Schlagwort-Archive: Vergänglichkeit

Zimmerreisen 02/2021: E wie Eieruhr

Diese Eieruhr brauche ich nicht zum Eierkochen, sondern beim Zähneputzen. Streng genommen ist es also eine Zähneuhr, und sie ist das Ziel dieser Zimmerreise.

Ich suchte einige Zeit nach einer günstigen kleinen Sanduhr zur ausreichenden Zahnhygiene. Man findet diese Uhren aber kaum noch in den Geschäften, elektronische Geräte mit Alarmton sind wohl komfortabler. Aber es muss noch etwas geben, was ich nicht mit dem Handy erledige, deshalb wollte ich beim Zähneputzen eine Sanduhr. Man steht sowieso davor und kann das Ende nicht verpassen.

Dass ich dieses Helferlein doch noch fand, verdanke ich der Tochter. Wir waren im örtlichen Drogeriemarkt unterwegs und sie entdeckte es nicht bei den Haushaltswaren, sondern im Zahnpflege-Regal. Es gab nur Designs für Kinder, deshalb ist diese Eieruhr in Pink und hat oben eine Prinzessin. Die Tochter nahm eine blaue mit Ritter.

So banal die Rolle einer Sanduhr beim Eierkochen oder Zähneputzen ist, so bedeutungsschwer war sie in der Vergangenheit. Jahrhundertelang galt die Sanduhr, auch Stundenglas genannt, als Symbol für Vergänglichkeit.
Die nach unten rieselnden Körnchen machen Zeitfluss, Übergang, Unabänderbarkeit und Tod sichtbar. Wenn das Häufchen unten liegt, ist eine Zeit abgelaufen.

In der Sanduhr unseres Lebens steht für ein Sandkorn bei jedem Menschen ein anderer Wert: ein Monat, eine Woche, ein Tag? Wir wissen es nicht, nur dass sie fallen, und dass wir während dieses Fallens jeden Moment nutzen und das Beste daraus machen sollten.

Damit wir nicht zu melancholisch werden, rasch ein Abstecher zu Professor Horace Slughorns Stundenglas. Er ist Lehrer in Hogwarts (wir sind also bei Harry PotProfessor Slughorns Stundenglaster) und seine Sanduhr ist etwas speziell: der Sand fällt nämlich unterschiedlich schnell.
Maßgebend ist immer ein Gespräch, das gerade stattfindet. Ist es anregend und bereichernd, fließt der Sand langsam. Ist es dagegen inhaltslos und einschläfernd, fließt der Sand schnell. Der Professor ist nämlich ein Genießer und er will seine Zeit nicht mit Nutzlosem verbringen.
Wenn es so etwas gäbe! Da könnte der Partygast am Stehtisch Kollege beim Zoom-Meeting ins Schwitzen kommen, wenn das Häufchen zu schnell wächst, und man stelle es sich erst bei einem Bewerbungsgespräch vor.

Eine Sanduhr kann übrigens auch vor- oder nachgehen. In der Kälte rieselt der Sand nämlich schneller durch, und wenn es sehr warm ist, fließt er langsamer. Wen der physikalische Hintergrund interessiert – hier ist er erklärt.

Erfunden wurde die Sanduhr im 14. Jahrhundert und man brauchte sie vor allem in der Seefahrt. Der Durchlauf eines Glases dauerte 30 Minuten und mit dem Verrinnen des zweiten Glaskolbens nach der Drehung wusste man, wann eine Stunde vorbei war. Daher auch die Bezeichnung Stundenglas.

Meine Eieruhr zeigt fast auf die Sekunde genau drei Minuten an. Da ich sie weder mit dem Haarfön erwärme noch in den Kühlschrank stelle und in meinem Badezimmer weder anregende noch ermüdende Gespräche stattfinden, wird es wohl immer bei den drei Minuten bleiben.
Drei Minuten Zähneputzen = drei Minuten Lebenszeit.
Das macht auch dieser kleine Plastikartikel mit einer Prinzessin obendrauf klar.

 

(478 Wörter)

Der Abfalltüten-Blues

Wenn wir einen Menschen verloren haben, bewahren wir meist eine Zeitlang Andenken auf: Ein Bild, eine Kerze, vielleicht ein Schmuckstück. Es gibt aber auch Erinnerungsstücke, die nicht ausgesucht werden – sie sind einfach da, übrig geblieben. Ein Sessel vielleicht, oder eine Blumenvase.

Ein solches Andenken lässt mich noch heute jedes Wochenende an meine Mutter denken. Sie starb vor drei Jahren, es war ein Haushalt aufzulösen und so landeten damals unter anderem mehrere Rollen Abfalltüten bei mir. Sie sind inzwischen aufgebraucht bis auf die kleinen 5-Liter-Beutel für Kosmetikeimer.

Manches wird ja vom Alltag gefressen und man denkt nicht mehr darüber nach. Aber von diesen kleinen Rollen mit Beuteln aus 100% Biofolie habe ich noch keinen einzigen einfach so abgerissen. Jedes Wochenende beim Wohnungsputz denke ich: Das gehörte noch meiner Mutter.

Heute brach ich die letzte Rolle auf. 40 Stück. 40 Wochen.
Dann ist nichts Greifbares mehr da.

Aber darauf kommt es ja auch nicht an.

Habt ihr auch solche Erinnerungsstücke?

Das neue Jahr

Das letzte Kalenderblatt ist abgerissen, wir stehen parat für einen neuen Anlauf im Zeitenkreislauf. Noch ein kurzer Blick zurück und wir sehen Menschen, die kamen und gingen, Dinge, die anders geworden sind. Das Leben bleibt nicht stehen.

Wer sich aber vergangene Zeiten zurückwünscht, in denen man sich angeblich noch auskannte – und das tun derzeit viele – dem möchte ich die Abbildung unten nahelegen. Nur so als Beispiel. Dann frage ich die Konservativen und Bewahrer aller Länder, ob sie vielleicht auch wie ich einen USB-Stick mit 30 GB am Schlüsselring herumtragen. Oder ein Smartphone voller Musik und Bilder.

Ich könnte auch an den medizinischen Kenntnisstand vergangener Tage erinnern (zum Beispiel Krebsforschung) , oder an die politische Lage (zum Beispiel Kalter Krieg), aber davon gibt es keine lustigen Bilder.

Ich wünsche euch allen also ein gesundes, glückliches neues Jahr und einen offenen Geist für die Veränderungen, die es bringen wird. Lasst uns das Gute darin erkennen, die Möglichkeiten nutzen und Herausforderungen anpacken. „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen“ sagte schon Aristoteles.

1956: Eine Festplatte mit 5 MB wird in ein Flugzeug verladen. Sie bietet genug Speicherplatz für beispielsweise ein Weihnachtsbild mit Tante Hilde und Onkel Ernst.

Ich bedanke mich von Herzen bei allen meinen Lesern hier. Es sind viele dazugekommen im vergangenen Jahr – ohne euer Interesse und Mitmachen wäre hier tote Hose. Das Schreiben für euch, der Austausch und eure eigenen Blogbeiträge machen mir so viel Freude.

Danke, danke, danke!

 

Augen zu und durch

Ich habe diese Woche mit einer Laserschneidmaschine verbracht. Man könnte mich an so ein Gerät stellen und ich wüsste theoretisch, wie man Formen aus Stahlblechen ausschneidet. Ich habe eine Bedienungsanleitung vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Es gibt zum Beispiel unterschiedlich große Laserköpfe, und wenn man die auswechselt, muss die Programmierung neu eingestellt werden. Wollt ihr es wissen, wie das geht? Sind Laserschneidmaschinenbediener unter euch? Was ich sagen will: Neben meiner Arbeit in einem Büro habe ich diese Woche kaum etwas anderes getan als das. Jeden Nachmittag, jeden Abend. Ich bin müde.

Man tut so vieles, weil man glaubt, es tun zu müssen. Wir tun es, ohne zu wollen und dumme Gedanken werden verjagt. Das ist gut so, denn dann hält man es aus. Mit etwas Übung spürt man sich immer weniger. Ich hätte diese Übersetzung nicht anzunehmen brauchen. Ich wusste, das Volumen ist enorm und der Text sperrig. Ich hätte ablehnen und auf andere Aufträge hoffen können, kleinere. Aber jemand sagte, ich solle es tun. Es wurde von mir erwartet, und der Hintergedanke ist immer: wenn ich fertig bin, geht es mir wieder gut. So ist es mit allem: Wenn ich dies und jenes überstanden habe, ist das Leben wieder schön. Oder vorbei.

Ich erlebe gerade die letzte Lebensphase meiner Mutter. Irgendwann legt man auch mich in ein Pflegebett und ich muss versorgt werden. Irgendwann geht es aus mit mir. Worauf blicke ich dann zurück? Auf Laserschneidmaschinen?

Ich beginne zu erfassen, was Endlichkeit bedeutet und dass sie eine Chance sein könnte, das Leben wahrzunehmen. In unsere Gesellschaft dient der Tod aber nur als Medienspektakel für auflagensteigernde Berichte aus fernen Krisengebieten. Gelegentlich lesen wir Traueranzeigen, und wenn wir jemanden kennen, murmeln wir Ohje und blättern weiter. Wir kennen uns nicht aus damit.

Ich frage mich, ob Menschen früher, als der Tod noch zu jedem nach Hause kam, anders lebten. Ob sie leuchtende Augenblicke erkannten und mitnahmen als kleinen Erinnerungsschatz, den sie später hervorholen konnten, anstatt zu erstarren und keinen Blick zu haben für die Geschenke, die das Leben bereithält.

 

Sylvia (14)Abb.: (c) Sylvia W.