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Begegnung am Vormittag oder Zufall 2.0

Ich mache mich auf den Weg zum Einkaufen und fahre rückwärts aus dem Stellplatz vor dem Haus. Als ich etwa halb draußen bin, bemerke ich einen alten Mercedes, der aus einem der daneben liegenden Stellplätze ebenfalls herausgefahren ist. Ich bremse also und muss mitansehen, wie dieses wildgewordene Fahrzeug nun mit Vollgas rückwärts fährt. Ihr ahnt, in welche Richtung.

Noch vor dem Aufprall ärgere ich mich über die Scherereien, die jetzt kommen werden und dass ich nichts dagegen tun kann. Ich habe ja noch den Rückwärtsgang drin und spontane Ausweichmanöver funktionieren nur in Slapstick-Komödien. Also rummst es. Und wie.

Ich reiße die Tür auf, stampfe zum Heck und schaue mir die Bescherung an. Die hintere Ecke ist eingedrückt. Der Mercedes ist wieder ein Stück nach vorne gerollt und ein erschrockener junger Mann steigt aus.

„Wie blöd sind Sie denn?“ keife ich los, und er zieht die Schultern ein.

„Es ist ja nichts passiert,“ beschwichtigt er und hat Recht: Sein Auto hat keinen Kratzer abbekommen. Aber meins steht da und heult, weil man ihm weh gemacht hat, und ich zetere weiter.

Natürlich ist niemand verletzt, es gibt Schlimmeres und nach einer Weile komme ich wieder zu mir. Ich frage nach dem Namen des jungen Mannes, der mir bekannt vorkommt und schon stellt sich heraus, dass ich seine Mutter kenne und mein Vater hat früher mit der Schwester musiziert. Eine bekannte Familie also, nur den jungen Mann treffe ich zum ersten Mal, netter Kerl übrigens. Nur Autofahren kann er nicht.

Wer nun beim Lesen meinte, ein kleines Déjà-vu zu haben, der hat ein gutes Gedächtnis.

Begegnung am Nachmittag

Das letzte Mal passierte es übrigens vier Wochen vor einem Umzug, dieses Mal drei Wochen nach einem Umzug, beides Mal an einem 17. Monatstag. Was lerne ich daraus? Sollte ich noch einmal umziehen, muss ich in der Zeit davor und danach jeweils am 17. im Straßenverkehr alle Menschen vermeiden, die meine Eltern kennen. Jedenfalls mit diesem Auto.

Auto-kaputt

 

Zum Zufall 1.0

Danke, Versatile Blog Award!

Bis gestern steckte in den WordPress-Statistiken dieses Blogs eine Stelle mit verklumptem Herzblut. Zweieinhalb Jahre lang blieb es sichtbar, wenn ich hier saß, direkt unter dem Diagramm. Ich meine den Eintrag: 25. Juni 2009 – 90 Aufrufe, verkehrsreichster Tag seit Bestehen des Blogs.

Mein Sohn hatte schon mehrere Wochen auf der Intensivstation verbracht und war kurz davor, auf eine normale Station verlegt zu werden. Dieser Blog diente damals – ohne tags zu verwenden – nur der Information von Familie und Freunden, fremde Leser gab es noch nicht. Ich vermeldete täglich die winzigen Fortschritte des Jungen, so musste ich niemanden anrufen, dasselbe nicht wieder und wieder erzählen, die Kraft hätte gefehlt. Mir alles von der Seele zu schreiben, war dagegen heilend.

Jedenfalls: Der 25. Juni 2009  steht nicht mehr da. Mit wiederum 90 Aufrufen wurde gestern der 25. November 2011 zum verkehrsreichsten Tag in der Statistik. Die Erinnerung an eine Zeit des Schocks ist ersetzt durch eine an den „Versatile Blog Award“. Anders kann ich mir nicht erklären, warum es gestern fast doppelt so viele Klicks gab wie normalerweise.

Ich bin froh. Ich will nach vorne schauen und Lösungen suchen, nicht zurück und mich an Schmerzen festhalten. Deshalb danke, Sofasophia, dass du mich „erwählt“ hast, und allen Besuchern gestern und heute (es sieht aus, als ob es einen neuen Rekord gibt) meinen aufrichtigen und herzlichen Dank. Es hat mir gut getan!

 

Schlafsofa

Ich lehne in der Ecke der Ledercouch im Eingangsbereich, Leute gehen aus und ein. Ich schlage mein Buch auf, die Physiotherapie und Lympfhdrainage dauert etwa eine Stunde. Zu Hause liegt eine weitere Tüte mit Stahl- und Titanzeug drin, das befand sich vor kurzem noch im Bein meines Sohnes. Nach der letzten Operation ist sein Körper wieder metallfrei, und seither komme ich viel zum Lesen: Physiotherapie, Ergotherapie, Hausarzt, Orthopäde, ich kenne alle Wartezimmer. Der Junge kann noch nicht Auto fahren mit den frischen Wunden und starken Schmerzmitteln.

Während also sein Kniegelenk mobilisiert wird, komme ich nicht recht voran mit meinem Buch. Das freundliche Geplauder der Empfangsdame am Telefon oder die Geräusche aus dem Fitnessraum stören mich nicht. Aber das Radiogedudel im Hintergrund. Flaches Geschwätz, einfallslose Musik, ich versuche mich zu konzentrieren, aber – wie häufiger – die Sätze fangen an zu tanzen. Sie kippen nach hinten weg, ich ruckle auf dem Polster herum, kratze meinen Arm, richte mich auf, trotzdem fallen mir die Augen immer wieder zu. Ich habe Angst, dass es jemand bemerkt und vor allem, dass ich in der Tat einschlafe, zusammensacke womöglich oder schnarche, wie Mr. Bean in der Kirche. Meine Güte, sind das Herausforderungen …


 

Samuel Koch wird langsam aufgeweckt

Auch ich falle der kollektiven Anteilnahme anheim, aus besonderem Grund. „Aus dem Koma zurückholen … etwa drei Tage“. Das sagten sie auch zu uns, vor eineinhalb Jahren. Etwa drei Tage dauere es, bis der Junge erwacht. Es wurden fünf. Dieser Albtraum, dieses Gelähmtsein, das Entsetzen – es lässt sich nicht beschreiben. Man taumelt von einer Stunde zur nächsten. Man denkt, das Kind wacht nicht mehr auf.

Unser ganzes Leben lang planen und organisieren wir. Wir entwerfen Zeitpläne, legen Abläufe fest und was nicht geht, planen wir neu. Aber damals, am Bett unseres Sohnes, da gab es nichts zu planen, ich wurde zu Stein. Wir warteten, dass er aufwacht. Wir warteten, dass er aufwacht, damit es uns besser geht, doch der Junge hatte seinen eigenen Zeitplan. Und er machte ihn ohne uns.

Ich weiß, was die Eltern von Samuel Koch jetzt aushalten müssen und was da noch kommt. Nichts wird mehr sein wie vorher.

Wen’s interessiert

Anderes Thema

Luftsäcke oder Prallkissen

Irgendwo gelesen neulich: Luftsäcke oder Prallkissen. Hört sich nicht so bedeutsam an wie Airbags, doch um die Bezeichnung geht es nicht. Einer davon schützte das Leben meines Sohnes. Daran denke ich wieder jeden Tag, wenn ich bei Eis und Schnee zur Arbeit oder nach Hause fahre. Mein Auto hat nämlich keine.

Aber man fährt ja auch langsamer. Die andern hoffentlich auch.

„Sie werden sehr glücklich sein.“

Die chilenischen Bergleute kurz vor ihrer Befreiung. Schon jetzt weiß der chilenische Psychologe Iturra, wie sie diesen Albtraum verarbeiten werden. „Sie werden sehr glücklich sein.“ Das finde ich interessant. In unseren Kulturkreisen weiß man viel über Traumasymptomatik und Traumabewältigung. Betroffene reagieren auf ein traumatisches Ereignis fast immer mit Hilflosigkeit, Erschrecken, Verunsicherung, damit einher gehen Veränderungen wie z. B. Übererregung, Schlafstörungen, Albträume, heißt es da.

„Sie sind dem Tod von der Schippe gesprungen. Was sollten sie jetzt noch befürchten, wovor Angst haben?“ heißt es in Chile.

Auch mein Sohn ist dem Tod von der Schippe gesprungen. Einen Frontalzusammenstoß von zwei Fahrzeugen bei hoher Geschwindigkeit überlebte er. Ich halte es mit dem chilenischen Psychologen, der offenbar mehr weiß. Es ist tatsächlich so: Der Junge ging gestärkt daraus hervor, selbstbewusster. Obwohl körperlich noch nicht wieder wie vorher, obwohl das nach wie vor brüchige Gedächtnis ihm die neue Ausbildung erschwert. Trotzdem ist er voller Kraft, er schaut nach vorne und lässt sich die Laune nicht verderben.

„In einem Jahr werden sie ein zufriedeneres Leben führen als vor dem Grubenunglück.“

Alles eine Sache der Einstellung?.

Spiegel online – zum Artikel

Auf einer Rückreise

Als wir heute nach einem Ausflug an der Stelle vorbeifuhren, an der mein Sohn vor einem Jahr und knapp vier Monaten verunglückte, meinte ich, das Geräusch zu hören. Es kreischte, als das andere Fahrzeug in ihn und seinen Freund raste. Dabei war es wohl eher ein Knall, doch ich hörte etwas Hohes, Grässliches, als habe ich selbst mit im Auto gesessen. Die halbe Sekunde vor dem Aufprall hakte sich fest. Was hat er gesehen, gespürt, empfunden? Man liest, dass es viel sein kann, was in diesem Moment durch den Kopf huschen kann. Er könnte realisiert haben, dass ein schwarzes Fahrzeug auf ihn zuschoss, vielleicht hörte er noch das Krachen. Erinnern kann er sich nicht. Die Bilder und Wahrnehmungen sind eingeschlossen in der Tiefe seines Bewusstseins, sie können oder sollen nicht heraus. Ich klappte die Sonnenblende herunter, mir war heiß.

Es ist schwer zu begreifen, dass es für immer Einschränkungen geben könnte im Leben meines Kindes. Er braucht Strategien, um sein Gedächtnis zu überlisten, das ihn oft im Stich lässt. Noch heute nimmt er Schmerzmittel wegen der Knochenbrüche. Anfang Zwanzig ist er, alles liegt vor ihm.

Als wir nach Hause kamen, war ich erschöpft.

Immer mit der Unruhe

Unkonzentriert saß ich gestern bei der Arbeit und brachte alles durcheinander. Um meine zitternden Nerven zu beruhigen, nahm ich etwas ein, rein pflanzlich, es half ein bisschen. Ich sah auf die Uhr, gegen Mittag wollten sie ankommen, er würde mich anrufen, versprach er am Abend zuvor. Gehört hatte ich nichts. Auf dem Mobiltelefon antwortete er nicht, auf dem Festnetz zu Hause auch nicht. Halb zwei.

Vor eineinhalb Jahren hätte ich nicht wissen müssen, um welche Uhrzeit er eintreffen würde. Heute kenne ich den Flugplan sowie die geplante Zeit für die Heimfahrt, und den ganzen Vormittag hatte ich mich gewehrt gegen das, was in meinem Kopf herumturnte. Bilder mit ihm auf dem Beifahrersitz, sein Freund am Steuer, wie damals. Diesmal ein neues Auto, sicherer als der Alfa, den es nicht mehr gibt. Bilder eines anderen Fahrers, der einen Fehler macht, wie damals. Aus allen Richtungen schossen Fahrzeuge in den Schirokko mit zwei Jungs auf dem Weg nach Hause. Heute könnte der Freund nicht einmal das Lenkrad herumreißen, sein rechter Arm blieb gelähmt seit dem Unfall. Wie man in diesem Zustand sicher fahren kann ohne Automatik oder Sonstiges – es ist mir ein Rätsel.

Halb drei. Ich versuchte es wieder auf sämtlichen Telefonen. Sein Mobiltelefon war jetzt ausgeschaltet. Meine Finger trommelten auf dem Schreibtisch herum, dann rief ich meine Tochter an. Auch sie hatte kein Lebenszeichen erhalten. Die Mutter des Freundes anrufen? Wahrscheinlich war sie bei der Arbeit. Ich versuchte es trotzdem, wählte die Nummer, es klingelte lange. Dann nahm sie ab. „Die Jungs? Ja, natürlich, die sitzen bei uns, sind gut angekommen.“

Dieser Affe.

Jedenfalls ist er da, nach drei Monaten in England. Der Sprachkurs half, er kann sich wieder besser konzentrieren. Nur die Stelle im Hirn, die einst für ein paar Gedanken an die Mutter zuständig war – die scheint noch nicht wieder im Einsatz zu sein.

Wie schön, dass du geboren bist…

Mein Kind hat heute Geburtstag. Es ist der zweite in seinem neu geschenkten Leben. Nimmt man das erste hinzu, so wurde mein Sohn heute Morgen um 4:35h zweiundzwanzig Jahre alt.  Mir ist klar geworden, warum man Geburtstage eigentlich feiert. Als die Menschen noch unter Hunger, Krankheiten und rauen Sitten zu leiden hatten, muss es Grund zur Freude gewesen sein, wieder ein Jahr älter und noch am Leben zu sein. Man wünschte dem Glückspilz alles Gute, damit auch der nächste Jahrestag erreicht werden möge. Kerzen wurden angezündet, um böse Geister zu vertreiben und kleine Geschenke belohnten für die Mühsal des vergangenen Jahres. So entstand die Geburtstagsfeier.

Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Es könnte aber so gewesen sein, mußmaße ich als Mutter, die nicht durch Hunger und Not, sondern zeitgemäß durch einen Verkehrsunfall beinahe ihr Kind verloren hätte. Wir haben Grund zu feiern. Von Herzen alles Gute für alle, die heute Geburtstag haben. Und für die andern auch.

So ein Tag wie heute …

… den kann man abhaken. Nicht nur dass ich arbeiten musste, am Sonntag. Im Gesundheits- oder Sonstwasdienst bin ich dabei nicht tätig, ein depperter Eilauftrag war es. Und nein, ich bin auch nicht selbständig. Allenfalls darf ich dafür mal einen Nachmittag freinehmen.

Eigentlich müsste ich fröhlich pfeifend den Tag verbringen, denn mein Kind kommt bald aus England zurück. Der Flug ist gebucht, in München wird er landen und sein Freund holt ihn ab. Ja, der Freund, mit dem er vor einem Jahr verunglückte. Der den rechten Arm praktisch nicht mehr gebrauchen kann, nur zwei Finger lassen sich gerade noch bewegen. Dieser Freund also fährt wieder Auto. Ich weiß, da werden Tests gemacht, um die Fahrtüchtigkeit zu prüfen, hat mein Sohn ja auch hinter sich, und er brauchte ein paar Anläufe, bis die Reaktionen wieder ausreichten, um ein Fahrzeug steuern zu dürfen. Sicher hat man seinen Freund auch getestet und es wurde befunden, dass auch mit zwei Fingern ein Schalthebel benutzt werden kann. Sicher ist er längere Strecken schon gefahren. Sicher ist es ein Automatik-Fahrzeug. Sicher ist … gar nichts.

Der Tag fing jedenfalls damit an, dass ich in der Zeitung Traueranzeigen las. Das mache ich meistens am Sonntagmorgen, ob morbide oder nicht – manchmal kennt man ja jemanden. Und ein ganz klein wenig – ich gebe es zu – macht es auch froh, selbst gesund und am Leben zu sein und um niemanden trauern zu müssen. Nur heute Morgen – dabei war in den Anzeigen kein bekannter Name aufgetaucht – liefen mir auf einmal Tränen herunter.

Der nette Engländer an meiner Seite hat seinen Tagesplan daraufhin spontan umdisponiert. Er verzichtete auf die Power-Rad-Tour in die Berge, schob  das karge Frühstück aus Toast und Energie-Drink weg und machte sich über eine große Schüssel Müsli her. Zusammen radelten wir dann in mein Büro (die Strecke ist flach wie ein Pfannkuchen) und er wartete, bis ich erledigt hatte, was zu erledigen war. Das war das Schönste am heutigen Tag.

Das zweite Leben

Durch alle Himmel, Universen und Atmosphären und schließlich durch eine Windschutzscheibe stürzte heute vor einem Jahr ein mächtiger Engel. Mit Panzerflügeln stieß er die Gewalt des Aufpralls zurück, während ein schwarzer Audi in das Fahrzeug schoss, in dem mein Kind saß. Im selben Bruchteil dieser Sekunde preschte ein zweiter Kämpfer des Himmels vor. Er stemmte sich auf dem Fahrersitz über den Jungen, der dort wie eingefroren das Lenkrad festkrallte. Durch die kolossale Stärke dieser Beschützer blieben mein Sohn und sein Freund am Leben.

In einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Geräten und Monitoren fanden wir ihn. Tief in sich hinab gesunken lag er da und nichts zeigte Leben, nur seine Brust hob und senkte sich im Takt der Beatmungsmaschine. Ich strich über sein Gesicht und die Krämpfe in meinem Herzen wurden noch schmerzhafter. Seine Haut war so kühl.

Nie werde ich mir verzeihen, am Nachmittag dieses Pfingstsonntags den Anruf meines jüngsten Sohnes nicht angenommen zu haben. Ich erkannte seinen Namen im Display, doch wir waren bei Freunden und ich wollte mich nicht absondern mit dem Telefon am Ohr. „Es wird nichts Wichtiges sein“, dachte ich. Kurz darauf rief meine Tochter an. Genervt antwortete ich nun und erfuhr, dass die Polizei da sei, mit einem der andern Söhne ist etwas passiert, Genaueres sagen sie nicht, nur den Eltern. Die nicht da waren. Zehn Minuten lang ließ ich mein jüngstes Kind in höchster Not allein, so wie ich meinen anderen Sohn allein gelassen hatte, der verunglückte, und wenn es auch nichts geändert hätte: ich war nun einmal nicht da, als meine Kinder mich am meisten brauchten. Nie wieder werde ich sie vertrauensvoll verabschieden können, wenn sie auf Reisen gehen, und nie wieder habe ich seither ein Telefon klingeln lassen, wenn sich von der Familie jemand meldet. Noch heute erschrecke ich manchmal, wenn eins der Kinder anruft und dann nehme ich hektisch ab, um zu wissen, ob alles in Ordnung ist.

Mein Leben ist wackelig geworden seither. Mir ist, als befinde ich mich auf einem dieser Riesenteller, wie sie auf manchen Spielplätzen stehn. Wenn man sich draufsetzt, gibt die Scheibe nach und es ist eine Kunst, sie zu erklettern und die Balance zu halten.

Ins Ungewisse

Mit all dem Metall im Körper hätte der Flughafendetektor Funken sprühen müssen. Aber mein Sohn ging durchs Tor und es kam kein Piep. In Ruhe steckte er seine Geldbörse wieder ein, die in einer Wanne zusammen mit anderem Zeug durchleuchtet worden war. Er nahm seine Sachen wieder an sich, schnallte den Gürtel um und schaute zu uns. Ich streckte den Daumen nach oben und er winkte scheu, lud seinen Rucksack über die Schulter und verschwand. Na Bravo, dachte ich. Wenn ein Terrorist erfährt, dass die Detektoren an diesem Flughafen heute falsch oder gar nicht eingestellt sind, kann er mit einem Gewehr an Bord gelangen.

Die Maschine wurde dann doch nicht entführt, Gott sei Dank. Knapp eineinhalb Stunden später landete sie in London und der Junge schaffte es mit Taxi und Zug nach Brighton, wo er die nächsten drei Monate leben wird. Dieses Abenteuer war lange sein Traum. Er war ausgelöscht worden vor einem Jahr, als dieser Audi in den Alpha fuhr, in dem mein Sohn als Beifahrer saß. Danach konnte er sich monatelang nicht einmal erinnern, einen Traum je gehabt zu haben. Wichtig war da nur, dass er lebte. Dass die Hirnblutungen abheilten und zahllose Nägel und Platten ihn so zusammenhielten, dass er eines Tages aus dem Rollstuhl wieder aufstehen konnte. Aber irgendwann, als Operationen und Rehabilitation hinter ihm lagen, kam er zurück: Der Wunsch, Neues kennen zu lernen, ein anderes Land, England. Da fing er an zu planen.

Wir telefonierten heute kurz mit der Familie, in der er untergebracht sein wird während des Sprachkurses. Es beruhigt mich zu wissen, dass diese Leute wirklich existieren und er in Sicherheit ist. Ich weiß, es klingt blöd, der Junge ist 21 und er findet sich zurecht. Auch seine Geschwister haben Auslandsaufenthalte hinter sich und in Gefahr ist man zu Hause sowieso nicht weniger. Trotzdem. Ihn gehen zu lassen ins Ungewisse, war schwer. Ich habe das Vertrauen nicht mehr, dass immer alles gut geht. Manchmal geht es auch schief, wie wir jetzt wissen,  und ich  kann ich nur beten, ganz fest, dass keinem der Kinder je wieder etwas zustoßen wird.

Abendgedanken

Denkt ihr abends auch manchmal darüber nach, was das Wichtigste war am Tag? Ich schon. Heute war es der Geburtstag des Freundes meines Sohnes. Nicht dass ich auf der Party gewesen wäre. Ich hab den Jungen nicht mal gesehen heute, eigentlich schon länger nicht mehr. Genau genommen kenne ich ihn kaum.

Seinen letzten Geburtstag vor einem Jahr feierte er sicher zusammen mit meinem Sohn. Vielleicht kam den beiden da sogar die Idee, gemeinsam in Urlaub zu fahren, oder sie hatten das schon vorher ausgemacht, oder nachher, egal. Nach Holland sollte es gehen, Amsterdam ist beliebt bei jungen Leuten. Eine Woche war geplant.

Viele Monate sollte es dauern, bis wir sie wieder zu Hause hatten. Dieselben waren sie nicht mehr, wir alle nicht. Fast ein Jahr ist es her, dass auf der Rückfahrt von Holland ein Audi in die beiden hinein raste und sie beinah zermalmte. Die furchtbaren Wochen in Intensivstationen, die langen Monate in Rehakliniken gehören jetzt zu unseren Erinnerungen, zu unserem Leben. Und heute? Heute hat der Freund meines Sohnes Geburtstag. Er feiert in einem Pub, mein Sohn wird ihm eine gemeinsame Reise nach Holland schenken. Sie sind noch nicht so gesund wie vor dem Unfall, manches wird nie mehr so sein. Aber sie leben, sie lachen, sie haben Pläne. Heute ist ein schöner Tag.

Schockminuten

In einem Nachbarort kam es vor kurzem zu einem Unfall und der Verursacher machte sich davon. Was man feststellen konnte anhand von Lackresten und Glasscherben war, dass es sich um einen roten, älteren Toyota handelte. Nun fahre ich einen roten, älteren Toyota, und heute morgen rief die Polizei an. Sie wollten vorbeikommen und prüfen, ob es sich um das gesuchte Auto handelt, völlig harmlos also. Das Auto ist alt, aber unfallfrei. Doch so ganz harmlos war es dann nicht.

Ich legte auf und alles war wieder da. Der Anruf der Polizei, dass ich kommen solle, es gäbe etwas, das sie am Telefon nicht besprechen wollen. Wie ich nachfragte und bohrte und es dann erfuhr. Mein Sohn hatte einen schweren Autounfall gehabt. Alles war wieder da. Vielleicht nicht die Einzelheiten, aber das Gefühl dabei. Oder besser die Erstarrung. Als wäre es gerade eben geschehn.

„Wir wissen nichts Genaues“, hatte der Mann am andern Ende damals gesagt. „Er lebt aber, nicht wahr?“ Seine Verletzungen seien sehr schwer, war die Antwort gewesen,  und ich könne die Polizeidienststelle in Biberach anrufen. Die wissen mehr. „Aber er lebt doch, nicht wahr?“ In Biberach sagte man mir, der Junge sei mit dem Hubschrauber nach Ulm geflogen worden. Ja, er lebe. Noch? Die Nummer der Klinik gab er mir auch. Seltsam. Dass ich minutenlang nicht gewusst hatte, ob mein Kind am Leben ist und ob er es bleiben wird, die Schockminuten, bis ich einen Arzt erreichen konnte – das hatte ich nicht mehr im Gedächtnis gehabt. Gibt’s sowas? Ich hatte es nicht mehr gewusst, und heute morgen war alles wieder da.

Ich saß an meinem Schreibtisch, mein Herz schlug wild, Tränen stiegen hoch. Ich wusste nicht was tun. Meine Kollegen schauten, niemand sagte etwas, ich wollte mit ihnen nicht darüber sprechen. Nur heulen. Das drückte ich weg, den ganzen Vormittag lang kämpfte ich dagegen an und verlor immer wieder.

Mittags rauchte ich eine Zigarette. Drei Wochen lang habe ich es geschafft, nicht zu rauchen, heute wieder schwach geworden. Blöderweise ging es mir danach besser.

Anderes Thema

Die schwerste Zeit meines Lebens begann vorgestern, am Pfingstsonntag, nachmittags gegen 17h. Mein Sohn kehrte mit seinem Freund vom Urlaub zurück, sie schafften es fast bis nach Hause, da raste ein Audi auf der Gegenspur auf sie zu.


 

Auf dem Beifahrersitz des roten Alfas saß mein Sohn.

Er und sein Freund wurden aus dem Auto heraus geschnitten, mit dem Rettungshubschrauber brachte man mein Kind in die Uniklinik nach Ulm. Noch in der Nacht fuhren wir zu ihm, weinend, seine Freundin, mein Lebenspartner und ich. In den langen Minuten, bevor wir zu ihm durften, machte ich mir Gedanken darüber, dass er nun die mündliche Prüfung versäumt, um seine Ausbildung abzuschließen. Ich unterhielt mich sogar mit der Ärztin darüber, so daneben war ich. Als wir endlich zu ihm gelassen wurden, fanden wir in einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Geräten und Monitoren meinen Sohn, ein junger Mann, tief in sich hinabgesunken lag er da und zeigte kein Leben. Nur seine Brust hob und senkte sich im Takt der Beatmungsmaschine. Man hatte ihn in ein künstliches Koma versetzt.  Kühl war er. Ich erschrak, als ich sein Gesicht berührte, weil es kalt war. Das komme vom Blutverlust.

Mehrfache Knochenbrüche an beiden Beinen und am linken Arm, das Becken gebrochen, Lunge und Herz gequetscht, mehrere Hirnblutungen – so beschrieben die Ärzte seine Verletzungen. Insgesamt sei sein Zustand stabil. Das war gestern.

Heute hat man die Narkosemittel abgesetzt, um ihn aus dem Koma erwachen zu lassen. Aber er wachte nicht auf. Gelegentlich warf er den Kopf hin und her, öffnete die Augen ohne zu sehen, stöhnte, versank wieder. Über drei Stunden lang hielten wir seine Hand, sein Vater und ich. Wir streichelten sein Haar, beruhigten ihn. Und uns, gegenseitig. Wir wollten bei ihm sein, wenn er aufwacht, aber er wachte nicht auf. Wir hängten ein Kreuzchen über sein Bett, ein Familienstück, das ihn beschützt. Es ist schwer.

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Bitte habt Verständnis, wenn ich niemanden anrufe oder e-mails schreibe. Ich werde jeden Tag nach der Arbeit bei ihm sein und halte euch hier auf dem Laufenden. Ich kann das im Moment nicht jedem einzeln erzählen.

Wenn ihr etwas für ihn tun wollte: Betet für ihn. Bitte. Oder schickt ihm gute Gedanken, irgendwas, es hilft ihm. Er wird bald aufwachen. Ganz bestimmt. Bitte helft mit.

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