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Samuel Koch wird langsam aufgeweckt

Auch ich falle der kollektiven Anteilnahme anheim, aus besonderem Grund. „Aus dem Koma zurückholen … etwa drei Tage“. Das sagten sie auch zu uns, vor eineinhalb Jahren. Etwa drei Tage dauere es, bis der Junge erwacht. Es wurden fünf. Dieser Albtraum, dieses Gelähmtsein, das Entsetzen – es lässt sich nicht beschreiben. Man taumelt von einer Stunde zur nächsten. Man denkt, das Kind wacht nicht mehr auf.

Unser ganzes Leben lang planen und organisieren wir. Wir entwerfen Zeitpläne, legen Abläufe fest und was nicht geht, planen wir neu. Aber damals, am Bett unseres Sohnes, da gab es nichts zu planen, ich wurde zu Stein. Wir warteten, dass er aufwacht. Wir warteten, dass er aufwacht, damit es uns besser geht, doch der Junge hatte seinen eigenen Zeitplan. Und er machte ihn ohne uns.

Ich weiß, was die Eltern von Samuel Koch jetzt aushalten müssen und was da noch kommt. Nichts wird mehr sein wie vorher.

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Anderes Thema

„Sie werden sehr glücklich sein.“

Die chilenischen Bergleute kurz vor ihrer Befreiung. Schon jetzt weiß der chilenische Psychologe Iturra, wie sie diesen Albtraum verarbeiten werden. „Sie werden sehr glücklich sein.“ Das finde ich interessant. In unseren Kulturkreisen weiß man viel über Traumasymptomatik und Traumabewältigung. Betroffene reagieren auf ein traumatisches Ereignis fast immer mit Hilflosigkeit, Erschrecken, Verunsicherung, damit einher gehen Veränderungen wie z. B. Übererregung, Schlafstörungen, Albträume, heißt es da.

„Sie sind dem Tod von der Schippe gesprungen. Was sollten sie jetzt noch befürchten, wovor Angst haben?“ heißt es in Chile.

Auch mein Sohn ist dem Tod von der Schippe gesprungen. Einen Frontalzusammenstoß von zwei Fahrzeugen bei hoher Geschwindigkeit überlebte er. Ich halte es mit dem chilenischen Psychologen, der offenbar mehr weiß. Es ist tatsächlich so: Der Junge ging gestärkt daraus hervor, selbstbewusster. Obwohl körperlich noch nicht wieder wie vorher, obwohl das nach wie vor brüchige Gedächtnis ihm die neue Ausbildung erschwert. Trotzdem ist er voller Kraft, er schaut nach vorne und lässt sich die Laune nicht verderben.

„In einem Jahr werden sie ein zufriedeneres Leben führen als vor dem Grubenunglück.“

Alles eine Sache der Einstellung?.

Spiegel online – zum Artikel

Auf einer Rückreise

Als wir heute nach einem Ausflug an der Stelle vorbeifuhren, an der mein Sohn vor einem Jahr und knapp vier Monaten verunglückte, meinte ich, das Geräusch zu hören. Es kreischte, als das andere Fahrzeug in ihn und seinen Freund raste. Dabei war es wohl eher ein Knall, doch ich hörte etwas Hohes, Grässliches, als habe ich selbst mit im Auto gesessen. Die halbe Sekunde vor dem Aufprall hakte sich fest. Was hat er gesehen, gespürt, empfunden? Man liest, dass es viel sein kann, was in diesem Moment durch den Kopf huschen kann. Er könnte realisiert haben, dass ein schwarzes Fahrzeug auf ihn zuschoss, vielleicht hörte er noch das Krachen. Erinnern kann er sich nicht. Die Bilder und Wahrnehmungen sind eingeschlossen in der Tiefe seines Bewusstseins, sie können oder sollen nicht heraus. Ich klappte die Sonnenblende herunter, mir war heiß.

Es ist schwer zu begreifen, dass es für immer Einschränkungen geben könnte im Leben meines Kindes. Er braucht Strategien, um sein Gedächtnis zu überlisten, das ihn oft im Stich lässt. Noch heute nimmt er Schmerzmittel wegen der Knochenbrüche. Anfang Zwanzig ist er, alles liegt vor ihm.

Als wir nach Hause kamen, war ich erschöpft.

Das zweite Leben

Durch alle Himmel, Universen und Atmosphären und schließlich durch eine Windschutzscheibe stürzte heute vor einem Jahr ein mächtiger Engel. Mit Panzerflügeln stieß er die Gewalt des Aufpralls zurück, während ein schwarzer Audi in das Fahrzeug schoss, in dem mein Kind saß. Im selben Bruchteil dieser Sekunde preschte ein zweiter Kämpfer des Himmels vor. Er stemmte sich auf dem Fahrersitz über den Jungen, der dort wie eingefroren das Lenkrad festkrallte. Durch die kolossale Stärke dieser Beschützer blieben mein Sohn und sein Freund am Leben.

In einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Geräten und Monitoren fanden wir ihn. Tief in sich hinab gesunken lag er da und nichts zeigte Leben, nur seine Brust hob und senkte sich im Takt der Beatmungsmaschine. Ich strich über sein Gesicht und die Krämpfe in meinem Herzen wurden noch schmerzhafter. Seine Haut war so kühl.

Nie werde ich mir verzeihen, am Nachmittag dieses Pfingstsonntags den Anruf meines jüngsten Sohnes nicht angenommen zu haben. Ich erkannte seinen Namen im Display, doch wir waren bei Freunden und ich wollte mich nicht absondern mit dem Telefon am Ohr. „Es wird nichts Wichtiges sein“, dachte ich. Kurz darauf rief meine Tochter an. Genervt antwortete ich nun und erfuhr, dass die Polizei da sei, mit einem der andern Söhne ist etwas passiert, Genaueres sagen sie nicht, nur den Eltern. Die nicht da waren. Zehn Minuten lang ließ ich mein jüngstes Kind in höchster Not allein, so wie ich meinen anderen Sohn allein gelassen hatte, der verunglückte, und wenn es auch nichts geändert hätte: ich war nun einmal nicht da, als meine Kinder mich am meisten brauchten. Nie wieder werde ich sie vertrauensvoll verabschieden können, wenn sie auf Reisen gehen, und nie wieder habe ich seither ein Telefon klingeln lassen, wenn sich von der Familie jemand meldet. Noch heute erschrecke ich manchmal, wenn eins der Kinder anruft und dann nehme ich hektisch ab, um zu wissen, ob alles in Ordnung ist.

Mein Leben ist wackelig geworden seither. Mir ist, als befinde ich mich auf einem dieser Riesenteller, wie sie auf manchen Spielplätzen stehn. Wenn man sich draufsetzt, gibt die Scheibe nach und es ist eine Kunst, sie zu erklettern und die Balance zu halten.

Täuschungen

Sein kleiner Körper presst sich mit dem Rücken an die Wand, der mächtige Vater erhebt seinen Arm. Seit langer, langer Zeit hat er geschimpft und geflucht, er wollte nicht aufhören damit. Ganz klein macht sich der Bub. Er fürchtet die Schläge, doch es geschieht etwas anderes.

Verschreckt schlägt er die Augen nieder, sein Blick wandert nach unten und was er entdeckt, macht ihn schwindelig. Plötzlich trägt er nämlich kein kariertes Hemd mehr und kurze Hosen, sondern einen dunkelgrauen Anzug mit weinroter Krawatte. Er zupft an ihr, als habe er noch nie eine gesehn, jedenfalls nicht an sich, da entdeckt er Haare auf seinem Handrücken. Er sucht nach einer Erklärung, auch für den Ehering, der auf einmal an seinem Finger steckt. Als ob dicker Nebel sich langsam verzieht, erkennt er nun Schemen und ihm dämmert, was schließlich klar wird: Er ist gar kein Junge mehr. Vor ein paar Wochen wurde er fünfundvierzig Jahre alt, einszweiundachtzig ist er groß und fünfundneunzig Kilo schwer. Jetzt guckt er hoch.  Sein Vater steht immer noch da, klein geworden und stumm.

Der Junge, der kein Junge mehr ist, schaut sich um. Wo blieb das Ungeheuer, das ihn Zeit seines Lebens verfolgte und ängstigte? Er sieht keins. Er sieht einen zerfurchten kleinen Mann, dem er nichts zu sagen hat, und er geht. Unsicher schaut der Vater ihm hinterher.

Schockminuten

In einem Nachbarort kam es vor kurzem zu einem Unfall und der Verursacher machte sich davon. Was man feststellen konnte anhand von Lackresten und Glasscherben war, dass es sich um einen roten, älteren Toyota handelte. Nun fahre ich einen roten, älteren Toyota, und heute morgen rief die Polizei an. Sie wollten vorbeikommen und prüfen, ob es sich um das gesuchte Auto handelt, völlig harmlos also. Das Auto ist alt, aber unfallfrei. Doch so ganz harmlos war es dann nicht.

Ich legte auf und alles war wieder da. Der Anruf der Polizei, dass ich kommen solle, es gäbe etwas, das sie am Telefon nicht besprechen wollen. Wie ich nachfragte und bohrte und es dann erfuhr. Mein Sohn hatte einen schweren Autounfall gehabt. Alles war wieder da. Vielleicht nicht die Einzelheiten, aber das Gefühl dabei. Oder besser die Erstarrung. Als wäre es gerade eben geschehn.

„Wir wissen nichts Genaues“, hatte der Mann am andern Ende damals gesagt. „Er lebt aber, nicht wahr?“ Seine Verletzungen seien sehr schwer, war die Antwort gewesen,  und ich könne die Polizeidienststelle in Biberach anrufen. Die wissen mehr. „Aber er lebt doch, nicht wahr?“ In Biberach sagte man mir, der Junge sei mit dem Hubschrauber nach Ulm geflogen worden. Ja, er lebe. Noch? Die Nummer der Klinik gab er mir auch. Seltsam. Dass ich minutenlang nicht gewusst hatte, ob mein Kind am Leben ist und ob er es bleiben wird, die Schockminuten, bis ich einen Arzt erreichen konnte – das hatte ich nicht mehr im Gedächtnis gehabt. Gibt’s sowas? Ich hatte es nicht mehr gewusst, und heute morgen war alles wieder da.

Ich saß an meinem Schreibtisch, mein Herz schlug wild, Tränen stiegen hoch. Ich wusste nicht was tun. Meine Kollegen schauten, niemand sagte etwas, ich wollte mit ihnen nicht darüber sprechen. Nur heulen. Das drückte ich weg, den ganzen Vormittag lang kämpfte ich dagegen an und verlor immer wieder.

Mittags rauchte ich eine Zigarette. Drei Wochen lang habe ich es geschafft, nicht zu rauchen, heute wieder schwach geworden. Blöderweise ging es mir danach besser.

Leben nach dem Trauma

Nach dem Trauma durch einen Unfall zum Beispiel steht in der Regel zunächst die körperliche Heilung im Mittelpunkt. Akribisch wird jedes noch so kleine Anzeichen einer Besserung gesucht und als Schritt nach vorne eingeordnet. Ist dieser Prozess abgeschlossen, steht das Opfer aber nicht selten mit einem Körper da, der einigermaßen verheilt ist, aber Nägel und Platten in den Knochen können Schmerzen verursachen, dicke Narben erinnern an das, was geschehen ist, die Funktionsfähigkeit einzelner Gliedmaßen kann noch eingeschränkt sein, bleibt es vielleicht für immer. Fragen tauchen auf wie: Kann ich in meinen Beruf zurück? Steht eine Umschulung an? Wenn ja, welche? Und danach – finde ich Arbeit? Wie sehe ich aus? Wie geht es mit mir weiter? Was wird aus meinen persönlichen Beziehungen? Reizbar bin ich geworden, oft mag ich mich selbst nicht, für die andern ist es schwer mit mir. Bleibt das so? Verliere ich Menschen, die ich liebe? Wo soll ich hin mit meiner Angst, Hilflosigkeit und Trauer?

Alle Opfer geraten zumindest eine Zeitlang aus dem Gleichgewicht. Psychologische Beratung sollte in Anspruch genommen werden, wenn es zu anhaltenden Störungen kommt wie schlechter Schlaf, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, körperliches Unwohlsein, Schreckhaftigkeit und Verhaltensauffälligkeiten wie erhöhte Nervosität und Reizbarkeit, eventuell auch aggressives Verhalten.

Wichtigster Faktor bei der Erholung ist die soziale Unterstützung durch Familie, Freunde oder Lebenspartner. Sie müssen den Patienten dort abholen, wo er steht, und sie dürfen ihn nicht nur als Opfer sehen, sondern auch als Überlebenden einer katastrophalen Bedrohung. Um beim Betroffenen das Gefühl der Hilflosigkeit und Unsicherheit zu bekämpfen, brauchen sie Unterstützung bei der Erfahrung: „Ich bin zu etwas nütze“. Verordnete Passivität und Tatenlosigkeit führen zu Kontrollverlust; die Ermutigung zu Handlung und Selbstständigkeit hilft dagegen, die Kontrolle wieder zu erlangen. Anstatt einer Opfermentalität den Weg frei zu machen, sollen Ressourcen und Kompetenzen zugänglich gemacht werden, so dass die Identität des Patienten wieder positiv besetzt werden kann. Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung schaffen Sinn im Leben nach einem Trauma.

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