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Das zweite Leben

Durch alle Himmel, Universen und Atmosphären und schließlich durch eine Windschutzscheibe stürzte heute vor einem Jahr ein mächtiger Engel. Mit Panzerflügeln stieß er die Gewalt des Aufpralls zurück, während ein schwarzer Audi in das Fahrzeug schoss, in dem mein Kind saß. Im selben Bruchteil dieser Sekunde preschte ein zweiter Kämpfer des Himmels vor. Er stemmte sich auf dem Fahrersitz über den Jungen, der dort wie eingefroren das Lenkrad festkrallte. Durch die kolossale Stärke dieser Beschützer blieben mein Sohn und sein Freund am Leben.

In einem Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Geräten und Monitoren fanden wir ihn. Tief in sich hinab gesunken lag er da und nichts zeigte Leben, nur seine Brust hob und senkte sich im Takt der Beatmungsmaschine. Ich strich über sein Gesicht und die Krämpfe in meinem Herzen wurden noch schmerzhafter. Seine Haut war so kühl.

Nie werde ich mir verzeihen, am Nachmittag dieses Pfingstsonntags den Anruf meines jüngsten Sohnes nicht angenommen zu haben. Ich erkannte seinen Namen im Display, doch wir waren bei Freunden und ich wollte mich nicht absondern mit dem Telefon am Ohr. „Es wird nichts Wichtiges sein“, dachte ich. Kurz darauf rief meine Tochter an. Genervt antwortete ich nun und erfuhr, dass die Polizei da sei, mit einem der andern Söhne ist etwas passiert, Genaueres sagen sie nicht, nur den Eltern. Die nicht da waren. Zehn Minuten lang ließ ich mein jüngstes Kind in höchster Not allein, so wie ich meinen anderen Sohn allein gelassen hatte, der verunglückte, und wenn es auch nichts geändert hätte: ich war nun einmal nicht da, als meine Kinder mich am meisten brauchten. Nie wieder werde ich sie vertrauensvoll verabschieden können, wenn sie auf Reisen gehen, und nie wieder habe ich seither ein Telefon klingeln lassen, wenn sich von der Familie jemand meldet. Noch heute erschrecke ich manchmal, wenn eins der Kinder anruft und dann nehme ich hektisch ab, um zu wissen, ob alles in Ordnung ist.

Mein Leben ist wackelig geworden seither. Mir ist, als befinde ich mich auf einem dieser Riesenteller, wie sie auf manchen Spielplätzen stehn. Wenn man sich draufsetzt, gibt die Scheibe nach und es ist eine Kunst, sie zu erklettern und die Balance zu halten.

Täuschungen

Sein kleiner Körper presst sich mit dem Rücken an die Wand, der mächtige Vater erhebt seinen Arm. Seit langer, langer Zeit hat er geschimpft und geflucht, er wollte nicht aufhören damit. Ganz klein macht sich der Bub. Er fürchtet die Schläge, doch es geschieht etwas anderes.

Verschreckt schlägt er die Augen nieder, sein Blick wandert nach unten und was er entdeckt, macht ihn schwindelig. Plötzlich trägt er nämlich kein kariertes Hemd mehr und kurze Hosen, sondern einen dunkelgrauen Anzug mit weinroter Krawatte. Er zupft an ihr, als habe er noch nie eine gesehn, jedenfalls nicht an sich, da entdeckt er Haare auf seinem Handrücken. Er sucht nach einer Erklärung, auch für den Ehering, der auf einmal an seinem Finger steckt. Als ob dicker Nebel sich langsam verzieht, erkennt er nun Schemen und ihm dämmert, was schließlich klar wird: Er ist gar kein Junge mehr. Vor ein paar Wochen wurde er fünfundvierzig Jahre alt, einszweiundachtzig ist er groß und fünfundneunzig Kilo schwer. Jetzt guckt er hoch.  Sein Vater steht immer noch da, klein geworden und stumm.

Der Junge, der kein Junge mehr ist, schaut sich um. Wo blieb das Ungeheuer, das ihn Zeit seines Lebens verfolgte und ängstigte? Er sieht keins. Er sieht einen zerfurchten kleinen Mann, dem er nichts zu sagen hat, und er geht. Unsicher schaut der Vater ihm hinterher.

Durcheinandergeraten

Herr Bauer richtet sich auf, ein Sperling singt vor dem Fenster. Wie schön, dass es Frühling wird, denkt er und wärmt sich in der hereinfallenden Sonne. Jetzt wird es heller, alles erwacht, das Leben ist … Nein. Das will er nicht denken.

Es war viel Arbeit gewesen. Herr Bauer hatte telefoniert, sortiert und Listen geschrieben, so dass jeder wusste, was er zu tun hatte und wann. Der Auftrag war groß, und sie hatten nur wenige Tage gehabt, alles heranzuschaffen und zusammenzubauen.

Eine Fliege krabbelt über den Schreibtisch und betastet nun einen Stift. Herr Bauer schaut ihr nach und sieht sie doch nicht. Gerade kommt er aus dem Büro des Drachens, oft genug hat er es als zertretenes Häufchen verlassen müssen. Erst allmählich versteht er, dass die Anfeindungen des Direktors nichts mit ihm zu tun haben, auf jeden hier wird eingedroschen. Das vorhin allerdings kam unvorbereitet.

„Ist mit Martens alles im Plan, Herr Bauer?“
„Ja, heute wird ausgeliefert.“
Der Drache blätterte durch ein paar Unterlagen und fuhr – ohne ihn anzusehen – fort:
„Wer hat das abgewickelt? Sie?“
„Ich habe dafür gesorgt, dass jeder seine Aufgaben kannte und erledigte.“
„Mhm.“
Der Drache schob seine Papiere zusammen und blickte auf.
„Das war eine große Sache, nicht wahr?“
„Ja, aber wir liefern rechtzeitig und vollständig.“
„Schön, dass es geklappt hat, Herr Bauer. Haben Sie gut hingekriegt.“

Herr Bauer ärgert sich, weil ihm auf einmal leicht ist. Weil das Vogelgezwitscher noch schöner klingt als heute Morgen, weil die Sonne nur ihn anzustrahlen scheint. Das alles will er nicht. Nicht wegen eines hingeworfenen Zuckerchens, so wenig ernst zu nehmen wie die gewohnten Peitschenschläge. Herr Bauer scheucht die Fliege fort. Er will nicht hoffen, dass alles anders wird, doch er kann nicht verhindern, dass es sich leichter amtet.

Eigenarten des Seins

Kann der Mensch an verschiedenen Orten seines Wirkens ein anderer sein? Herr Bauer wird den Gedanken nicht los. Bei der Arbeit duckt er sich vor den Hieben des Chefs. Zu Hause empfängt ihn Liebe, sie macht ihn stark.  Da er sich die Umgebungen seines Lebens kaum aussuchen kann – wer ist er denn nun? Der geprügelte Stillschweiger? Oder der Sichere, der seinen Lieben am Abend in die Augen schaut und Freude darin findet? Vielleicht ist er gar noch ein anderer. Der Anheizer zum Beispiel, der mit Macht überzeugen kann von sich und seinen Ideen, der energiegeladen von einer Aufgabe zur nächsten eilt, wenn er nur die passende Kulisse findet, die das möglich macht. Herr Bauer überlegt: Wer bin ich eigentlich?

Galerienacht

In der Stadt waren gestern Abend alle Galerien geöffnet. Viele Menschen waren unterwegs und auch wir haben uns umgesehen. Neben interessanten und rätselhaften Bildern, Skulpturen aus Holz und Metall sowie Collagen in Gold ist mir vor allem ein Video im Kopf geblieben. Man sah eine Schafherde, die durch eine Stadt geführt wurde (es ging um Tradition und Moderne). Die Tiere folgten ihrem Schäfer auf stark befahrenen Straßen und durch schmucklose Wohnsiedlungen, könnte in Ostdeutschland gewesen sein. Dann sah man drei der Schafe plötzlich in einer Kunstausstellung. Sie standen vor Bildern und Skulpturen und schienen derart verblüfft, dass es mich berührte. Ich meine, diese Art von Staunen schon häufig gesehen zu haben, kann mich aber nicht erinnern wo genau. Die drei blieben immer beieinander. Zwischendurch suchten sie auf dem Boden nach Gras, schauten jedoch gleich wieder hoch auf die Wände, liefen ein paar Schritte weiter, sahen wieder auf die Wände oder in die Kamera und man sah deutlich, was in ihnen vorging: „Was ist das hier?“ Ich konnte mich nicht lösen davon und blieb stehen, bis der Film von vorne begann. Die Gesichter der Schafe sehe ich noch immer vor mir. Vielleicht, weil ich in meinem eigenen Leben an einer Stelle angekommen bin, an der ich genauso wenig weiß, was ich damit anfangen soll.