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Das neue Jahr

Das letzte Kalenderblatt ist abgerissen, wir stehen parat für einen neuen Anlauf im Zeitenkreislauf. Noch ein kurzer Blick zurück und wir sehen Menschen, die kamen und gingen, Dinge, die anders geworden sind. Das Leben bleibt nicht stehen.

Wer sich aber vergangene Zeiten zurückwünscht, in denen man sich angeblich noch auskannte – und das tun derzeit viele – dem möchte ich die Abbildung unten nahelegen. Nur so als Beispiel. Dann frage ich die Konservativen und Bewahrer aller Länder, ob sie vielleicht auch wie ich einen USB-Stick mit 30 GB am Schlüsselring herumtragen. Oder ein Smartphone voller Musik und Bilder.

Ich könnte auch an den medizinischen Kenntnisstand vergangener Tage erinnern (zum Beispiel Krebsforschung) , oder an die politische Lage (zum Beispiel Kalter Krieg), aber davon gibt es keine lustigen Bilder.

Ich wünsche euch allen also ein gesundes, glückliches neues Jahr und einen offenen Geist für die Veränderungen, die es bringen wird. Lasst uns das Gute darin erkennen, die Möglichkeiten nutzen und Herausforderungen anpacken. „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen“ sagte schon Aristoteles.

1956: Eine Festplatte mit 5 MB wird in ein Flugzeug verladen. Sie bietet genug Speicherplatz für beispielsweise ein Weihnachtsbild mit Tante Hilde und Onkel Ernst.

Ich bedanke mich von Herzen bei allen meinen Lesern hier. Es sind viele dazugekommen im vergangenen Jahr – ohne euer Interesse und Mitmachen wäre hier tote Hose. Das Schreiben für euch, der Austausch und eure eigenen Blogbeiträge machen mir so viel Freude.

Danke, danke, danke!

 

Digitales Leben

Vorhin stellte ich eine Flasche Mineralwasser so vor dem Monitor ab, dass sie ein wenig ins Bild ragte. Als ich dann an meiner Übersetzung weiterarbeitete, versuchte ich intuitiv, die Flasche mit der Maus zu verschieben. Einen ähnlichen Impuls hatte ich schon einmal, als ich am Grab meiner Mutter stand und wissen wollte, von wem die neu hinzugekommenen Blumen sind. Da suchten meine Finger die Maus. Den Rechtsklick. Den Link.

Muss ich mir Sorgen machen? Quatsch. Mit neuen Entwicklungen kommen eben neue Wahrnehmungen: Wir sehen andere Dinge, hören andere Geräusche, und neuerdings verwachsen unsere Finger mit der Computermaus. Geschadet hat uns der Fortschritt nicht, im Gegenteil. Wenn der Mensch immer zufrieden gewesen wäre mit dem, was er hat, dann würden wir heute noch rohes Fleisch und Beeren essen. Es dauert nur immer eine Weile, bis wir an Neues gewöhnt sind, und bis dahin sind viele misstrauisch. Aber wenn man eines Tages den Müll durch einen Delete-Button entsorgen, Fenster über ein Grafikprogramm und die Toilette mit einer App putzen kann – dann gefällt es uns wahrscheinlich doch. Ich bin also nicht computergeschädigt, sondern meiner Zeit voraus!

Veränderungen

Heute Nacht habe ich auf dem Sofa geschlafen. Gestern Nacht auch. Dieser Umstand liegt in direktem Zusammenhang mit der Tatsache, dass ich kein Bett mehr habe. In meinem Bett liegt jetzt ein sechzehnjähriger Junge, „90 kg schwer!“ laut Aussage der Mutter, die fröhlich plaudernd mit dem Kindsvater zusammen mein Bett abtransportierte. Ich liebe Ebay Kleinanzeigen! Vorausgesetzt, man will nicht reich werden damit, wird man alles los und ich bin froh für jedes Stück, das ich nicht mitnehmen muss. Mein Bett ist also verkauft. Unter anderem.

Ich könnte freilich in der neuen Wohnung schlafen, dort ist alles bereit – auch ein Bett. Und ein Mann, der es vorwärmt, der geliebte Brite, mit dem ich künftig mein Leben und die Wohnungskosten teile. Aber noch bin ich hier, in meiner eigenen, halb leeren Wohnung, zwischen Schachteln und Zeug. Ich will das Chaos um mich haben, ich will das Ende der heimischen Wohnkultur einläuten, ich will den Niedergang. Damit ich es glaube.

Ein bisschen ist es wie nach dem Tod meiner Mutter, als sie in der Aussegnungshalle lag. Ich ging jeden Tag zu ihr, damit sie nicht so allein ist – und damit ich es glaube. Ich brauchte diese Zeit, um mich damit auseinanderzusetzen, man stirbt nicht von einem auf den andern Tag. Und man zieht nicht in ein paar Stunden um. Deshalb muss ich in meiner Wohnung bleiben und noch ein paarmal auf dem Sofa schlafen.

Sofa (2)

Zeiträume

In meiner Wahrnehmung erscheinen wieder Wegmarken für Ereignisse, die in der Zukunft liegen. Das ist bei mir immer so, wenn Veränderungen bevorstehen. Ein blauer Zehennagel zum Beispiel visualisierte schon aufgrund seiner langen Vorhaltezeit häufiger Eckpunkte wie: „Wenn der herausgewachsen ist, geht es meinem Kind besser“ oder sowas.

Im Moment sind es die verlassenen Hörsäle. In den Semesterferien ist es geisterhaft leer bei uns in der Hochschule. Die wenigen Mitarbeiter verlieren sich in den Fluren und verschwinden in entlegenen Räumen wie ein paar Regentropfen in Asphaltritzen. Aber wenn im Oktober die Studierenden und Dozenten das Gebäude wieder bevölkern – dann sind wir nicht mehr da.

Oder: Wenn ich aus dem Fenster blicke, liegt das fertiggestellte neue Studentenwohnheim in der milchigen Vormittagssonne. Am Gebäude entlang zieht sich ein Erdstreifen mit einem zartgrünen Schleier darauf, wie aufgehaucht. Grashälmchen. Den ganzen Sommer über beobachteten wir die Baustelle und das Vorankommen der Arbeiten, aber wenn der Rasenteppich dichtgewachsen ist – dann sind wir nicht mehr da.

Es gibt keine Verlängerung mehr für unser staatlich gefördertes Zentrum, das kleine Betriebe im digitalen Bereich unterstützt. Eine neue Stelle habe ich noch nicht gefunden. Vielleicht kommt einer unserer Anträge auf andere Fördermittel zum Zug, sodass wir später wieder einsteigen können, aber ich mache mir nichts vor: wahrscheinlich ist es nicht.

Diese Woche wurden wir zu einer zweitägigen Veranstaltung nach Berlin eingeladen, um den Projektabschluss zu feiern. In den pompösen Hallen des BMWi wurden unsere Erfolge gepriesen und der Weg dorthin noch einmal beleuchtet. Meine Gedanken sind aber in der Zukunft. Tatsächlich habe ich seit unserer Wanderung am Nordmeer Northumbrias auch wieder einen blauen Fußnagel. Etwa im Februar oder noch später werde ich das letzte Restchen davon abknipsen und vieles wird anders sein – aber was?

   

Holy Island, Northumberland

Immer wieder anders

Auf dem Friedhof ist es nie langweilig. Meine Mutter hat nämlich Glück: Sie liegt am Rand eines Gräberfelds und neben ihr wartet eine Wiese auf neue Bewohner. Heute kam wieder jemand dazu. Ich weiß nicht, wer es ist, es liegen nur hingestreute Blumen im Gras. Urnengräber sind weniger konventionell als Sarggräber – manche haben eine Einfassung, andere nicht, manche haben Blumenschalen, andere Rasen, manche haben Marmorplatten, andere Herzchen – aber nur ein paar Blumen? Das seh ich zum ersten Mal. Kein Kreuz, kein Name, kein Nix.

Nicht weit davon wurde auf einem Grab die Bepflanzung entfernt und ein Hebekran steht jetzt breitbeinig darüber. In seiner Mitte baumelt eine Steinplatte, die sich ihren Einsatz wohl anders vorgestellt hat. Aber Geduld. Die Arbeiter sind nur in die Mittagspause gegangen.

Hier bleibt nichts, wie es ist, und das mag ich. Es riecht auch nicht nach Wundverbänden und überheizten Zimmern, sondern nach Bäumen und Gras, und Blüten leuchten in den schönsten Farben. An heißen Tagen sind abends so viele Menschen mit Gießkannen unterwegs, dass man eine ausufernde Grillparty mit ihnen feiern und ein bisschen über das reden könnte, was man erlebt hat. Wenn aber wenig Leute da sind, weiß man, dass es bald zum Regnen kommt. Ganz allein war ich hier noch nie. Und meine Mutter ist ja auch da.

Rudolf Bartels FriedhofsbildRudolf Bartels, „Friedhofsbild“
zu sehen im Schloss Achberg – „Aufbruch ins Freie“

 

Zeitzonen

Sonntagmorgen, ich stehe unter der Dusche, heißes Wasser läuft an mir herunter und ich mache mir Gedanken über die Zukunft. Das liegt nicht an der Dusche, sondern an meinen Zehennägeln.

Ich angle nach dem Handtuch und beginne mich trocken zu frottieren, die Füße sind als Letztes dran. Ich rubble über die großen Zehen, die seit der letzten Bergwanderung bräunlich-violett schimmern. Bei strengem Abwärtsmarschieren bilden sich bei mir immer Blutergüsse unter den Zehennägeln und es dauert jedes Mal Monate, bis sie herausgewachsen sind.

Ich versuche mir dann auszumalen, wie mein Leben sein mag, wenn ich das letzte verfärbte Stückchen abknipse. Im April oder Mai werden meine Zehen wieder rosig aussehen. Mein Leben auch? Oder wünsche ich mir etwas anders? Unglück an sich ist ja nichts Schlimmes. Ohne Unglück keine Veränderung, ohne Veränderung kein Wachsen.

Aber die Zeit vergeht ja so schnell. Plötzlich ist es nicht mehr Januar, sondern Juni, dann auf einmal September und aus dem Blauen heraus Weihnachten. Ohne dass etwas passiert ist? Wenn man etwas haben will, was man bisher nicht hat, muss man etwas tun, was man bisher nicht getan hat. Und zwar bevor der Zehennagel herausgewachsen ist.