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Ruhestörung

Ein wunderschönes altes englisches Lied handelt von einem jungen Mann, der nach dem Tod seiner Geliebten nicht zu trösten ist. Täglich steht er weinend an ihrem Grab, bis sie ihm nach zwölf Monaten und einem Tag als Geist erscheint. Sie beschwert sich, dass sie bei all dem Jammern und Klagen nicht in Ruhe schlafen könne, und wer denn das sei.

Er gibt sich zu erkennen und bittet inständig um einen Kuss, doch dann ... if you should kiss my clay-cold lips … würde er sterben, antwortet sie, und ihre Herzen würden zerfallen wie vertrocknete Blumen. Sie fordert ihn auf, das Leben zu nehmen wie es ist es zu genießen, solange er es hat.

In diesem Sinn wünsche ich euch – gerade heute – einen erfüllten und mit allen Sinnen gelebten Tag.

 

Cold blows the wind upon my true love
Soft falls the gentle rain
I never had but one true love
And in Greenwood she lies slain

I’d lose much for my true love
As any young man may
I’ll sit and I’ll mourn all on your grave
For twelve months and a day

When the twelfth month and a day had passed
The ghost began to speak
„Who is it that sits all on my grave
And will not let me sleep?“

„‚Tis I, ‚tis I, thine own true love
That sits all on your grave
I ask of one kiss from your sweet lips
And that is all that I crave“

„My lips, they are as clay, my love
My breath is earthy strong
And if you should kiss my clay-cold lips
Your time, ‚twould not be long“

„Look down in the yonder garden fair
Love, where we used to walk
The fairest flower that ever bloomed
Has withered and too the stalk“

„The stalk, it has withered and dried, my love
So will our hearts decay
So make yourself content, my love
‚Til death calls you away“

Meeres Stille


Tiefe Stille herrscht im Wasser,
Ohne Regung ruht das Meer,
Und bekümmert sieht der Fischer
Glatte Flächen ringsumher.
Keine Luft von keiner Seite!
Todesstille fürchterlich.
In der ungeheuern Weite
Reget keine Welle sich.

Johann Wolfgang von Goethe

Der Zufall (?) will es, dass ich kurz nach dem plötzlichen Tod eines Kollegen auf dieses Gedicht stieß. Seither lese ich es jeden Tag und verstehe das Meer hier als Sinnbild des Lebens. Vielleicht fühlt man sich wie der Fischer, wenn man hinübergegangen ist.

 

Schockstarre

Vor einer Woche rief ich am Freitag den beiden Kollegen bei mir im Büro ein „Schönes Wochenende“ zu. „Dir auch!“ kam es gutgelaunt zurück.
Am Montag darauf war nur noch einer da.
Der andere ist tot.

Mitte Vierzig ist er geworden. Ob es ein Herzinfarkt war, ein Schlaganfall oder etwas anderes, wissen wir nicht. Der Kollege war fröhlich, umtriebig, pfiffig. Er arbeitete hart, sorgte aber auch für Ausgleich: In der Freizeit war er aktiver Musiker, Sportler und fleißiger Helfer bei Veranstaltungen. Ein Hans Dampf in allen Gassen.

Vielleicht wäre er noch am Leben, wenn er seine anstrengende Arbeitsstelle hingeworfen hätte. Wenn er zu Hause mehr entspannt hätte. Wenn er häufiger den Arzt aufgesucht hätte.
Hätte, hätte, Fahrradkette.

Vielleicht gibt es aber auch ein Schicksal und etwas in ihm wusste, dass er nicht so viel Zeit haben würde. Vielleicht hat er deshalb so viel in sein Leben gepackt.

Ich sitze im Büro, sein Platz ist leer, eine Kerze brennt auf seinem Schreibtisch. Es sieht immer noch aus, als käme er gleich um die Ecke. Ich höre seine Stimme, sehe sein lachendes Gesicht. Mir ist zum Heulen. Ich möcht gar nicht rüberschauen.

 

The Two Tin Man

Letzte Woche: Als die familiären Angelegenheiten anlässlich des Todes meiner Schwiegermutter hinter uns lagen, setzten wir uns zum Abschluss noch in ein Pub. Dort wurden wir gegen halb zwölf Uhr rausgeschmissen, Sperrstunde. Die stuhlen dann nicht nur um einen herum auf, die machen auch das Licht aus, selbst wenn das Glas des Gastes noch halb voll ist. Der geliebte Brite und ich mussten also jeder ein halbes Pint Bier in einem Zug hinunterstürzen. Bei englischem Bier macht das aber nichts, ist ja wie Radler.

Solchermaßen angeschickert zogen wir weiter und kamen an einer Karaoke-Bar vorbei. Durch die Glasfront sahen wir ein paar Leute tanzen, ein älterer Mann röhrte auf einer kleinen Bühne ins Mikrofon, als gäbe es kein Morgen. Wir überlegten nicht lange und gingen hinein.

An die Bar gelehnt beobachteten wir Frauen, die an einem Tisch saßen und begeistert in jedes Lied miteinstimmten. Immer wieder kam jemand von der Straße herein, sang ein Stück, ließ sich beklatschen und ging wieder hinaus. Was für ein Spaß! Einmal tänzelte ein dünner, etwas zerfurchter Mann mit Wollmütze herein. Er hielt in jeder Hand eine Bierdose vor sich hin und bewegte sich mit leicht nach hinten geneigtem Oberkörper wie Kater Mikesch aus der Augsburger Puppenkiste. Mit seinen Bierdosen zog er langsam zwei Runden um die Tanzfläche herum, dann tänzelte er wieder hinaus.

Wir lachten uns kaputt. Two Tin Man nannten wir ihn. War es doch das schnell getrunkene Bier im anderen Pub, oder die nachlassende Anspannung der letzten Tage? Wir konnten nicht aufhören zu lachen, bis etwa eine Stunde später auch diese Bar anfing, die Schotten dicht zu machen. Ach so, wir sind ja in England. Eigentlich waren wir ja auch traurig, die Mutter des Liebsten ist tot. Aber an diesem Abend war noch genug Platz für die Freude am Leben.

Abschied

pennines

Die Mutter des geliebten Briten ist tot. Sie starb vor wenigen Tagen mit 92 Jahren. Man denkt, angesichts dieses Alters darf man nicht klagen – als gäbe es bei Hochbetagten keinen Grund, traurig zu sein. Ich kenne sie als reizende, zierliche alte Dame, die das Leben mit Humor nahm und gerne lachte. Bis vor einigen Jahren bereiste sie noch regelmäßig alle möglichen Länder, bis ihre Begleit-Freundinnen nach und nach verstarben oder den Strapazen nicht mehr gewachsen waren. Einmal kam das Gespräch auf frühere Zeiten und sie erzählte, dass sie im Krieg zweimal ausgebombt wurde, dass aber trotzdem gelegentlich kleine Tanzabende stattfanden und sie für ihr Leben gern dort hinging. Sie war neugierig auf die Welt, auf die Menschen und machte bis zum Schluss aus allem das Beste. Good-bye, Lily.

Willkommen

Wenn ich an meine Mutter denke, sehe ich sie kleiner, heller und weicher als früher. Sie befindet sich in einem langen Warteraum, an dessen äußerstem Ende sich eine Tür befindet. Dahinter ist Licht. Sie ist aber noch nicht durchgegangen, denn ich pfeife sie jedes Mal zurück, wenn sie das versucht. Dann kommt sie wieder nach vorne, wo ich sie sehen kann. Würde sie ins Licht gehen, wäre sie weg, und das kann sie später noch tun. Sie hat ja viel Zeit.

Außerdem ist da vorne etwas los. Meine Mutter hat sich über eine nebelartige Brüstung gebeugt und streckt die Hand nach unten. Dort schwebt seit Tagen eine andere Frau. Ihr Körper ist groß, fest und ganz glatt. Sie schaut unsicher nach oben und versucht, den Rand zu erreichen. Meine Mutter lacht und strahlt in goldenen Farben, versucht, die Frau hochzuziehen. So turnen die beiden eine Zeitlang herum und strecken die Hände nacheinander aus. Dann hat die Frau den Rand erreicht. Sie hält sich fest und wird nach oben kommen, vielleicht einen anderen Raum aufsuchen. Im Moment muss sie sich erst orientieren.

Diese Frau ist nun im selben Jahr wie meine Mutter geboren und gestorben. Sie bedeutet mir viel und ich hoffe, sie findet bald ihren Platz, und dass es ihr gut geht. Aber eigentlich zweifle ich nicht daran, denn meiner Mutter geht es ja auch gut.

Offenheit Abb. © Ursula Holly

Ich wünsche mir so sehr, dass sie da oben sind, dass ich sie wirklich sehe, dass ich mir das nicht einbilde und in Wirklichkeit ist gar nichts.

Energierückgewinnung

Einem Menschen über lange Zeit beim Loslassen des Lebens zusehen zu müssen, ist keine einfache Sache. Erst recht nicht, wenn es die Mutter ist mit all den Geschichten, die verbinden oder auch nicht. Wie viel Energie dabei auf der Strecke blieb, merke ich erst jetzt, wo ich sie wieder für mich selbst behalten darf.

Sichtbares Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass ich trotz Jobverlust, Wohnungswechsel und Zukunftsangst rauchfrei geblieben bin. Drei Monate sind es heute. Davor hatte es schon genügt, dass meine Mutter wieder einmal ins Krankenhaus musste und ich mit dem ganzen Brimborium dastand und gleich wusste, was auf mich zukam. In solchen Fällen (zum Beispiel) habe ich halt immer ein Schächtelchen Trost aus dem Automaten gezogen, auch wenn ich das Rauchen eigentlich aufgegeben hatte.

Aber jetzt – fließt es wieder. Ich fühle mich leicht und zuversichtlich, Nikotin brauche ich nicht. Heute habe ich Herbstastern zu ihrem Grab gebracht. Uns geht es gut.

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Trauer feiern

Die Damen der Reisegruppe, zu der ursprünglich auch ich gehören sollte, zündeten in der St.-Pauls Cathedral in London Kerzen an für meine Mutter. Meine Tochter brachte Blumen in eine Kapelle auf der griechischen Insel Samos, während in Deutschland zu diesem Zeitpunkt ihre Oma beerdigt wurde. Wir streuten Blütenblätter in ihr Grab und es hat mich beschäftigt, wie unterschiedlich die Menschen Anteil und Abschied nehmen. In manch einen Kopf würde man gerne hineinsehen.

Immer wieder denke ich über meine Mutter nach, unsere Geschichte war gewiss keine ungetrübte. Deshalb ist es so unbegreiflich, dass jetzt, nach ihrem Tod, jeder Zwist aus alten Zeiten zerplatzte wie eine Seifenblase. Als sie in ihrem kühlen Bett lag, war ein Schloss aufgesprungen und es gab den Schlussstrich unter Vergangenes frei, die Erlösung von Zweifeln, und soviel Liebe. Die Tage nach dem Tod meiner Mutter werde ich nie vergessen. Sie haben gut gemacht, was nicht gut war zwischen uns. Unfassbar, dass das geht.

Melancholie© Ursula Holly

 

Die Katastrophe

Bundespräsident Gauck bricht eine Auslandsreise ab. Die Kanzlerin, der französische und der spanische Präsident begeben sich an die Unglücksstelle. Eine Ministerin besucht Haltern am See. In Deutschland wehen die Fahnen auf Halbmast, eine Schweigeminute lenkt die Gedanken der ganzen Nation zu den Opfern.

Ich habe gelesen, dass ein solches Spektakel und der Aufruhr in den Medien es den Angehörigen noch schwerer mache. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich stelle mir gerade vor, dass eine von mir geliebte Person in diesem Flugzeug gesessen hätte. Der Rummel würde nichts ungeschehen machen und meine Trauer nicht lindern. Aber es wäre vielleicht tröstlich, dass der Verlust dieses Menschen wichtig genug ist für den internationalen Aufmarsch, die Schlagzeilen auf den Titelseiten und die Sondersendungen im Fernsehen.

Je mehr sich auch andere damit beschäftigen, desto weniger sind wir mit dem Schmerz allein. Desto geringer wird auch die Furcht, dass ein toter Mensch im Nichts versinkt. Eine Illusion freilich. Der wahre Grund für die kollektive Erschütterung ist das drastische Beispiel, mit dem uns die eigene Endlichkeit vor Augen geführt wird und dass wir nicht alles planen können. Trotzdem würde mir das Aufsehen in diesen Tagen wahrscheinlich helfen.

Wenn Rosen weinen

Ich dachte: Bei einer Bestattung wird ein Verstorbener der Erde übergeben, um wieder zu Erde zu werden usw., man betet, verabschiedet sich, hängt stillen Gedanken nach. Aber so ist es nicht. Da vorne wird kein Dahingeschiedener beigesetzt. Da wird ein Mensch in der Erde vergraben! Einer, mit dem ich noch vor wenigen Wochen in einer Eisdiele saß und plauderte. Eine Mutter, eine Ehefrau, eine Tochter in einer Holzkiste, darin liegt sie jetzt in einem weißen Bett und wird getragen von vier Männern, einer davon Stefano. Ein Onkel schreitet voraus, groß, ernst, und hält das Holzkreuz mit ihrem Namen hoch. Wir folgen langsam, knirschend auf dem Kies, schauen zu, wie Stefano’s Frau weggebracht wird, heraus aus der blühenden, bekränzten, über und über geschmückten Halle, hin zu einem Erdloch.

Niemand sagt etwas. Ein paar Frauen weinen, Männer auch, so kommen wir zum Stehen und müssen zusehen, wie der Kasten aus Eichenholz mit der jungen Frau darin über einer Grube auf zwei Holzträger gestellt wird. Darauf Seile, die die Männer nun von jeder Seite fassen und ein wenig hochziehen. Flink schieben ein paar Hände die Balken darunter weg und der Sarg schaukelt über dem offenen Grab. Vorsichtig lassen sie ihn in die Tiefe. Er ächzt und schwankt, verkantet sich auf halbem Weg und klemmt schief in der Grube. Stefano’s Frau wird wieder ein Stück nach oben gezogen, ein letztes Nichtwollen, ein letztes Hoffen, es ist ja nur ein abscheulicher Traum, gleich geht der Deckel auf und wir können alle sehn, dass sie schläft, mit geröteten Wangen, gesund und schön, aber nein.

Jetzt haben sie sie in die Waagrechte zurück gebracht, die Seile rutschen wieder durch die Hände der Männer, der Sarg sinkt hinunter, zwei Meter oder mehr, und setzt auf. Vielleicht liegt die Tote jetzt nicht mehr auf dem Rücken, sondern auf der Seite. Vielleicht lag sie auf der Seite und drehte sich zurück, man wirds niemehr wissen, wie sie da liegt, oder ob später ihr Gesicht nass wird, wenn es regnet. Oben krümmt sich weinend die Mutter, der Bruder steht erloschen hinter ihr, Stefano blickt hinunter zu seiner Frau, hebt hilflos die Hände.

Einer nach dem andern verabschieden wir uns von ihr. Die Familien, deutsche und italienische, Freunde, Kollegen, viele. Wir sprenkeln Weihwasser und lassen Rosen hinunterfallen, „endgültig“ klagt jede einzelne von ihnen, die auf das Holz des Sargs trifft. Ihre Blüten trösten nicht. Da liegt ein Mensch in einem Loch, und nach den Blumen folgen Erdklumpen. Laut, kalt, schwer.

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