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Fluchtpunkt Nordwest

Manchester ist eine Stadt im Nordwesten von England. Sie war gestern der Startpunkt unserer Reise, die heute nach Newcastle weiterführt. Dazu später mehr.

Gestern war ich nur froh, hier zu sein, denn die letzten vierzehn Tage waren unerfreulich. Vielleicht bin ich nicht mehr deutsch genug für den Umgang mit Menschen, die beim Pochen auf Paragraphen eine feuchte Hose kriegen. Vielleicht bin ich nicht mehr jung genug, um Missgunst und Kleingeist abperlen lassen zu können. Ich sag nur: Eigentümerversammlung. Das muss reichen, weg damit. Ich bin jetzt hier, werde die nächsten zwei Wochen nicht nach Deutschland zurückkehren, … … und das ist gut so.

Energierückgewinnung

Einem Menschen über lange Zeit beim Loslassen des Lebens zusehen zu müssen, ist keine einfache Sache. Erst recht nicht, wenn es die Mutter ist mit all den Geschichten, die verbinden oder auch nicht. Wie viel Energie dabei auf der Strecke blieb, merke ich erst jetzt, wo ich sie wieder für mich selbst behalten darf.

Sichtbares Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass ich trotz Jobverlust, Wohnungswechsel und Zukunftsangst rauchfrei geblieben bin. Drei Monate sind es heute. Davor hatte es schon genügt, dass meine Mutter wieder einmal ins Krankenhaus musste und ich mit dem ganzen Brimborium dastand und gleich wusste, was auf mich zukam. In solchen Fällen (zum Beispiel) habe ich halt immer ein Schächtelchen Trost aus dem Automaten gezogen, auch wenn ich das Rauchen eigentlich aufgegeben hatte.

Aber jetzt – fließt es wieder. Ich fühle mich leicht und zuversichtlich, Nikotin brauche ich nicht. Heute habe ich Herbstastern zu ihrem Grab gebracht. Uns geht es gut.

KONICA MINOLTA DIGITAL CAMERA

Horror

Mit Möbeln, Sachen und tausend Kartons sind wir in der neuen Wohnung angekommen und können nichts einräumen. Es sieht immer noch aus wie am ersten Tag, und der war vor über einer Woche. Wir steigen über Schachteln, Teppichwürste, Werkzeug, herumstehende Hocker, Staubsauger und Kabelhaufen. Ansprechend sind nur die Böden und Wände, denn das ging voraus: abkleben, streichen, Parkett abschleifen, ölen, putzen, tagelang. Schön ists geworden.

Dann begann das Schleppen. Eine ganze Wohnungseinrichtung, Hausrat, Kram, nicht enden wollende Fuhren von Restzeug, der Umzug war eine Heimsuchung. Für jegliche Sünden meines Lebens büßte ich an diesem Tag, schien mir, was schiefgehen konnte, ging schief. Dafür gab es mehrere Gründe, und einer davon war ich. Die Sache wuchs mir über den Kopf und ich brachte meinen desorganisiertesten Umzug zur Aufführung. Helfer flatterten umher, es gab keinen Plan, und in meiner Benommenheit merkte ich es nicht einmal. Ich machte einfach weiter, wie ein Roboter, ich war gar nicht bei mir. 

Als alles abgeladen war, begann erneutes Abkleben, Streichen, Putzen, tagelang. Nun in der alten Wohnung. Zum Auspacken und Luftholen kommen wir nicht, im Moment kämpfe ich nur darum, den Kellerraum vor dem Bersten zu bewahren. 

Leute, mir reichts. Ich möcht abhaun.

der tagesplan

gestern machte ich mir einen tagesplan für heute
heute stehe ich auf und schaue lange nicht darauf
es steht darauf was noch nicht getan ist
und noch heute soll das alles getan werden
und wer soll es sein der das tut
diese frage ist nicht gut
und die antwort darauf auch nicht

Ernst Jandl, der gelbe hund

Schön und gut

Auf meiner Stirn befinden sich parallel zueinander zwei tiefe, senkrechte Falten. Sie verschwinden schon lange nicht mehr und es sieht immer ein bisschen aus, als ärgere ich mich. Gelegentlich dachte ich deshalb daran, mir da Botox reinjagen zu lassen, ist aber teuer. Nun stehe ich vor dem Spiegel. Ich geh nah ran, wieder zurück, drehe mich von einer Seite zur andern, betrachte unter verschiedenen Lichtverhältnissen meine Stirn. Ganz klar. Sie ist glatter geworden. Sie fühlt sich sogar ein bisschen anders an. Als klebe ein dünnes Pflaster drauf und hindere die Haut daran, sich zu furchen.

Es liegt vielleicht daran, dass ich tiefer schlafe in letzter Zeit. Oder mein Herz versorgt mich besser, das schmerzhafte Pochen und Jagen kommt nicht mehr so oft. Und jetzt glättet sich auch noch meine Stirn. Wer sagts denn. Ein messbares Ergebnis, als Frau noch das schönste dazu. Schon deshalb hat sich der Ausstieg gelohnt, so wechselverjahrt bin ich noch nicht, dass mir Stirnfalten egal wären!

 

Facettenreichtum

Am Bürostuhl vorbeifegen und in den Chefsessel plumpsen. Hinter einem mächtigen Schreibtisch. Dort bleiben und herrschen, ein Jahr, zwei Jahre, länger. Wie das wäre, versuche ich mir gerade vorzustellen. Ich sitze neben dem Azubi, der immer noch nach der richtigen Datei sucht. „Nicht da,“ flüstere ich heiser und zeige auf den Bildschirm, „das ist der falsche Ordner, der drüber …“ An einer Stelle hinter meinem Magen zupft etwas wie ein Kätzchen, das raus will. Ein Eilauftrag röhrt nach Bearbeitung, ich will nicht hier sitzen und warten auf den entscheidenden Klick.

Der Junge ist 18. Arbeitet bei uns seit ein paar Wochen, die erste Stelle, intelligent ist er. Wühlt nicht so flink in den Verzeichnissen wie ich, ansonsten: Denkt mit. Hat Ideen. Und alles, was  mir dazu einfällt ist, an meinen verhakten Fingern zu zerren, weil er eine Anweisung missversteht und durch die Ordnerstrukturen irrt.

Wenn jetzt niemand da wäre, mich zu bremsen. Wenn niemand es wagen würde, sich zu äußern. Kein Kollege die Stirn runzelte vor mir. Wenn es in der Firma die normalen Hindernisse  gäbe in Form eines Menschen und mich: gehüllt in Macht, zerrupft durch Überlastung, Profitsorgen, Verantwortung. Dazwischen nur mein moralischer Anspruch an mich selbst, mein Charakter. Hier werde ich unsicher. Welche Facetten würden wohl nach oben gespült?

Zum Warmwerden

Bevor wir gestern Abend ins Pub gingen, haben wir zu Hause einen Whiskey getrunken. Wie die Kids, die sich zum „Vorglühen“ bei irgendeinem von ihnen treffen und zusammen bechern, weil’s Stimmung macht und billiger ist. Danach geht’s auf die Gass. Wie die Kids also standen wir gestern in der Küche herum, fühlten uns aber wie James Bond, denn wir schütteten nicht Wodka oder Jägermeister in uns rein, sondern hielten lässig ein Glas mit teurem Whiskey in der Hand. Schlückchen für  Schlückchen spülte das goldene Getränk den Stress des Tages hinunter und schon nach wenigen Minuten interessierte mich, was mein Partner zu erzählen hatte. Eine für Freitagabend  ungewöhnliche Freundlichkeit strömte aus mir heraus. Ich wurde gesprächig, wir unterhielten uns, lachten, der Abend fing ganz anders an als sonst.  Es war, als hätte ich an einem Wintertag im Hemd draußen gestanden und dann einen Mantel angezogen:  Ich spürte  keine Kälte mehr.

Wenn ich schon nicht rauchen darf, dann werd ich halt Alkoholiker, dachte ich. Nein, natürlich nicht, das war ein Scherz. Ich beginne nur gerade zu verstehen, wie es dazu kommen kann.