liverpool bei der Mom des geliebten Briten: Wir wissen nicht mehr, was wir mit ihr reden sollen, sie kann keine einzige Frage beantworten. Nicht einmal, was es vor einer halben Stunde zum Lunch gegeben hat. Immer wieder schaut sie sich um und fragt, was sie hier wollte. „Am I right here?“

Der Brite bemüht sich weiter um seine Mutter, ich steige irgendwann aus. Mein Blick wandert durch die Visitor Lounge. Ein paar leere Sessel stehen herum, es sind keine weiteren Besucher anwesend. Vom Fenster her dringt kühle Luft herein, draußen fährt eine Ambulanz vor. Neben der Tür befindet sich eine verglaste Wand, durch die man in den angrenzenden Raum bicken kann. Dort sitzen sechs oder sieben BewohnerInnen dieser Pflegeeinrichtung an einem Tisch und essen. Eine von ihnen – die einzige Afro-Britin – weckt Erinnerungen in mir. Noch vor einem Jahr saß meine Mutter genauso da: schweigend, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Als denke sie über etwas nach.

Die Tochter hilft der Frau beim Essen. Dann steht sie auf und macht ihr die Haare: löst Zöpfchen, kämmt das grauschwarze Gekrissel, nimmt sich mit kleinen Seitwärtsschritten den ganzen Kopf vor und flicht die Zöpfe neu. Als alles fertig ist, sieht die Mutter aus wie eine altehrwürdige Fürstin aus der Antike. Sie spricht während der ganzen Zeit kein Wort. Ein wenig schief sitzt sie im Rollstuhl und lässt sich nun von der Tochter aus dem Raum hinausschieben, blicklos, als sei ihr Geist schon ein Stück vorausgegangen.

Heute jährt sich der Todestag meiner Mutter zum ersten Mal.

Liverpool

 

Vom Inneren und Äußeren

Manches im Leben lässt sich nicht sagen. Manches lässt sich nicht zeigen und glaubhaft machen. Wenn ein Mensch aber stirbt, kann es noch einmal eine Kommunikation geben, und dann wird alles klar. Das kann heilend sein, bei mir jedenfalls, nach dem Tod meiner Mutter. Ich überlege gerade, warum es im Leben nicht ging. Ich habe ja nichts Neues erfahren, als sie gegangen war. Es ist nur etwas weggefallen. Es ist, als ob ihr ein schwerer Mantel abgenommen worden wäre, und da sah ich das goldene Kleid mit den Herzen darauf. Sie trug es wohl schon immer.

Eins habe ich gelernt seither: Man kann einen Menschen auch anders sehen. Man kann ihn sich vorstellen, als verstellte nichts Äußeres die Sicht. Doch dieser Blick fällt auch wieder schwer, denn womöglich müsste man dann verstehen oder – schlimmer noch – verzeihen.  Das bringt die Dinge durcheinander, und drum will ich es auch nicht wissen. Nicht bei allen jedenfalls.

Willkommen

Wenn ich an meine Mutter denke, sehe ich sie kleiner, heller und weicher als früher. Sie befindet sich in einem langen Warteraum, an dessen äußerstem Ende sich eine Tür befindet. Dahinter ist Licht. Sie ist aber noch nicht durchgegangen, denn ich pfeife sie jedes Mal zurück, wenn sie das versucht. Dann kommt sie wieder nach vorne, wo ich sie sehen kann. Würde sie ins Licht gehen, wäre sie weg, und das kann sie später noch tun. Sie hat ja viel Zeit.

Außerdem ist da vorne etwas los. Meine Mutter hat sich über eine nebelartige Brüstung gebeugt und streckt die Hand nach unten. Dort schwebt seit Tagen eine andere Frau. Ihr Körper ist groß, fest und ganz glatt. Sie schaut unsicher nach oben und versucht, den Rand zu erreichen. Meine Mutter lacht und strahlt in goldenen Farben, versucht, die Frau hochzuziehen. So turnen die beiden eine Zeitlang herum und strecken die Hände nacheinander aus. Dann hat die Frau den Rand erreicht. Sie hält sich fest und wird nach oben kommen, vielleicht einen anderen Raum aufsuchen. Im Moment muss sie sich erst orientieren.

Diese Frau ist nun im selben Jahr wie meine Mutter geboren und gestorben. Sie bedeutet mir viel und ich hoffe, sie findet bald ihren Platz, und dass es ihr gut geht. Aber eigentlich zweifle ich nicht daran, denn meiner Mutter geht es ja auch gut.

Offenheit Abb. © Ursula Holly

Ich wünsche mir so sehr, dass sie da oben sind, dass ich sie wirklich sehe, dass ich mir das nicht einbilde und in Wirklichkeit ist gar nichts.

Das brennende Archiv

menschen gedenken eines menschen.
herz – brennendes archiv!
es ist erinnerung der engel;
erinnerung an alte gaben.
die formel tod, die überfahrt –
die wir zu übersetzen haben.

(Thomas Kling: Das brennende Archiv)

Gefunden in der Frankfurter Anthologie der FAZ, hier gibt es auch eine Interpretation.

Feuer

 

 

Wie im Himmel

Den – nicht ganz freiwilligen – Gedanken von Ulli möchte ich mit euch teilen, er tut nicht nur einem Kind gut. Heute werden wir die Asche meiner Mutter der Erde zurückgeben.

079  10.06.15 wie im Himmel

Oma …? Bist du jetzt eigentlich eine alte Frau?

M …  ich bin jetzt eine ältere Frau, aber ganz alt bin ich noch nicht, das werde ich erst-

Aber wenn du dann eine ganz alte Frau bist, kommst du dann in den Himmel?

(leise in mir: öhmmm – räusper) Mm … ja, ich glaube schon …

Und wenn ich dann eine ganz alte Frau bin, darf ich dann zu dir in deinen Himmel kommen?

(Puh, Gänsehaut, kleiner Klops wächst im Hals) Ja … dann darfst du in meinen Himmel kommen. Ich warte dort auf dich …

006 himmel bre

005 abendhimmel bre

004 abendhimmel bre

001 abendhimmel bre

Und mit jedem Sonnenuntergang komme ich „meinem“ Himmel ein Stückchen näher- am Ende ist oben gleich unten und unten gleich oben, ist es weit, ist es Licht …

085  12.06.15 Licht

P.S. Ausserdem ist der Film „Wie im Himmel“ absolut empfehlenswert (für die, die ihn noch nicht kennen bzw. noch nicht gesehen haben …)

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Himmelsweg

Die Erdfrau hält jetzt Blumen in der Hand und ein Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. Sie ist wunderschön. Ja, ich glaube, sie ist gut angekommen.

Ihr Lieben, auf diesem Weg ein großes, herzliches Dankeschön an alle, die mir hier oder auf anderem Weg die Hand gehalten oder an mich gedacht haben. Ich umarme euch jetzt einfach mal, auch wenns ein bisschen Geknuddel gibt!

unterwegs1Abb. © Ursula Holly

Einmal werde ich wegreisen
und nicht mehr wieder kommen.
Einmal werde ich frei sein, da zu gehen,
wo es keine Wege gibt.

Der Schlussstrich

Es ist nichts geworden aus dem Kaffee, den wir miteinander geplant hatten. Vielleicht plante ihn auch nur ich, wahrscheinlich sogar. Man tut, als ob nichts wäre und verabredet sich eben zum Kaffee. Im Juni, wenn ich nicht mehr arbeite und Zeit habe, auch tagsüber. „Ganz flexibel bin ich dann“, rief ich noch, als würde das Schlimme nicht eintreten, wenn ich es ignoriere.  Nun gut, um den Kaffee geht es nicht. 

Die Frau von Stefano traf ich nur ein einziges Mal. Obwohl wir uns nicht kannten, hatten wir viel miteinander zu reden, ich freute mich auf ein Wiedersehen mit ihr. Den Gedanken, dass es nicht dazu kommen könnte, hatte ich nicht. Wollte ich nicht haben. Erst jetzt. Sie starb heute Nacht.

Weitere Beiträge

Karfreitag

Glockengeläut am Nachmittag, um diese Zeit starb Jesus. Oder zu einer anderen, darauf kommt es nicht an. Auch nicht auf die Frage, wer Jesus wirklich war. Ob Gottessohn oder Spinner – es spielt keine Rolle. Die Menschen brauchten eine Botschaft, und aus religiösen, politischen und gesellschaftlichen Gründen kam sie zum Tragen. Jesus schreiben wir zu, dass er sie brachte: die Sache mit der Liebe, die sich gelegentlich als undurchführbar erweist. Vom Ansatz her ist es aber das, was uns zusammen hält. Was den Zwist in Familien beilegen kann, zwischen Nachbarn, und Ländern.

Heute denken wir an das Sterben von Jesus. Ob es eine gewöhnliche Geschichte war oder Bestimmung – darum geht es nicht. Wir denken an Endlichkeit. Es gibt kein Entrinnen, jeder kommt dran, und bevor wir da hängen in den letzten Minuten, sollte jeder sein Ding durchziehn. Auch diese Botschaft brachte uns Jesus.

Probleme sind relativ. Auch meine sind relativ – klein.

Ich winke von weitem. Vor unserem Stammcafe plaudert der Liebste mit Stefano. An einem der Tische sitzt eine Frau in der Sonne, in ihren Armen schläft Stefano’s Kind. Das ist sie also. Seine Frau. Vom Hörensagen kennen wir sie schon eine Weile, ich weiß, was mit ihr los ist. Begegnet sind wir uns noch nie.

Ich lache ihr zu, trete näher und stelle mich vor als „die Freundin des Engänders“. Ihr Gesicht hellt sich auf, ich setze mich zu ihr. „Wie geht es dir?“ frage ich. Die blödste aller Fragen. Sie kriecht mir in den Magen und kneift. Stefano’s Frau erzählt, dass sie gerade von einer Untersuchung kommt. Alle Behandlungen wirken nicht, man versucht jetzt etwas Neues. Sie berichtet darüber wie von einem Auto, das in der Werkstatt steht. Es ist ihr nicht egal, worüber sie spricht, doch sie macht kein Aufhebens darum. Ich unterhalte mich mit ihr, als ginge es um jemand anders. Unmöglich, dies hier zu Ende zu denken.

„Vor einem Jahr gaben sie mir noch 6 Monate,“ meint sie nach einer Weile und schiebt die Schildmütze zurück. „Inzwischen geben sie keine Prognosen mehr ab. Jedenfalls bin ich noch da.“

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