Schlagwort-Archive: Veränderung

Bekannt- und Fremdwerden

Um in das Zimmer meine Mutter zu kommen, muss ich den Aufenthaltsraum durchqueren. Heute riecht es nicht nach Mittagessen wie sonst, sondern nach Kaffee. Ein rüstiger Mann hockt auf einem der Sofas. Sein Blick folgt mir, als ich ihn grüße und er ruft: „Helfen Sie mir beim Aufstehen, ich muss gehen. Man lässt mich nur nicht.“ Das sagt er jedes Mal. „Ich schicke Ihnen einen Pfleger“, antworte ich wie immer. Am Fenster blättert eine Frau mit einer spastischen Lähmung mit spitzen Fingern in einer Zeitschrift. Ich sehe sie gelegentlich vor der Tür beim Rauchen.

Ganz hinten sitzt an einem der Tische eine andere Frau, klein und schmächtig. Sie schaut in den Raum, ohne ihn wahrzunehmen, als denke sie über etwas nach. Ich betrachte sie aus dem Augenwinkel und frage mich, was der heutige Tag ihr bedeutet. Ob sie traurig ist oder nur wartet. Ob Eindrücke in ihr Bewusstsein dringen oder abfließen wie Seewellen, die gegen eine Klippe schlagen.

Ich bin schon fast an ihr vorbei und wende mich noch einmal um, da sehe ich erst: Es ist meine Mutter. Sonst liegt sie bei meinen Besuchen im Bett zur Mittagsruhe, aber heute bin ich später dran. Man hat sie in den Rollstuhl gesetzt, unter die Leute gebracht, und ich hätte sie fast nicht erkannt. Bestürzt setze ich mich zu ihr, lege kurz den Arm um ihre mager gewordenen Schultern. Sie lächelt, und das kommt mir wieder bekannt vor.

 

Die Wahrheit hängt an der Wand

Immer wenn ich vom Pflegeheim nach Hause komme, betrachte ich ein Foto meiner Mutter, als sie noch ein Mensch war. Das Bild lag zwischen ihren Unterlagen, die ich durchzusehen hatte, zusammen mit einem Geburtstagsgedicht von einer Freundin. Sie haben zusammen gefeiert damals, 2006 war das. Ich hielt die beiden Fundstücke eine Weile in den Fingern und tat dann etwas, was ich mit einem Bild meiner Mutter noch nie getan habe: Ich rahmte es ein und hängte es auf. Jetzt lacht sie knapp an der Kamera vorbei ins Zimmer hinein, das Gesicht noch füllig, ihr Haar schwarz und voll. Am rechten unteren Bildrand sieht man gerade noch ihre schönen Hände. Ich will sehen, dass das meine Mutter ist. Irgendwo unter der veränderten Hülle gibt es sie noch: die attraktive, lebendige Frau mit Freundinnen und Hobbys. In ihren Augen sehe ich es manchmal noch nachleuchten.

Absatzmarke

Der kleine Kellerraum schnappt nach Luft. Von einigem werde ich mich trennen müssen, später. Für den Moment ist das Schlimmste durchgestanden: leere Schachteln lehnen flach gefaltet an der Garagenwand, Kleider und Sachen sind in die Schränke eingeräumt, aufgewirbelte Partikel setzen sich als weißer Staub. Ein paar Bilder stehen auf dem Boden im Gang, eins davon hat meine Tochter gemalt, als sie klein war.  Keins meiner Kinder wird hier wohnen, fällt mir ein.

Umzüge sind Absätze im Leben. Auch wer nur wenige Kilometer weiterzieht, lässt Gelebtes zurück. Eine geisterhaft weiße Seite wird aufgeschlagen und wir versuchen, eine schöne Überschrift zu finden. Es liegt an uns.